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Rosi und das Haus Brühl 18/ Kapitel 9/Onkel Richard stirbt

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©  rosmarin   
   
Kapitel 9

Onkel Richard stirbt

Sie standen auf dem schmalen Bürgersteig. Das hügelige Dorf lag vor ihnen. Die Straße fiel rechts ab, endete an der niedrigen Kirche ohne Kirchturm, dafür aber mit offenem Glockenstuhl zu ebener Erde wenige Meter von der Kirche entfernt, in dem drei gewaltige Glocken hingen.
Jeder, der wollte, durfte sie zum Klingen bringen. Man musste nur an den dicken Seilen ziehen oder, besser noch, sich daran hängen. Nach einigem Hin und -Herschaukeln ertönte dann der volle, melodische Dreiklang zur Freude der Kinder. Doch am Sonntag war der Glockenstuhl heilig. Da gehörte er dem Pastor, und nur er hatte das Recht, die Glocken zum Klingen zu bringen und damit die Leute zum Kirchgang aufzufordern und seiner Predigt zu lauschen.

Rosi zog ihre Stupsnase kraus. Sie schnupperte wie ein Hund auf Fährte. Aus der einzigen Bäckerei des Dorfes dem Bürgersteig gegenüber wehte ein verführerischer Duft.
Ob Helene wieder einen schönen Nasskuchen gebacken hat? Kirschen? Die Zwetschgen waren ja noch nicht so weit.
Sie sah Helene mit dem riesigen runden Blech auf dem Kopf lächelnd aus dem Tor der Bäckerei treten, eine hellblaue Schürze um ihren etwas fülligen Leib.
„Na, da wollen wir mal“, sagte sie und zwinkerte ihr zu.

Sie spürte förmlich den Geschmack des Kuchens im Mund, den süßlich sauren der halbierten entsteinten Zwetschgen und den körnigen des darüber gestreuten Zuckers.
Hatte sie einen Appetit.
„Wir müssen hier lang, Richard!“, rief sie ausgelassen, als Richard Richtung Gasstätte und Kirche gehen wollte. „Wir müssen hier links den Berg rauf, dann über die Hauptstraße. Und dann das letzte große Haus, das ist es.“
Fröhlich rannte sie los. Im nächsten Augenblick war sie Richards Blicken entschwunden.
Als er endlich vor dem Haus stand, saß sie mit Karl auf der grüngestrichenen Bank vor dem blauen Tor. Bello lag ausgestreckt vor ihr, die Vorderpfoten zwischen seinem Kopf, die Ohren angelegt. Immer wenn sie aufhörte, sein glänzend braunes Fell zu streicheln, hob er ein wenig den Kopf, stellte ein Ohr auf und blinzelte sie vorwurfsvoll mit seinen feuchten Hundeaugen an.
„Er liebt es, hinter den Ohren gekrault zu werden.“ Karl war gerade im Begriff, seine Holzpfeife neu zu stopfen, als er Richard erblickte. „Das muss er sein, der Richard“, sagte er und erhob sich langsam von der Bank. „Passt genau zu deiner Beschreibung, Rosi.“

Richard winkte, überquerte mit langen Schritten die Hauptstraße, das Fahrrad wie eine Trophäe mehr vor sich her tragend als schiebend.
„Tach Karl“, grüßte er, als er das Tor erreicht hatte. „Da sind wir.“ Er schaute Rosi an. „Eine schöne Fahrt war das. Eine schöne Fahrt durch ein schönes, unberührtes Fleckchen Erde.“ Er lachte sein Ziegenmeckerblechlachen, bevor er weitersprach: „Und der Drahtesel hier hat auch durchgehalten, was Rosi?“
„Da habt ihr ja Glück, dass heute Sonntag und der Gottesdienst auch schon vorbei ist, sonst wären wir alle auf dem Feld. Das Wetter ist günstig. Das Getreide wartet nicht. Na, rein in die gute Stube. Helene und Wally tischen schon auf.“

