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Preis der Lust/ Kapitel 32

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©  rosmarin   
   
32. Kapitel
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Ich verspürte nicht die geringste Lust, mit der Polizei zu telefonieren, womöglich noch auf dem Polizeipräsidium zu erscheinen. Am liebsten hätte ich mich verkrochen. Wäre erst wieder aufgetaucht, wenn das Leben hell und freundlich wäre. Wie vor Gigan.
Ich wollte mich wieder an den alltäglichen Dingen des Lebens erfreuen können. Den Blumen. Den Wolken. Dem Sommerwind, der schon merklich kühler geworden war und den Herbst erwartete. Ich sehnte mich danach, mit den Menschen zu kommunizieren, ihre Freuden zu teilen, ihr Leid. Ihre Liebe. Meine Liebe. Und vor allem wollte ich wieder arbeiten. Die Stelle als Bibliothekarin war noch immer offen. Doch mir fehlte die Kraft.

Was sollte diese unsinnige Rache? Dieser vermeintliche Hass, der im Begriff war, mich aufzufressen? Zu zerstören. Und der doch im Grunde Liebe war. Ich würde Gigan immer lieben. Immer. Ich brauchte ihn nicht zu besitzen. Er war in mir. Und würde es immer sein.

Ich hatte genug von diesen blödsinnigen Spielchen. Zumal ich wieder einige Anzeigen von der lieben Frau Nesselhof bekommen hatte. Diese Sache wollte ich noch erledigen. Dieses eine Spiel zu Ende spielen. Dann sollte Schluss sein und ich wieder ein freier Mensch. Ich hatte genug gekämpft. Wenn auch mit unlauteren Mitteln. Wie die Mitspieler auch.
Also raffte ich mich auf, nahm allen Mut zusammen, setzte ein selbstbewusstes Lächeln in mein Gesicht und drückte auf den Klingelknopf einer Kanzlei ganz in meiner Nähe.

*

Rechtsanwalt Dr. Kopf zeigte Verständnis für meine Situation und legte sofort mündlich Widerspruch bei der Staatsanwaltschaft ein.
„Verpflichtet ist die Polizei allerdings nicht, auf mich zu hören“, dämpfte er meine Freude, „sie können Sie jederzeit abholen, um ihre Maßnahmen durchzuführen.“
„Sollen sie doch.“ Mit gespielter Selbstsicherheit saß ich kerzengerade auf einem mit braunen Leder überzogenen Stuhl vor einem langen rechteckigen braunen Tisch aus edlem Holz. „Von mir kann jedenfalls keine Fingerabdruckspur, wie die das nennen, auf dem Auto der Frau Nesselhof sein“, sagte ich fest. Dr. Kopf blätterte geschäftig in seinen Akten, schaute mich ab und zu prüfend an. Es hat doch genieselt, dachte ich und log: „Ich weiß weder, wo das Auto gestanden hat, noch wie es aussieht.“
Steif saß Dr. Kopf mir gegenüber auf seinem Stuhl. Die Korrektheit und Ruhe in Person. Weder sein Gesichtsausdruck noch seine Haltung verrieten, was er dachte. Er schaute mich an. Und schwieg. Das machte mich ganz fusselig. Ich musste ihn provozieren und fragte freundlich: „Glauben Sie, dass ich es gewesen bin?“
„Ich glaube, was Sie glauben“, sagte Dr. Kopf diplomatisch, ohne eine Miene zu verziehen.
„Vielleicht bin ich ja eine Hexe?“, provozierte ich weiter, „oder ich habe es im Traum getan? Oder es könnte ja auch sein, dass ich verrückt bin. Ja, ich habe es getan, ohne es zu wissen. Möglich ist doch alles?“
„Reiß dich zusammen Marie“, sagte Marie zwei, „diesen Mann kannst du nicht täuschen. Er durchschaut dich. Warum hast du ihm auch deine ganze Gigangeschichte erzählt?“
„Sie sind weder verrückt noch eine Hexe“, wies Dr. Kopf mich zurecht. Sie wissen ganz genau, was sie tun. Und ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.“ Er vertiefte sich wieder in den dicken Ordner. „Einfach wird es allerdings nicht werden“, murmelte er, „mit den Fingerabdrücken ist das so eine Sache. Man kann alles manipulieren.“
„Wie meinen Sie das?“, lächelte ich naiv.
„Zum Beispiel nimmt man frische Fingerabdrücke, von einer Türklinke etwa, und projiziert diese auf das Material, das man für die Spurensicherung braucht. Die Fingerabdrücke sind dann mit den gesicherten identisch.“
„Dann könnten die ja welche von den Briefen und Karten nehmen“, sagte ich, der Worte Gilas denkend, „die ich Gigan geschickt habe.“
„Hier, schauen Sie mal.“ Dr. Kopf zeigte auf einen Brief, den ich sofort als den meinigen identifizierte.
„Was sind denn das für rote Kleckse?“, wollte ich wissen.
„Fingerabdrücke. Ihre. Und zwar eine Unmenge. Dieses Corpus delicti muss durch viele Hände gegangen sein.“

