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Rosi und das Haus Brühl 18/ Kapitel 8/Rosi fährt mit Onkel Richard nach Ziegelroda

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©  rosmarin   
   
8. Kapitel

Rosi fährt mit Onkel Richard nach Ziegelroda

„So.“ Richard richtete sich auf. „Das Vehikel ist bereit. Ich habe kräftig Luft aufgepumpt. Flickzeug habe ich auch gefunden. Man weiß ja nie.“
Richard schob das klapprige Fahrrad vom Hof über den Flur durch die blaue Tür. Nanny hielt die Tür auf.
Jutta, Karlchen und Rosi trotteten hinter ihm her auf die Straße vor Brühl 18.
Der Abschied fiel ihnen schwer.
Vor dem Haus Brühl 17 stand Herr Schmids in seiner SS -Uniform.
„Heil Hitler!“, grüßte er mit ausgestrecktem Arm. „Wohin soll‘s denn gehen? So am frühen Morgen?“ Schadenfroh sah er Rosi an. „Hast wohl was auf den Podex bekommen, weil du wieder frech warst?“
„Onkel Richard ist böse“, petzte Jutta. „Er hat Rosi mit seinem Gürtel verhauen.“
„Dann wird sie es ja wohl auch verdient haben.“ Herr Schmids lachte hämisch. „Und wohin geht's jetzt?“
„Das geht Sie einen feuchten Kehricht an. Heil Hitler.“ Richard hob lässig seinen rechten Arm, machte den Rücken krumm, zog seinen Kopf zwischen die runden Schultern. „Sie wissen doch sowieso immer alles.“
Frau Schmids steckte ihren Kopftuchkopf durch das niedrige Fenster.
„Bestimmt zu den Großeltern“, mischte sie sich in das Gespräch. „Nach Ziegelrodda. Wohin denn sonst. Stimmt's, Rosi?“
Rosi nickte. Die mit ihrem blöden Kopftuch. Else würde sowas nie umbinden. Auch keine Kittelschürze. Else zog immer schöne Kleider an. Das weiße mit den rosa und roten Rosen und den grünen Blättern liebte sie besonders. Ob sie es mit ins Krankenhaus genommen hat?
In Rosis Augen traten die Tränen. Else fehlte ihr. Auch die kleine Bertraud Johanna. Ob sie sie je wiedersehen würde? Der Frosch im Hals wurde immer klumpiger.
„Frau Schmids weiß immer alles“, sagte sie schnell zu Nanny. „Auch das, was sie nicht weiß.“
Richard meckerte sein lautes Lachen und sagte: „Los geht's.“ Er hob Rosi auf den Gepäckträger. „Und keine Mätzchen.“
„Autsch! Mein Pops.“
„Der Pops tut ihr weh, weil du sie versohlt hast.“ Vorwurfsvoll sah Jutta Richard an. „Und jetzt kann sie nicht sitzen.“
„Muss sie hierbleiben. Komm.“ Karlchen versuchte, Rosi vom Gepäckträger zu ziehen.
„Lass das, Karlchen“, sagte Nanny. „Ich hole ein schönes, dickes, weiches Kissen. Dann geht es schon.“
Nanny verschwand im Haus und kam gleich darauf mit dem Kissen zurück.
„Das hat Else gehäkelt. Es ist ihr Lieblingskissen.“ Rosi fasste mit beiden Händen nach ihrem Po. „Sie wird es vermissen.“
Nanny versuchte, das Kissen unter Rosis Po zu schieben. „Um so besser“, sagte sie. „Da hast du ein schönes Andenken. Das wird dich immer an uns erinnern. So. Wird's bald. Hoch mit dem kleinen Popöchen. Bald tut er nicht mehr weh.“
„Schluss mit den langen Reden.“ Richard schob das Rad einige Schritte über das holprige Pflaster. „Wir wollen nicht in die Mittagshitze kommen. Es ist jetzt schon heiß genug. Am Abend bin ich wieder zurück.“
Richard stieg auf das alte Fahrrad, ruckelte die paar Meter bis zur Alten Allee. Hier war die Straße glatt. Sie fuhren den Berg hinauf und bogen dann links ab in die Rastenberger Straße.
Das über und über mit rotem Weinlaub bewachsene, gut erhaltene Stadttor und den Stadtmauerresten leuchtete ihnen schon von weitem entgegen.
Kurz vor dem Bahnübergang gingen die Schranken runter, fielen mit einem Ruck auf die dafür vorgesehenen Pfähle aus rohem Holz.
Richard stellte ein Bein auf die Erde. „So“, sagte er, „da wird wohl gleich ein Güterwagen mit Kohlen vorbeirumpeln.“ Sein Auge starrte in den sonnigen Himmel. „Vielleicht auch mit Schlachtvieh. Oder Menschen“, murmelte er vor sich hin.
„Menschen?“ Rosi rollte mit den Augen. „Die sitzen doch im Personenwagen.“
„Nicht immer.“ Richards Gesicht überzog wieder die düstere Wolke. „Nicht immer.“ Nachdenklich sah er Rosi an. „Endlich.“
Die Lok dampfte heran. Keuchte, sprühte Funken. Der Lockführer winkte grüßend aus seinem Fenster. Die Güterwagen holperten hinterher.
Rosi winkte zurück. Die Wagen waren beladen mit Kohlen. Nicht mit Schlachtvieh. Oder Menschen. Was Richard sich nur immer ausdachte.
Schnell fuhr Richard über die Schienen Richtung Hardisleben.
Lieber als mit dem Fahrrad wäre Rosi mit der Zwecke gefahren. Bis Rastenberg und dann den kuscheligen Waldweg bis ins Schwimmbad gelaufen. Auch wenn das Wasser viel kälter war als im Buttstädter Schwimmbad am Neuen Teich, das nicht aus den Quellen kam und das man natürlich nicht trinken durfte. Der Rastenberger Wald war auch kalt. Sogar im Sommer. Kalt, aber wunderschön.
Früher fuhr die Kleinbahn sogar bis nach Weimar und über Mannstedt. Das hatte sich allerdings nur solange gelohnt, wie Kalisalze von den Kalischächten bei Rastenberg, Lossa und Billroda transportiert wurden.
Jetzt beförderte die Zwecke nur noch Menschen von Buttstädt über Hardisleben bis Rastenberg und wieder zurück.
Rosi seufzte. So eine Fahrt war immer ein Erlebnis. Manchmal schlich die Bahn mit ihren zwei Wagen so langsam dahin, dass man aussteigen und Blumen von den Wiesen pflücken konnte. Mohnblumen und Margariten. Oder Butterblumen.
Kurz vor der Senkung, die durch einen kleinen Tunnel führte, musste man allerdings wieder eingestiegen sein. Wenn nicht, rief der Lockführer aus seinem Fenster:
„Nun aber schnell! Wenn Ihr noch mitfahren wollt!“