Sie gingen über den geräumigen, mit kleinen Kopfsteinen gepflasterten Hof, ließen den hohen Birnbaum mit den unzähligen grünen Birnen, den Gräteschuppen mit den Fahrrädern, daneben die Kartoffel - und Möhrenmiete links liegen, rechts den riesigen Misthaufen mit dem Plumpsklo dahinter und standen vor der halb geöffneten Tür des zweistöckigen Hauses.
„Wir sind da!“ Karl öffnete die Tür ganz und schritt schnell durch den mit bunten Steinen gefliesten Flur schnurstracks geradeaus zur offenen Küche. „Hm, ein Duft“, schnupperte er. „Da läuft einem ja das Wasser im Mund zusammen.“

Wenig später saßen sie alle um den Küchentisch vor dem Fenster, hinter dem, wie jedes Jahr, das riesige Tabakfeld wogte. Und wie jedes Jahr saß die alte, graue, dicke Katze auf dem Fensterbrett links an der Stirnseite hinter Karls Stammplatz und schnurrte zufrieden.
Nach getaner Arbeit saß Karl des Abends immer hier. Oder auch, wenn es das Wetter zuließ, auf der grünen Bank vor dem Haus. Dort sah er in den Sternenhimmel und rauchte gemütlich seine Pfeife. Auch am Sonntag.
„Der Sonntag ist heilig“, pflegte er zu sagen. „Da ruht die Arbeit auf den Feldern. Da machen wir es uns mal so richtig gemütlich.“ Schmunzelnd fügte er hinzu: „Und die Kühe brauchen auch ihre Pause. Und ich meine Zeitung.“
Karl las immer die neusten Nachrichten und noch lieber die Fortsetzungsgeschichten, die er ab und zu auch mal Rosi vorlesen musste, wenn sie nicht nur für Erwachsene gedacht waren.
„Die schreiben hier immer noch über das missglückte Hitlerattentat“, sagte er jetzt und setzte seine Brille ab. „Wäre es geglückt, wäre der Krieg jetzt zu Ende und unser Erich wieder zu Hause.“ Das seltsam helle Blau seiner Augen schimmerte wässrig. „Und wer weiß, wo Karl jetzt steckt“, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu. „Der erste Weltkrieg war nicht so kompliziert.“
„Ach Karl.“ Helene holte den Nasskuchen aus der Speisekammer gleich links neben der Küche. Sauerkirschen mit Zuckerbutterstreusel. „Ach, Karl“, wiederholte sie, als sie wieder in die Küche trat, „hast du wieder deine alten Geschichten im Kopf, deine Kavalleriegeschichten?“
Helene griff mit der linken Hand an ihren dunklen, üppigen Haarknoten im Nacken. Langsam zog sie eine Nadel heraus und steckte sie gleich wieder hinein. Dann wischte sie mit einer flüchtigen Bewegung über ihre Augen, deren Blau jetzt fast schwarz war und schaute uns eine Weile nachdenklich an. Plötzlich gab sie sich einen Ruck und stellte den Teller mit dem duftenden Sauerkirschkuchen in die Mitte des Tisches. „Greift zu. Guten Appetit“, sagte sie freundlich. „Wally, schenk den Kaffee ein. Und tu viel gute Sahne rein. Wer weiß, wie lange wir das noch können. Wir müssen ja immer mehr abliefern.“