Mein unschuldiger Drohbrief.
- Du und Deine Nutte Ihr sollt büßen. Ein Rächer. - Die Buchstaben ausgeschnitten aus einer Zeitschrift. Nach dem Kellerdreier.
Ich konnte mir ein Kichern nicht verkneifen. Hätte mich besser tarnen sollen bei dem Streich. Handschuhe anziehen vielleicht. Aber wie sollte ich ahnen, dass diese Idioten damit zur Polizei rennen? Lachhaft.

Ich streckte die Hand nach meinem Brief aus. „Wunderschön“, sagte ich anerkennend, „nein. Das war ich nicht.“
„Nicht berühren!“ Schnell legte Dr. Kopf das Kunstwerk zur Seite. „Dann hätten die doch Ihre Fingerabdrücke. Das hier sind die Originale. Ich muss sie wieder zurückschicken. Ich darf sie nicht aus der Hand geben.“ Er blätterte wieder in der dicken Akte. „Ganz schön umfangreich“, bemerkte er. „Ich lese Ihnen mal einige Stellen vor. Bestimmt erinnern Sie sich.“

Die beiden Verrückten hatten doch tatsächlich meine intimsten an Gigan geschriebenen Briefe und Karten zur Polizei gebracht. Wie hasste ich in diesem Moment der Erkenntnis Gigan. Meine versöhnlichen Gedanken waren vergessen. Ich hasste ihn. Diesen verdammten Wichser. Wie konnte er mich so demütigen? Alles, was ich ihm angetan hatte, hatte er verdient. Alles.

„Haben Sie diese Karten und Briefe geschrieben?“, riss Dr. Kopf mich aus meinen unguten Gedanken.
„Es ist ja meine Schrift“, sagte ich, „ich habe ihm nur seine Heuchelsprüche zurückgeschickt. Seine verdammten Lügen.“
„In einigen Briefen haben Sie den Namen der Frau nicht ausgeschrieben“, fuhr Dr. Kopf in seiner bedächtigen Sprechweise fort, „Sie haben Pünktchen gemacht. Das könnte Nutte heißen. Und Nutte ist eine Beleidigung. Wissen Sie das?“

Könnte. Könnte. Ich könnte Gigan und seiner Nutte auch den Kopf umdrehen, die Kehle durchschneiden, an den Füßen aufhängen und was sonst noch alles. Könnte. Und ich könnte gar nichts. Ich hatte Mühe, mir das Lachen zu verkneifen. Oder die Wut.