Bald hatten sie Hardisleben erreicht. Richard radelte an dem Kleinbahnhof vorüber, Richtung Rastenberg.
Ein frisches Lüftchen wedelte ihnen um die Ohren. Lerchen flogen in den Himmel, trällerten ihren Aufflug, hinweg über die reifen Weizen - Roggen - und Gerstenfelder, die weiten Wiesen, Kartoffel - und Rübenfelder. Beim Herniederfliegen klang ihre Melodie anders, trauriger. Deshalb versteckten sie sich in den Wiesen und Feldern.
Das Getreide musste geerntet werden. Ab und zu war ein Mähdrescher am Feldrand zu sehen, oder in einer breiten Furche. Aber kaum ein Mensch.
Wo waren die nur alle hin? Um ein Haar wäre auch Richard nicht mehr dagewesen, wenn damals die Rettungskräfte nicht so schnell zur Stelle gewesen wären.
Mariandel, andel…, fiel Rosi plötzlich Nannys Lieblingslied ein.
„Du kennst ja den Text schon auswendig“, wunderte sich Richard.
„Ich merke mir schnell Lieder und Gedichte.“
„Schön, dann kannst du mich ja ein wenig unterhalten“, schlug Richard vor. „Gleich sind wir in Rastenberg.“
„Und dann geht's den Berg rauf nach Lossa.“ Rosi kannte den Weg genau. Oft genug war sie mit Else diesen Weg nach Ziegelroda gefahren. Die Straße war sehr schlecht. Besonders, wenn es wieder bergab ging, musste man aufpassen, in kein Schlagloch zu geraten und im Straßengraben zu landen.
Richard lachte blechern. Es hörte sich an, als meckere eine Ziege.
„Sing mir noch ein anderes schönes Lied vor.“
„Das von den Grillen?“
„Ja, das von den Grillen.“
„Na gut.“

Im Frühtau zu Berge wir zieh'n fallera,
es grünen die Wälder, die Höh'n fallera.
Wir wandern ohne Sorgen singend in den Morgen,
noch ehe im Tale die Hähne kräh'n.