Richard saß an der Längsseite des Tisches Karl gegenüber. „Claus Graf Schenk von Stauffenberg“, mischte er sich in das Gespräch, „wird als Held in die Geschichte eingehen. Als deutscher Offizier und Widerstandskämpfer.“
Wally schaute Richard mit ihren großen blauen Augen böse an.
„Wie kannst du so etwas sagen!“, schrie sie wütend. „Heil Hitler!“ Sie stand stramm und streckte ihren Arm aus. Sogar die langen, fest gebundenen Zöpfe schienen sich zu versteifen. „Der Führer ist der Held! Und nur der Führer! Ein Glück, dass jemand die Tasche mit der verdammten Bombe weggestellt hat. Der Führer sollte also leben! Das war Schicksal. Ja!“
„Setz dich, du dummes Ding“, befahl Helene. „Mach nicht immer alle Leute verrückt mit deinem Gequassel.“
Widerwillig setzte sich Wally auf ihren Holzstuhl. „Hab keinen Hunger“, murrte sie und schob den Teller mit dem angebissenen Stück Kuchen zur Seite. „Ist doch wahr. Goebbels hat den Totalen Krieg ausgerufen. Wir müssen alle Opfer bringen. Der Endsieg ist nah. Und ihr seht nur zu, dass es euch gut geht.“ Sie stand wieder auf, schubste den Stuhl wütend zu dem verblichenen, blauen Plüschsofa an der Wand und schrie:„Heil Hitler! Ich gehe in mein Zimmer!“
Wütend rannte sie aus der Tür, die Treppe hinauf in das obere Stockwerk.
„Macht euch nichts draus“, sagte Helene. „Solche Anfälle hat sie jetzt oft. „Das sind die Flegeljahre.“
„Was sind Flegeljahre Oma?“
„Das sind die Jahre, in denen die Kinder erwachsen werden.“ Helene lachte. „Aber glücklicherweise hast du noch lange Zeit. Komm, iss noch ein Stück von dem guten Kuchen.“ Sie legte Rosi ein großes Stück auf den Teller. „Und du auch“, forderte sie Richard auf. „Du siehst aus, als hättest du lange nichts Gutes mehr gegessen. So mager.“ Sie schüttelte den Kopf. „Na, in Hamburg fressen die Leute ja schon die letzten Ratten aus den Trümmerlöchern.“
„Und in Buttscht gibt‘s auch nichts Ordentliches mehr.“
Karl nahm seine Pfeife aus dem Mund, um sie neu zu stopfen. „Jetzt bleibst du erstmal hier“, sagte er, „bis du in die Schule kommst. Bis dahin werden wir dich schon rausgefuttert haben.“
„Und wir fangen gleich damit an. Hier, trink deine Milch.“ Helene stellte eine große blaue Emailetasse mit frischer Kuhmilch vor Rosi.
„Iieeh!“, schüttelte sie sich. „Du weißt doch, dass ich keine Milch trinke. Das ist doch zu ekelig, Oma!“
„Fängt das schon wieder an?“ Helene nahm die Tasse weg. „Ich dachte, du hast dich gebessert in dem einen Jahr. Aber nein, du bist noch immer so eigensinnig. Wie willst du denn da groß und stark werden? Und in der Schule fleißig lernen?“
„Hol ihr einen Kirschsaft“, sagte Karl. „Den magst du doch?“
Und ob Rosi den mochte. Der war so schön frisch. Die Milch aber so weiß und so fettig. Sie würde wohl niemals Milch trinken können.
„Ich muss wieder.“ Richard erhob sich. „Nanny wartet.“
„Aber nicht, bevor du dich hier umgesehen hast“, sagte Karl. „Vielleicht gefällt es dir ja hier. Und wenn du in Hamburg keine Arbeit hast - hier gibt es immer was zu tun. Platz ist auch genug da.“
Vor Überraschung klappte Richard seinen Mund erst auf und gleich darauf wieder zu. „Ich werde darüber nachdenken“, stotterte er dann. „Danke für das Angebot.“

Karl lachte sein tiefes gemütliches Lachen und sagte: „Rosi führe den Richard mal etwas herum, damit er einen kleinen Eindruck von einem Bauernhof bekommt. Wenn ihr in einer halben Stunde nicht zurück seid, hole ich euch. Bello wird euch schon aufspüren.“
Bello, der bis jetzt artig zu Karls Füßen gelegen hatte, hob seinen Kopf, stellte ein Ohr auf, blinzelte Rosi an, stand auf und machte dann eine unzweideutige Kopfbewegung zur offenen Küchentür.
„Bello! Du bleibst hier“, bestimmte Karl. „Ich sagte, in einer halben Stunde.“
Bello trottete zurück zu Karl und legte sich wieder zu seinen Füßen.
„Braver Hund.“ Karl graulte Bello zum Dank für seinen Gehorsam hinter den Ohren. „Und nun ab mit euch.“