„Es könnte auch Puppe heißen“, erwiderte ich, „die denken sich sonstwas aus, um mich verleumden zu können.“
„Und hier steht Pantoffelheld. Pantoffelheld ist ebenfalls eine Beleidigung im juristischen Sinne.“
„Der Ausdruck stammt nicht von mir. Gigans Mutter meinte, er sei ein Pantoffelheld. Das hat sein Bruder gesagt.“
„Wessen Bruder?“
„Gigans Bruder. Bernd.“
„Aber Sie haben es geschrieben.“
Mich hielt nichts mehr auf dem Stuhl. Wütend sprang ich auf. „Er ist ja auch ein verdammter Pantoffelheld!“, schrie ich, „wenn er sich von der lieben Frau Nesselhof einwickeln und erpressen lässt! Dieser, dieser rot gefärbten Halbhexe mit den struppigen Haaren!“
„Wieso Halbhexe?“ Dr. Kopf stand ebenfalls von seinem Stuhl auf. „Wie meinen Sie das? Halbhexe?“
„Der Magier hat es gesagt.“ Ich setzte mich wieder. „Und der muss es wissen.“
„Und hier“, Dr. Kopf zeigte kopfschüttelnd auf ein anderes Formular, meinen Magier und die Kitschfrau ignorierend, „wie war das mit den Reifen des Suzuki und der Antenne?“
„Und dem Fähnchen“, sagte Marie zwei.
„Das bin ich nicht gewesen.“
„Gut. Diese Anzeige hat dieser, wie heißt er doch gleich?“
„Gigan“, half ich.
„Danke. Dieser Herr Gigan zurückgezogen. Doch diese Frau Nesselhof hat erneut Anzeige erstattet, betreffs dieser, äh, Beleidigung und der Sachbeschädigung ihres Autos. Und hier“, Dr. Kopf blätterte weiter, „ist noch eine Anzeige. Wird noch bearbeitet, steht hier. Also, Sie sollen die Reifen des Autos der Frau Nesselhof, stehend auf der Alexanderstraße 5, zerstochen haben. Eine entsprechende Anzeige werden Sie sicher noch bekommen.“
„So eine Verleumderin.“ Ich lachte laut auf. „Alles erstunken und erlogen. Die will sich nur wichtig machen.“
„Sie hat einen ganz schönen Terror veranstaltet.“ Dr. Kopf lächelte kaum merklich. „Diese Frau sei völlig hysterisch, teilte mir der Staatsanwalt mit. Sie müssten der Sache auf den Grund gehen. Diese Frau ließe nicht locker. Sie muss einen abgrundtiefen Hass gegen Sie hegen.“
„Klar“, stimmte ich zu, sie hat schon ihre Gründe. Und Gigan macht mit. Dieser verdammte Judas.“
„Er hält sich im Hintergrund“, lenkte Dr. Kopf diplomatisch ein, „doch er ist genauso gefährlich. Halten Sie sich fern von ihm. Er hat sie auch belastet. Er scheint tatsächlich unter dem Pantoffel der Frau zu stehen.“ Dr. Kopf lächelte verbindlich. „Aber nun zu der schwerwiegendsten Beschuldigung. Frau Nesselhof will gesehen haben, wie Sie die Reifen ihres Autos zerstachen.“
„Und hat ruhig dabei zugesehen. Dass ich nicht lache!“ Ich lachte laut auf, sodass Dr. Kopf mich verständnislos ansah.
„Frau Nesselhof soll hinter den Büschen gestanden und Sie beobachtet haben“, sagte er.

Da waren gar keine Büsche. Deshalb steht in der Anzeige Kurstraße und nicht Kreuzstraße, in der das Auto stand.

„Sie hat ausgesagt, Sie hätten Ihr sonst zusammengebundenes Haar offen getragen“, sprach Dr. Kopf ruhig weiter.

Das offene Haar war eine Perücke. Nicht einmal das hatte die gemerkt!

„Und Sie seien bekleidet gewesen mit einem weißen T-Shirt.“

Ich trage keine T-Shirts. Das überlasse ich ihr. Am besten noch mit einem Glitzertiger drauf.

„Mit wadenlangen Jeans, die einen Schlitz an der Seite haben.“

Noch nie gehabt.

„Und weißen Turnschuhen.“

Würde ich niemals tragen! Gigan hätte sie besser beraten sollen. Er weiß, was ich trage.

„Du bist doch keine 0815-Frau“, kicherte Marie zwei.

„Alles Quatsch“, sagte ich ruhig. Ich wusste ja nun, dass die Rotgefärbte gelogen hatte. Sie mich nicht gesehen haben konnte. „Das hat die sich nur ausgedacht. Die hat doch keine Ahnung.“

Dr. Kopf versprach, alles in seiner Macht stehende zu tun, um mich da rauszuholen und verabschiedete mich höflich. Ganz Kavalier Alter Schule.
Und er hielt Wort. Das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt. Allerdings musste ich der Form wegen ein geringes Bußgeld an das Behindertenzentrum der Polizei zahlen. Wegen Beleidigung.

Wer hatte hier wen beleidigt?

