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Preis der Lust/Kapitel 1

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©  rosmarin   
   
1. Kapitel
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In der kurzen Zeit, in der ich mit Gigan zusammen war, hatten wir fast alle neuen Filme gesehen. Wir waren süchtig nach Kino. Das Kino war ein intimer Ort. Und uns sehr willkommen. Es war, als gäbe es eine geheime Absprache zwischen den Menschen, die das Kino mit uns teilten. Meist jüngere Pärchen, die alle das Gleiche wollten und taten. Weshalb ging man sonst zu so später Stunde ins Kino?

Das Kino am Zoo war unser Lieblingskino. Gigan kaufte die Karten, ich die Popcorn, diese Knabberdinger, die ich nicht mochte. Er aber umso mehr. Wir suchten uns einen Platz ziemlich weit hinten und küssten uns ungeniert. Die anderen Pärchen übrigens auch.
Gigans eine Hand tastete unter meinen Pulli, die andere hatte er in der Tüte. Es erregte ihn schamlos, wenn er sah, wie sehr ich mich beherrschen musste, um meine Ruhelosigkeit, die mich unweigerlich ergriff, sobald er mich berührte, nicht zu zeigen.
Von den Filmen haben wir nie viel mitbekommen. Oft wussten wir nicht einmal den Titel.

Doch diesmal war es anders. Diesmal war alles anders. Es lag etwas in der Luft. Etwas Kribbelndes. Vibrierendes. Eine Spannung, die ich nie zuvor gespürt hatte.
„Ich könnte dich öffentlich lieben", flüsterte Gigan laut, „sollen doch alle sehen, was ich für dich empfinde."
„Wir sind doch hier nicht in Frankreich", flüsterte ich zurück, „ich habe gelesen, dort dürfe man es öffentlich tun."
„Und hier kann man Pornos drehen", witzelte Gigan, „echt, würde ich tun. Aber nur mit dir. Ich zeig dir nachher was. Es wird dir gefallen."

„Basic Instinct", sagte ich, als wir zwischen all den Menschen, die sich angeregt über den Film unterhielten, dem Ausgang zustrebten.
„Sehr erotisch." Gigan drückte schmerzhaft meine Hand. „Wie du. Ich habe eine Überraschung für dich."
„Her damit."
„Geduld Marie."
Wir stiegen in Gigans ganzen Stolz, ein altes blaues Vehikel. Auf der halbstündigen Fahrt wechselten wir kein Wort. Endlich schaltete Gigan den Motor aus. Wir standen auf einem mir unbekannten kleinen Parkplatz.
„Wir sind da." Gigan küsste zärtlich meine Hand. „Steigen Sie bitte aus, gnä Frau."

Übermütig lachend liefen wir Hand in Hand zu einem Hochhaus. Als Gigan die Haustür aufschloss, beschlich mich doch so etwas wie ein gruseliges Gefühl.

Worauf lasse ich mich da schon wieder ein? Es wäre ja nicht das erste Mal, dass dieser Kerl mich in irgendeine Dummheit hineingezogen hat.

Mit einem klapprigen Fahrstuhl fuhren wir in das zehnte Stockwerk. Gigan öffnete eine der vielen gleich aussehenden Türen, schob mich wortlos in einen engen Korridor.
„Eine Wohnung“, sagte er mit Unschuldsmiene, „die habe ich für uns gemietet. Von einem Freund, der bei seiner Freundin wohnt.“ Er nahm mich auf seine Arme, trug mich über die Schwelle zum Wohnzimmer. „Das wird unser Liebesnest“, behauptete er, „hier können wir uns lieben nach Herzenslust. Keiner wird uns stören. Und hören“, fügte er nach einem lüsternen Blick auf meine Brüste hinzu.

Reglos stand ich eine Weile in der Mitte des Zimmers, wo Gigan mich abgestellt hatte wie eine Tasche, ehe ich mich entschloss, in Richtung Küche zu gehen, wohin er entschwunden war. Doch er kam schon zurück, im Arm einen Strauß dunkelroter Rosen.
„Für dich“, sagte er freudig erregt, „für uns."

Überraschung gelungen. Wie verrückt spürte ich mein Herz bis zum Hals klopfen. Ein Schauer nach dem anderen lief mir über den Rücken.