Nichts lieber als das. Fröhlich zog Rosi Richard zur Tür hinaus.
„Das ist die Speisekammer.“ Sie wies auf die niedrige Tür linker Hand neben der Küche, „und immer verschlossen. Nur zu den Mahlzeiten holen Oma, oder manchmal auch Wally, das Essen heraus. Da drin sind lauter Würste, Butter, Speck, Eier, die ganzen Marmeladen, Säfte, Eingemachtes, Kuchen, Brote“, flüsterte sie, „einfach alles. Was man sich nur denken kann.“
„Beachtlich“, Richard meckerte sein Ziegenlachen, „bekommst du keinen Appetit, wenn du davorstehst und nicht reinkannst“?
„Mir ist das wurscht. Das Meiste esse ich sowieso nicht. Speck und Fleisch und Wurst ist sowieso total ekelig. Und soll ich dir mal was ganz Lustiges erzählen?“
„Aber gern. Was ist es denn?“
„Schlachten.“
„Schlachten? Was ist denn daran lustig?“
„Ja, da war ich noch ganz klein. Erst so ein und ein viertel Jahr.“
„Und wer hat da wen geschlachtet?“, lachte Richard ungläubig.
„Es war zu Weihnachten.“
Rosi schaute nachdenklich vor sich hin. Diese Geschichte hatten Helene, Karl und Wally so oft erzählt, dass sie sicher war, alles genauso erlebt zu haben und sich an jede Einzelheit erinnern zu können.
Zu Weihnachten hatte sie eine wunderschöne Puppe, eine echte Käthe Gruse Puppe mit Schlenkerarmen - und Beinen, bekommen. Sie hatte sie von allen Seiten betrachtet und dann nichts Eiligeres zu tun gehabt, als ein Messer vom Küchentisch zu holen und der Puppe Arme und Beine aufzuschlitzen, sodass die ganze Holzwolle herausquoll.
„Ich habe meine ganz teure Käthe Gruse Puppe geschlachtet“, sagte sie, „die mir der Weihnachtsmann unter den Tannenbaum gelegt hatte.“
„Aber Rosi“, zweifelte Richard, „das kannst du doch gar nicht mehr wissen. Dazu warst du doch, wie du selbst sagst, noch viel zu klein.“
„Es stimm aber!“ Rosi setzte ihr Trotzgesicht auf. „Wenn du es nicht glaubst, frag doch Oma, oder Opa, oder Wally. Die wissen es noch ganz genau. Sie erzählen es mir doch immer wieder.“
„Na also“, war Richard zufrieden. „Wie ging es denn weiter?“
„Alle waren natürlich sehr böse auf mich. 'Was hast du nur gemacht?‘‚ fragte Oma immer wieder ganz traurig. ‚Die schöne teure Puppe'. Und ich habe gesagt: 'Ich habe Puppe gegacht'.“ Rosi fasste nach Richards Hand. „So ein schlimmes Kind war ich.“
„Ein ganz schlimmes Kind“, stimmte Richard zu. Er konnte sich das Lachen nicht verkneifen. „Bestimmt hast du mal beim Schlachten zugeschaut?“
„Kann mich nicht erinnern. Jedenfalls finde ich Puppen doof. Völlig uninteressant. Es ist ja nichts drin.“

Sie standen noch immer vor der Speisekammer. Bestimmt hatten Karl und Helene das Gespräch mit angehört. Sie freuten sich immer wieder, wenn die Rede darauf kam.
„Und hier, gegenüber der Speisekammer, geht es in die gute Stube.“ Rosi zeigte auf die helle Holztür. „Die ist aber auch immer verschlossen. Nur sonntags darf man da rein. Und auch nur mit Erlaubnis.“
„Aber der Schlüssel steckt doch.“
„Klar, weil Wally ab und zu sauber macht und Oma und Opa in der Kammer, die daneben ist, schlafen. Da steht aber nur ein Bett. Sie schlafen immer in dem einen Bett. In Elses Schlafzimmer stehen zwei Betten. Die sind aber weiß und viel schöner. Weißt ja. Weil du jetzt mit Nanny darin schläfst.“
„Und wohin führt die Treppe?“
„Die führt in Wallys Zimmer. Da dürfen wir aber jetzt nicht rein. Weil sie bockt.“
„Gut, bleiben wir unten“, war Richard einverstanden. „Meine Zeit ist sowieso knapp. Was gibt es noch so da oben?“
„Da gibt es noch ein Zimmer mit drei Betten. Wenn wir Kinder zu Besuch kommen. Und dann ist da noch Erichs Kammer mit einem Bett. In dem schlafe ich jetzt, weil Erich ja im Krieg ist. Und dann ist da noch eine Treppe bis zum Boden. Dort ist es am allerschönsten. Da verstecke ich mich immer und krame in den Sachen herum.“
„Und jetzt geht es zur Tür hinaus. Also weiter mit dem Rundgang“, wurde Richard langsam ungeduldig.