*

Kaum zu Hause, rief ich Gigan an.
„Solltest du mich weiterhin mit deinen blöden Anrufen belästigen“, sagte ich, „zeige ich dich auch an.“
Gigan bestritt, wie immer, der Anrufer zu sein, und so drehten wir uns ständig im Kreis.
„Du gibst doch auch nicht zu, dass du die Reifen zerstochen hast“, sagte Gigan, „und die Antenne verbogen.“
„Und das Fähnchen zerschnitten“, ergänzte ich schadenfroh, „das erwähnst du nirgends. Du schämst dich wohl?“
„Nein.“
„Doch.“
So setzen sich die Kindereien fort.
„Kann es sein“, fragte Gigan plötzlich, „dass es meine Stimme war, die du gehört hast?“
„Scheißkerl!“, schrie ich, „du bist es also doch! Du kannst mich mal!“
Wütend legte ich den Hörer auf. Es schrillte erneut.
„Ich kenne...“
Ich zog den Stecker raus.
Es klingelte an der Tür.
Ich traute mich nicht zu fragen, wer da sei und schaute ängstlich durch den Spion. Ein Mann, den ich nicht kannte, stand vor der Tür. Klingelte wieder. Diesmal ungeduldiger. Ich zitterte am ganzen Körper. Wer war der Mann?
Nach nochmaligem ergebnislosen Klingeln schlich der Unbekannte die Treppe hinunter.
Ich zog mich unhörbar zurück, rollte mich auf der Couch zusammen, versuchte, die böse Welt zu vergessen, dachte an Zappi. Er hatte sich sehr verändert. Schenkte mir jedes Wochenende eine Rose. Eine Rose mit Dornen. Mit wunderschönen dicken Dornen. Gestern kam er sogar mit einem bunten Blumenstrauß daher. „Diese Blumen sind so schön wie du“, hatte er gesagt, „ich verliebe mich jeden Tag neu in dich.“
Natürlich fiel er mir nicht zu Füßen wie früher Gigan. Warum eigentlich nicht? Ich war eine unverbesserliche Romantikerin. Gigan hatte das gespürt und wusste, wie ich behandelt werden wollte. Und nun? Nun hatte er mich verlassen. Seine große Liebe verraten.

Wahre Liebe währet ewiglich.

Ich stand auf, ging zu meinem Sekretär und nahm Gigans Ring aus dem mit blauem Samt ausgeschlagenen goldenen Kästchen. Eine große Zärtlichkeit erfüllte mein Herz. Ich schloss meine Hände über dem Ring, setzte mich im klassischen Lotossitz auf den Teppich, versank in meiner Anderswelt. Meditierte.

*

Bewegungslos saß ich da. Bemüht, alles um mich herum auszublenden. Abzuschalten. Geräusche. Gedanken Gefühle. Friede sollte in mir sein. Ruhe. Freude. Konzentration. Gigan.

Nach einigen Minuten fühlte ich völlige Schwerelosigkeit, hob sozusagen ab von der Erde, während ich immer weiter in mich ging.
Eine imaginäre Wand tat sich vor mir auf. Ohne Anfang. Ohne Ende. Eine Wand vor meinen Augen. Winzige Wasserfälle liefen wie Tränen herab. Hinter der Wand waren ganz deutlich Gigan und die Rotgefärbte zu sehen. Sie stellte ein nacktes Bein auf einen Hocker aus Holz. Gigan stand etwas abseits. Beide sahen sich an. Es waren keine liebevollen Blicke, die sie tauschten.
„Knie nieder!“, befahl die Kitschfrau.
Gigans Gesicht war verschleiert von Tränen, die sich mit den Tränen der imaginären Wand vermischten. Das Gesicht löste sich langsam auf, glich einer durchweichten Totenmaske, aus der Gigans eiswasserblaue Augen starrten.
„Du musst mir gehorchen“, lachte die Rotgefärbte, „du gehörst mir. Für immer. Ich habe dich in der Hand.“
„Ich gehöre zu Marie!“ schrie Gigan lautlos hinter der Tränenwand, „bis dass der Tod uns scheidet.“
Die Rotgefärbte lachte und lachte, nahm den Fuß vom Hocker, stieß ihn Gigan ins Gesicht, das keins mehr war, und verschwand.
Gigan streckte die Arme gen Himmel, sackte zusammen, blieb bewegungslos liegen, ein kümmerliches Häufchen Elend. Ohne Gesicht. Mit großen starren Eisaugen, die hinter der Wand hin und her kullerten.
„Marie!“ Marie!“, schrie ein weit geöffnetes Mundloch.

*

Erschüttert holte ich mich zurück.
Der Ring in meinen Händen war heiß geworden. Heiß und weich. Ich hätte ihn formen können. Doch ein Ring ist ein Ring. Ohne Anfang. Ohne Ende. Rund. Wie die Erde. Und alles, was darauf geschieht, ist verdammt, zu vergehen.