Ich war mit Gigan in einem fremden Zimmer. Einer unbekannten Wohnung. So plötzlich. Würde es heute geschehen? Das Unausweichliche? Hier?

Ich hatte die Erregung, die Vorfreude, das Unausweichliche in Gigans Eisaugen erkannt. Auch eine verzweifelte Entschlossenheit, die mich etwas beunruhigte. Bisher war bei uns nur Knutschen und Lutschen und Händeln angesagt. Das würde sich wohl jetzt ändern.
Tief horchte ich in mich hinein, während Gigan Blättchen um Blättchen aus den dicken Rosendolden zupfte, genüsslich daran roch, mich aufforderte, es ihm gleich zu tun.
„Betörend“, sagte ich, „ich weiß, was du vorhast."
„Willst du es auch?"
„Ja."
Ich hatte ja gesagt. Einfach so. Ja. War ich das wirklich?

„Gut", erwiderte Gigan mit kalter Sachlichkeit, ging zur Stereoanlage, legte Mozarts Kleine Nachtmusik auf.
Er hatte herausgefunden, dass ich Klassik mochte. Besonders Mozart. Mein Herz wurde weich. Begann regelrecht zu schmelzen. Verliebt himmelte ich Gigan an.
Etwas verlegen holte er eine Flasche Rotwein aus der Küche, entkorkte sie, goss den Wein vorsichtig in die Gläser, zündete die langen weißen Kerzen auf dem siebenarmigen Leuchter auf dem blanken Esstisch an, reichte mir ein Glas.
„Auf uns." Gigan blickte tief in meine Augen. „Auf diesen Tag. Diese Stunde. Soll sie unvergesslich werden."
„Auf uns. Unvergesslich." Gigans Eisaugen erschienen mir plötzlich kalt, fast ausdruckslos.
„Soll ich?"

Ohne meine Antwort abzuwarten, entkleidete Gigan sich langsam, tänzelte wie ein Stripper, ließ mich nicht aus den Augen.
Ich fand ihn wunderschön. Wie er so vor mir stand in seiner gesunden kräftigen Jugendlichkeit, gezeichnet an den richtigen Stellen gleich einem edlen Tier, und das Dreieck seiner Schambehaarung harmonierte wunderbar mit der blonden Kräuselung auf seiner muskulösen Brust. ER reckte sich vorwitzig in die Höhe. Oh Gott! Ich wollte ihn. Begehrte ihn. Vielleicht liebte ich ihn ja auch? Jedenfalls in diesem Augeblick?

Mir war bewusst, wenn wir es heute täten, jetzt, hier, auf der Stelle, würde ich ihm verfallen. Mit Leib und mit Seele. Für immer und ewig.

„Lass mich knien.“ Gigan kniete vor mir nieder. „Auf meinen nackten Knien will ich durch die Hölle rutschen. Hin zu dir. Meiner über alles Geliebten."
Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. Immer dieses Theatralische. Kitsch. Kitsch. Doch er hatte ein Faible dafür. Und immer wusste ich nicht, ob er es ernst meinte oder sich lustig machte. Vielleicht lustig über sich selbst. Vielleicht über mich?
„Steh auf“, sagte ich, „mach dich nicht zum Klops.“
„Mach ich doch gerne.“ Wieder der eiskalte Blick.

Gigan streifte mir vorsichtig die Schuhe von den Füßen, küsste zärtlich jeden einzelnen rot lackierten Zeh, während seine Hände meine Beine streichelten, langsam spreizten, vorsichtig meine Mitte ertasteten, sodass ich leise aufstöhnte.
„Ich begehre dich wahnsinnig“, flüsterte er, „komm, schlaf mit mir."
Keines klaren Gedankens mehr fähig, war ich nur imstande zu nicken. Mein Blick wanderte in Richtung Bett. Ein wunderschönes Bett. Mit einem hohen verschnörkelten Bettgestell aus Metall. Blau. Mit vergoldeten Knöpfen. Die Matratze schien hart und elastisch zu sein. Ein hellblaues Laken lag locker darüber. Übersät mit dunklen Rosenblütenblättern.
Plötzlich sah ich das rote Auge einer Kamera blinken.
„Was soll denn das?", empörte ich mich.
„Was denn? Meine Liebe?"
„Das Ding da! Die Kamera."
„Ach die Kamera. Das ist die zweite Überraschung."
Das rote Auge der Kamera leuchtete beängstigend zu mir hin.
„Verdammter Kerl! Du hast uns gefilmt?" Die Schamröte stieg heiß in mein Gesicht. „Ohne mich zu fragen?"
„Es wird dir gefallen“, sagte Gigan leichthin, „ist doch nur für uns."
„Dich hat der Westen wohl auch schon verdorben?", provozierte ich.
„Von verdorben kann keine Rede sein", Gigan trug mich auf das rosenbestreute Bett, „ich bin nun mal neugierig. Ist doch positiv. Wir können ja mal zusammen in so ein Kino gehen. Beate Uhse und so."
„Nie und nimmer! Mich bekommst du da nicht hinein!", empörte ich mich zum Schein, „etwas obszön ist es wohl doch?"
„Eher ungewohnt." Gigan küsste mich auf den Bauch. „Du bist hundert Mal schöner, als die Frauen in den Filmen.“