Rosi führte Richard in den gemütlichen Kuhstall links neben dem Haus. Sechs gut genährte Kühe standen darin. Kühe mit prallen Eutern, glänzenden Fellen, dunkelbraunen, hellbraunen, gescheckten, und langen Schwänzen, an deren Enden ein lustiges Haarbüschel baumelte. Mit denen bekamen die Fliegen, Mücken und Bremsen eins ab, wenn sie zu frech wurden.
Als Richard und Rosi den Stall betraten, wandten ihnen alle Kühe wie auf Befehl ihre dicken Köpfe mit den gebogenen Hörnen und den großen, dunkelblauen Augen zu.
„Muuuhuu!“, brummten sie im Chor.
„Sie begrüßen uns.“ Richard lachte und zog seine lange Nase kraus. „Gut riecht es hier.“
Schnell lief Rosi zu einer Kuh ganz hinten links an der Wand „Hier bin ich wieder, Schecke, du böse.“ Sie patschte der Kuh auf den dicken, warmen Bauch, während sie an das Erlebnis im vorigen Jahr dachte.

„Ich will auch mal melken“, hatte sie zu Helene gesagt, als diese auf ihrem Melkschemel vor der Schecke saß und sang: 'Stripp, strapp, strull, iss der Eimer balde vull'.
„Aber bitte“, sagte Helene. „Komm, setz dich auf den Schemel. Sei aber vorsichtig.“
Mutig hatte sie sich auf den Melkschemel gesetzt und nach der ersten Zitze gegriffen. Daraufhin hatte Schecke verwundert ihren Kopf zur Seite gedreht.
„Nimm zwei Zitzen zu gleicher Zeit.“ Helene hatte es ihr gezeigt und Schecke zufrieden gebrummt. „Fass sicher zu. Drück oben und lass die Milch dann unten locker rausfließen.“
Das war allerdings leichter gesagt als getan. Als sie die Zitzen drückte, gab Schecke Laut. Es klang wie eine Warnung. Beim zweiten Drücken bekam sie Scheckes Schwanz um die Ohren gehauen, dass ihr Hören und Sehen verging und sie weinend vom Schemel gesprungen war.
Nie wieder hatte sie sich ans Melken gewagt.

„Schecke hat mir ihren Schwanz um die Ohren gehauen“, sagte sie zu Richard. „Was denkst du, wie weh das getan hat. Zum Melken braucht man halt Talent.“
Als hätte auch Schecke die Geschichte nicht vergessen, glotzte sie Rosi traurig aus ihren großen, feuchten Augen an, hörte einen Moment auf, wiederzukäuen und wandte sich dann bedächtig der Futterkrippe mit dem duftfrischen Heu zu.
Rosi zeigte Richard die Räume hinter dem Kuhstall, in denen die Arbeitsgeräte und die Futtermittel aufbewahrt wurden. Säcke mit Getreide standen herum, ein kleiner Traktor in der Scheune, eine bunte Dreschmaschine und allerlei große und kleinere Tröge und Töpfe.
Dann ging es zu Wallys Gemüse - und Blumengarten.
Richard staunte über das Tabaksfeld, das angrenzende Land, auf dem Getreide, Kartoffeln, Zucker - und Runkelrüben wuchsen.
„Ganz schön groß, das Land“, sagte er. „Viel Arbeit.“
„Ja“, stimmte Rosi zu. „Viel Arbeit. Das andere Land liegt hinter dem Dorf, am Wald nach Hermannseck“, erzählte sie weiter. „Da ist ein kleines Schwimmbad mit ganz kaltem Wasser. Uuh! Da gehen wir manchmal baden. Ein Zoo ist auch dort. Mit ganz kleinen, niedlichen Rehen und Hirschen und Pfauen. Und eine Gaststätte mit einem Tanzsaal gibt es da auch. Da war ich schon mal, mit Wally.“
„Hm“, zwinkerte Richard, „aber doch wohl nicht tanzen?“
„Doch, mit Norbert, das ist mein Freund. Er kommt immer mit seiner Mutter. Die haben aber kein Land. Die sind ganz arm. Opa sagt immer, ich soll nicht mit dem spielen. Aber der ist ganz süß. Wir haben noch zwei ganz große Obstgärten im Dorf, gleich hinter der Bäckerei.“
„Das ist ja eine Sklavenarbeit, das alles zu bewältigen“, sagte Richard. „Machen das die drei ganz allein?“
„Voriges Jahr hat Erich noch mitgeholfen. Aber jetzt ist er ja im Krieg.“ Rosi schüttelte ihren Kopf. „Ja, so ist das. Aber wir helfen ja auch jedes Jahr mit. Mein Vater ist kein Bauer, hat Oma gesagt. Auf den kann sie nicht zählen. Der ist ein Künstler und verdient keinen Heller.“
„Und jetzt ist er vermisst. Aber er kommt bestimmt wieder. Komm, wir gehen ins Haus. Ich muss mich jetzt verabschieden. Schön ist es hier. Man merkt nichts vom Krieg.“