*

Alles vergeht. Ich vergehe. Wir vergehen. Was bleibt, ist die Zeit. Jeder sagt, die Zeit verginge. Die Zeit gleite unwiederbringlich dahin.
Wohin?
Die Zeit vergeht nicht. Sie ist immer da. Sie bleibt. Wir nicht. Wir gleiten unwiderruflich dahin. Unwiederbringlich. Wohin?
Was bleibt, ist die Erinnerung. Und die Gefühle. Allerdings kann man sie nicht pur zurückholen. Für ein Später gibt es die Konserve. Unvollständig. Verändert. Eine Gedächtniskonserve. Nicht mehr frisch. Alles sieht anders aus in der Erinnerung. Man sagt, man behalte nur das Gute. Doch so ist es nicht. Auch das Schlechte bleibt, wenn es so schlecht gewesen ist, dass es das Leben beeinflusst hat. Auch das Schlechte muss bleiben. Alle Dinge, die geschahen, sehen wir aus der Entfernung, mit Abstand, in einem ganz anderen Licht. Nichts, aber auch gar nichts, können wir aus der Entfernung, mit Abstand, wieder so herbeizaubern, wie es einmal gewesen ist. Nichts.
Die Ereignisse, die Gefühle, die Gedanken werden überschattet von anderen Ereignissen, anderen Gefühlen, anderen Gedanken. Andere Liebe, anderes Leid werden ihren Platz einnehmen. Andere Freude. Anderer Hass. Anderes Leben. Unser Bewusstsein wird sie anders bewahren oder gar verdrängen. Oder ganz und gar auslöschen. Auslöschen für immer. Für alle Zeiten?

Was ist mit Reinkarnation?, dachte ich, bin ich wirr im Kopf?

Ich war nicht mehr fähig, meine Gedanken und Gefühle zu ordnen. Gehörtes, Gesehenes, Gedachtes, Gefühltes, Gelesenes, Erlebtes vermengte sich zu einem einzigen Chaos in meinem Hirn.

Wenn es stimmen sollte, dass man mehrere Leben leben könnte, dachte ich gequält, man in anderer Hülle wieder auferstünde, wer oder was würde ich dann sein? Mensch? Tier? Blume? Geist?
Was hätte es überhaupt für einen Sinn, meine Seele in einem anderen Körper wiederzufinden? Der Tod ist etwas Geistiges, formbar durch unser Denken. Er braucht keine Hülle.
Werden wir in einer rein geistigen Welt weiterleben?, philosophierte ich weiter, in einer Welt, die wir uns selbst geschaffen haben? Durch unser Denken? Unsere Vorstellung? Unser Tun? Bestimmt ist der Tod nur eine andere Art von Sein.

Irgendwo hatte ich gelesen, man müsse nach dem Leben durch sechs Himmel gehen, um geläutert in den ersehnten siebenten zu gelangen. Je schlechter ein Mensch gewesen sei, egoistischer, desto schwieriger sei es, alle sechs Himmel zu überstehen. Manch einer schaffe es nie. Bliebe für alle Zeiten im Vorhimmel. In der Hölle. In der er geläutert werden solle.

„Alles Unsinn“, sagte plötzlich Marie zwei, „wo bleibt dein logisches Denkvermögen? Nach dem Tod kommt nichts. Es heißt nicht umsonst Der schwarze Tod. Aus Schwarz entsteht nichts mehr, seit Gott die Welt erschaffen hat. Das gab es nur einmal. Ein einziges Mal. Schwarz ist die Finsternis. Danach kommt nichts.“
„Und der Urknall?“
„Eine umstrittene Theorie der Wissenschaft.“
„Damit kann ich nicht leben.“
„Dann versuche, dein Leben so zu gestalten, dass du damit leben kannst“, sagte Marie zwei böse, „vergeude es nicht mit sinnlosen Hass- und Rachegefühlen. Du hast doch früher der Liebe gelebt. Der Freundlichkeit. Gehe in dich. Komme zur Vernunft.“
„Ich kann nicht“, erwiderte ich traurig und dachte nach über die Liebe und den Schmerz. Und die Treue. Sehnte mich schmerzlich nach meiner reinen Liebe.

Plötzlich kamen mir die roten Spitzendessous in den Sinn. Gigan hatte sie mir geschenkt und gesagte: „Wunderschön sieht du darin aus. So süß, so sexy.“
Damals glaubte ich noch an die reine Liebe. Wehmütig gedachte ich der Lebendigkeit, die mein Herz erfüllt hatte. Die roten Dessous sah ich als Symbol all dessen.
Jetzt hingen sie an mir wie an einem Kleiderständer. Ich konnte nicht ertragen, sie jemals getragen zu haben.
Vergessen waren die hehren Gefühle und Gedanken. Die Hölle umfing mich. Die Hölle des Hasses.

Sollte der Schwachkopf sie doch der Rotgefärbten schenken.

***

Fortsetzung folgt
 

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