Die Platte war längst abgespielt. Die Kerzen niedergebrannt. Doch die Rosenblütenblätter verströmten noch immer ihren betörenden Duft. Wir lagen eng umschlungen glücklich ermattet auf dem großen Bett, gewickelt in das liebesduftende blaue Laken.

*

Verdammt. Verdammt. Hätte dieser Kerl damals am zwanzigsten Mai Neunzehnhundertzweiundneunzig vierzehn Uhr dreißig nicht den Fahrstuhl nehmen können? Musste er unbedingt laufen? Vor meiner Tür stehen bleiben, als ich mit der Hübner quasselte?
„Es war der Urknall“, sagte er, „du hast mich angelächelt. Da hat es gefunkt.“

Angelächelt. Kann ja sein, dass ich gelächelt habe. Ich bin halt ein freundlicher Mensch. Aber das war noch lange keine Aufforderung zum Tanz. Jedenfalls lag nun täglich eine rote Rose vor meiner Wohnungstür samt einer Einladung für das Kino am Zoo. Doch ich hatte nie Zeit, mich mit ihm zu treffen. Die Proben zu Die Geschichte der Magd Zerline liefen auf Hochtouren. Gigan war auch nicht unbedingt mein Fall. So siegessicher und arrogant, wie er sich gab. Immer in Lederjacke und teuren Jeans. Abgesehen davon, dass er mindestens zehn Jahre jünger war als ich. Außerdem war ich mit Zappi verheiratet, obwohl unsere Ehe, wie es schien, dem Ende zusteuerte.
Zappi hatte sich sehr verändert. Besonders nach dem Fall der Mauer. Die neue unberechenbare Zeit verunsicherte ihn. Ängstigte, verwirrte ihn, wie viele andere auch, deren ganzer Lebensinhalt die Partei gewesen war. Er kam einfach nicht klar, zog sich, geplagt von Existenzängsten, mehr und mehr vom gesellschaftlichen Leben zurück. Auch von mir. Und so kam, was kommen musste, ich traf mich eines Tages mit Gigan. Er wohnte doch tatsächlich noch bei seinen Eltern.

„Du bist wohl ein Muttersöhnchen?“, neckte ich, „hast du wenigstens ein eigenes Zimmer?“
„Ein Atelier.“
„Ein Atelier?“
„In einem großen Haus. Mit einem eigenen Zimmer.“
„Bist du Maler?“
„Maler und Klempner.“

Klar, als Klempner war er mir begegnet und hatte nichts Eiligeres zu tun, als seinen Meister zu bitten, in meiner Wohnung die neuen Heizungen montieren zu dürfen, obwohl er eigentlich für den Nachbaraufgang eingeteilt war. Auffällig bummelte er herum, vergaß da mal ein Schräubchen festzudrehen, dort war eines zu viel und so fort. Irgendeinen Grund fand er immer, mich zu sehen. Langsam wurde mir die ganze Situation peinlich.
„Hast du wenigstens schon mal eine Freundin gehabt?“, neckte ich.
„Ja, aber sie hat mich verlassen.“
Ich glaubte ihm kein Wort, ließ mich jedoch überreden, mit ihm im Schlosspark spazieren zu gehen.
„Vergiss das Federballspiel nicht“, erinnerte er mich.
Vielleicht hätte ich es wirklich vergessen. Er hatte seine Augen und Ohren jedenfalls überall.

***



Fortsetzung in Kapitel 2
 

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