Richard war völlig verunsichert. Nicht einmal im Traum hätte er sich vorstellen können, dass es dieses ländliche Idyll noch gab. Ein Paradies im Jahre 1944. Nein, seine Träume bestanden aus Albträumen. Nacht für Nacht erlebte er die schreckliche Bombennacht aufs Neue.
Er wusste, dass britische Experten bereits in den dreißiger Jahren umfangreiche Untersuchungen angestellt und die Brennbarkeit der ortsüblichen Bauweise untersucht hatten, um die Bombentechnologie immer weiter zu perfektionieren. Und Hamburg war ein willkommenes Opfer.
Nacht für Nacht erlebte er dieses Inferno. Er sah und hörte die heulenden, fluchenden, sich wie verrückt gebärdenden Menschen Türen und Fenster aufreißen, damit den Weg für die lodernden Flammen freigeben; sah die Menschen - Frauen, alte Männer, Kinder -, ersticken in ihren Kellern, verbrennen, verglühen auf den Straßen, erschlagen von umherfliegenden Holzteilen, herabstürzenden Dächern, begraben unter den Trümmern der zusammenstürzenden Häuser. Er roch den beizenden Gestank verbrannter Leichen. Einen Geruch, der ihn sein ganzes Leben begleiten würde.
Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge bargen Zehntausende Leichen, brachten sie zum Ohlsdorfer Friedhof, um sie dort in Massengräbern zu begraben.
„Vierzigtausend Menschen mussten ihr Leben lassen“, murmelte er, „Vierzigtausend. Und wäre Nanny, meine geliebte Nanny, nicht gewesen, wäre ich auch unter ihnen.“
Aus Richards Augen tropften die Tränen. Ganz langsam sickerten sie unter der Augenklappe hervor, rannen seinen dürren Hals hinab, blieben hängen an dem vorstehenden Adamsapfel. Sein Kopf drohte, zu bersten. Sein Herz brannte. Sein Leben war zerstört.
Schmerzhaft, unsäglich schmerzhaft, war ihm bewusst, dass er nicht mehr richtig tickte. Er sehnte sich schrecklich nach Nanny, musste so schnell wie möglich zurück.
„Nanny!“, rief er, „Nanny! Ich verbrenne!“ Mit beiden Händen fasste er sich an den Kopf, dann an sein Herz. „Nanny!“, flüsterte er, „Nanny! Geliebte Nann...!“

Wie ein Stein stürzte Richard hernieder zur Erde; er breitete die Arme aus, seine Hände krampften sich in das weiche Gras. Die Augenklappe rutschte über seine tränennasse Wange.
Erschreckt schaute Rosi in Richards verdrehte, starre Augen. Sie setzte sich neben ihn in das Gras und streichelte über sein ausgemergeltes Gesicht.
„Warum weinst du Onkel Richard?“ flüsterte sie. „Alles wir gut.“

Sie bekam keine Antwort. Richards Leben war zu Ende.

***

Fortsetzung folgt
 

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