Ihr alten und hochweisen Leut' fallera,
ihr denkt wohl wir sind nicht gescheit fallera.
Wer sollte aber singen,
wenn wir schon Grillen fingen
in dieser herrlichen Sommerzeit.

Werft ab alle Sorgen und Qual fallera,
und wandert mit uns durch das Tal fallera.
Wir sind hinaus gegangen,
den Sonnenschein zu fangen.
Kommt mit und versucht es doch selbst einmal.

„Sind deine Grillen jetzt verschwunden, Onkel Richard?“
Richard meckerte wieder sein Ziegenlachen. „Sie sind verschwunden.“ Er stieg vom Rad. „Sie sind verschwunden, und ich schwitze. Der Berg hat es insich. Ein Glück, dass es hier immer durch den Wald geht.“
Endlich hatten sie die Bergspitze erreicht. Die Straße war nicht besonders breit. Das dichte Blätterdach der alten Bäume neigte sich über sie, ließ kaum einen Sonnenstrahl durch. Schön kühl war es hier.
Richard stieg wieder auf.
„Festhalten!“
Richard brauste die unebene Straße, die zu beiden Seiten in einen engen, schotterigen Graben abfiel, hinab.
Rosi klammerte sich fest an seinen Rücken. Das war eine Sausefahrt. So ganz nach ihrem Geschmack. Von Lossa ging es über Wiehe nach Rossleben. Hier war sie manchmal mit Wally einkaufen. In Ziegelroda gab es leider kein Textilwarengeschäft.
„Wir fahren durch den Wald“, schlug sie vor, „nicht die Hauptstraße entlang. Vielleicht sehen wir auch Rehe. Oder Wildschweine. Die beobachte ich manchmal mit Opa.“
Die Tiere hielten sich in der Mittagshitze versteckt. Das wusste Richard bestimmt nicht. Er war ja ein Stadtmensch. Aber die Hauptstraße war viel zu langweilig. Außerdem zu bergig. Da würde Richard ja völlig außer Puste geraten. Er hatte vorhin den Berg rauf schon ganz schön geschnauft.
„Gut“, willigte Richard ein, „wir können ja auch laufen.“ Er stieg ab und hob Rosi vom Gepäckträger, „uns die Beine etwas vertreten.“
Sie ließen die Hauptstraße links neben sich, bogen rechts ab zu einem Waldweg, der durch dichtes Unterholz führte, mal schmaler, mal breiter wurde, sich schlängelte, dann wieder kurz streckte, auf eine Lichtung führte, eine Wiese voller Fliegenpilze, Annemonen und Butterblumen, die die Sonne in flirrendes Licht getaucht hatte. Dann wieder wurde der Mischwald, wie man den Ziegelrodaer Forst nannte, weil in ihm Laub- und Nadelbäume wuchsen, dunkler und feuchter und Mückenschwärme tanzten lustig um die beiden herum. Als der Weg sie wieder auf so eine romantische Lichtung führte, blieb Richard stehen. „Schau mal, da“, sagte er und zeigte auf einen Hochsitz am Ende der Wiese vor einem Wald, der tief ins Unterholz hinein dunkelte. „Wollen wir da mal rauf? Vielleicht sehen wir Rehe.“
Rosi rannte los. Flink kletterte sie auf den Hochsitz. „Rehe sehen wir aber bestimmt nicht, Onkel Richard. Die kommen nämlich erst in der Dämmerung.“
„Du bist mir schon ein Schelm. Einen alten Mann zu veralbern.“ Richard lehnte das Fahrrad gegen das Holz und ließ sich auf die Wiese mit den Blumen fallen. „Nur etwas ausruhen“, murmelte er. „Es ist wirklich schön hier. So ruhig. Und so friedlich.“

Da hatte Richard recht. Rosi dachte an einen ähnlich schönen Tag.
Schon am frühen Morgen war sie mit Karl losgelaufen, um die Rehe zu beobachten. Hinein in den Wald, den Mittelwald, bis sie auf diese Lichtung kamen. Bello war natürlich auch dabei. Doch noch bevor sie die Wiese erreicht hatten, war er verschwunden.
Karl holte sein Fernglas aus der Umhängetasche und suchte damit den Waldrand ab. Plötzlich lachte er belustigt auf.
„Ahnte ich es doch!“, rief er fröhlich. „Hier, gucke mal.“ Er reichte ihr das Glas, stellte sich hinter sie, lenkte es in eine bestimmte Richtung. Neugierig schaute sie hindurch.
Bello saß auf der Waldlichtung, mit hochgerecktem Rumpf. Ihm gegenüber stand ein junger Rehbock. Neugierig schnupperte Bello an seiner Schnauze, erhob sich dann langsam, ging ein paar Mal um den Rehbock herum, legte seine Vorderpfoten flach auf den Boden, streckte sein Hinterteil in die Höhe und stellte seinen Schwanz auf.
„So versucht er, den jungen Bock zum Mitspielen zu bewegen“, freute sich Karl.
Der Bock schien jedoch keine Lust zum Spielen zu haben. Er starrte Bello nur verständnislos an und blieb unbeweglich stehen.
Bello lief nochmals um ihn herum und zwickte ihn dann in seine Blume. Da hüpfte der Bock einen kurzen Satz nach vorn und setzte sich wieder hin.
„So kann Bello ihn nicht wieder in seine Blume zwicken“, lachte Karl. „Ganz schön schlau, so ein Böckchen.“
„Jetzt sitzen sie sich gegenüber.“ Sie traute sich kaum zu flüstern, um die beiden nicht zu verscheuchen. Tiere haben ja bekanntlich ein viel sensibleres Gehör als Menschen. „Sie erzählen sich was.“
Der Bock senkte seinen Kopf, sodass die dolchähnlichen, kleinen Hörner nach vorn zeigten, erhob sich, nahm Anlauf und stürzte auf Bello zu. Doch der sprang mit einem Satz zur Seite und der Rehbock stieß ins Leere.
„Herrlich!“ Karl pfiff nach Bello. „Der ist ja doch klüger als der Bock. Komm, wenn das Reh uns sieht, verschwindet es sowieso. Hoffentlich hat es nicht schon wieder die frischen Knospen oder die Rinde von den jungen Bäumchen abgefressen.“
„Aber du hast doch gesagt, Opa, Rehe können nicht gut sehen.“
„Ich meine doch auch hören“, erwiderte Karl. „Ja, sie können nur schwarzweiß unterscheiden, aber dafür sehr gut hören. Und riechen.“

„Du hast wohl recht.“ Richard stand auf. „Vielleicht sehen wir jetzt wirklich keine Tiere. Nicht mal einen Hasen. Es singt ja nicht einmal ein Vogel.“
„Es ist ihnen zu heiß.“ Rosi kletterte schnell vom Hochsitz. „Die Tiere vertragen die Hitze auch nicht so gut“, lachte sie. „Nur die Mücken. Ich bin schon ganz zerstochen. Uch, das juckt aber.“
„Du hast halt süßes Blut.“ Richard nahm das Rad. „Komm, wir müssen weiter.“
Jetzt ging es den letzten Pfad den Berg hinauf. Als sie oben angelangt waren, breitete Rosi weit die Arme aus.
„Das ist mein Ziegelroda!“

***

Fortsetzung in Kapitel 9


Anhang
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Im Mittelwald im Ziegelrodaer Forst wurde übrigens 1999 in einer ringförmigen Wallanlage die rund zwei Kilogramm schwere, kreisrunde Scheibe mit einem Durchmesser von 32 Zentimetern gefunden. Die mit Goldauflagen versehene Bronzescheibe weist auf Grund ihrer Gestaltung offensichtliche Bezüge zur Himmelskunde auf und wird nicht zuletzt wegen ihres geschätzten Alters von 3600 Jahren als Schlüsselfund der so genannten Archäoastronomie und einzigartige Darstellung des Kosmos im vorgeschichtlichen Europa angesehen.

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Die 3600 Jahre alte Himmelsscheibe von Nebra in Sachsen-Anhalt, die 1999 entdeckt wurde, gilt als die weltweit älteste konkrete Himmelsdarstellung. Wegen der Folgen des Vulkanausbruchs wurde das Symbol des alten Kultes entweiht und zusammen mit zwei goldverzierten Schwertern, bronzezeitlichen Spiralringen und Bronzebeilen an einem damals heiligen Ort, auf dem Mittelberg bei Nebra vergraben und damit den Göttern geopfert.

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Die Himmelsscheibe wurde als Mond - und Sonnenkalender genutzt.

Quelle/Himmelsscheibe von Nebra – Wikipedia

Himmelsscheibe von Nebra: Warum das Kultsymbol entweiht wurde - Wissen | STERN.DE
 

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