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Das Ritual/Kapitel 3

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©  rosmarin   
   
3. Kapitel
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Ich setzte mich auf den roten Hocker vor dem Spiegel. Schaute nachdenklich in Liliths schönes ruhiges Gesicht, bewunderte ihre vollen Brüste unter dem durchsichtigen schwarzen Schleier, das lange rot funkelnde Haar, das sich in sanften Wellen bis zur Taille schlängelte.

Haare sind nach volkstümlicher Vorstellung Träger der Vitalkraft. Und das nicht nur bei Männern. Auch bei bestimmten Frauengestalten waren sie Symbol für Macht und Stärke. Delia zum Beispiel nahm Simson seine Manneskraft, indem sie ihm die Haare abschnitt. Auch die jüdische Legende von der Königin von Saba zeugt davon.
Die Königin soll eine hässliche Fußbehaarung gehabt haben und somit ihre dämonische Abstammung bewiesen worden sein.
Der König Salomon hörte davon und wollte diesen Makel unbedingt mit eigenen Augen sehen. Er lud die Königin nach Jerusalem ein. Er hatte extra für sie ein Prunkgemach aus Glas anfertigen lassen und hieß die Königin einzutreten. Der Boden war weiß und täuschte klares Wasser vor. Die Königin von Saba dachte, es sei ein kleiner See. So hob sie ihr Kleid, um hindurch zu waten. Das Glas spiegelte ihre Waden und der König konnte deren dichtes Haarkleid sehen. Er bediente sich also der Spiegeldiagnostik, um das Dämonische der Königin zu entlarven. Dämonen sollen aber kein Spiegelbild haben. Somit war bewiesen, dass die Königin rein war und nichts Dämonisches an sich gehabt hatte. Das nahm König Salomon für sie ein.
Die Königin von Saba dachte jedoch nicht daran, ihre Beine zu rasieren, hätte sie sich doch damit selbst ihrer Instinkte, ihrer Potenz und ihrer Macht beraubt. Ebenso wie Lilith bestand sie auf ihrer Eigenständigkeit und Freiheit und wollte nicht unterliegen.
Dies geschah vor 3000 Jahren. Die Königin von Saba war eine mutige Frau, die nicht daran dachte, sich den gesellschaftlich moralischen Zwängen zu unterwerfen.

Haare symbolisieren nicht nur Macht und Potenz, sondern vor allem Freiheit. Sexuelle Freiheit. Den Sklaven wurden die Haare abgeschnitten, die Gefangenen geschoren bis weit in unsere Zeit hinein. Frauen, die sich ihre sexuelle Freiheit nahmen, wurden mit gestutztem Haar an den Pranger gestellt, Nonnen und Mönche opferten ihr Haar und verzichteten somit auf die weltliche Freiheit.

„Und was das Wichtigste ist“, riss Lilith mich aus meinen Gedanken, „Haare sind der Ausdruck für das Mystische. Magische. Sie sind Symbol für schwelgerische Wollust. Sie verführen den Mann, in die Abgründe der Frau einzutauchen.“
„Ich weiß, was du meinst“, sagte ich beschämt und dachte an Ricardo und sein Begehren und an Will und sein langes Haar. „Ich habe mich gefügt.“
„Das Schamhaar verbirgt diese Abgründe“, fuhr Lilith lächelnd fort, „und doch ahnt, ja, weiß der Mann sie dahinter. Einige Männer trauen sich nur an glatt rasierte Mösen.“ Lilith lachte verächtlich, „sie sind überschaubar und erinnern an das Geschlecht junger Mädchen. Die Männer können so den Frauen mutiger begegnen, weil sie Furcht haben vor einer reifen selbstbewussten Frau.“
„Ich war eine Eva“, war ich geständig, „ich bin eine Eva.“

*

Gott erschuf Lilith als erste Frau und Adam als ersten Mann. Doch statt reinen Staubes nahm er für Lilith Schmutz und Abfall.
Lilith und Adam konnten nicht in Frieden miteinander leben, weil Lilith mit der ihr im Beischlaf auferlegten Stellung nicht einverstanden war. Sie wollte nicht unter Adam liegen.
„Warum soll ich unter dir liegen", soll sie erzürnt gesagt haben, „ich bin wie du aus Staub erschaffen. Also dir ebenbürtig."

So kam es, dass Adam Lilith mit Gewalt unterwarf und ihr bewusst wurde, dass er sie niemals gleichrangig behandeln würde. In ihrer Verzweiflung rief sie den unaussprechlichen Namen Gottes und flog durch die Lüfte davon.
Adam flehte zu Gott, er möge die Rebellin finden und zu ihm zurückbringen. So schickte Gottvater drei Engel aus, die Entflohene zu suchen. Diese fanden Lilith in der Nähe des Roten Meeres. Sie war die Braut der dort lebenden Dämonen geworden, beging unreine Handlungen mit ihnen, was immer das auch heißen mag, und empfing täglich unzählige dämonische Kinder, die Lilim.
Die Engel überbrachten ihr die Warnung Gottes. Demzufolge sollten täglich Hunderte ihrer Kinder sterben, wenn sie nicht zu Adam zurückkehren würde. Doch Lilith weigerte sich hartnäckig.
„Wie kann ich nach diesem Aufenthalt hier jemals zu Adam zurückkehren?", soll sie erwidert haben, „als seine ehrbare Frau leben?"
Lilith blieb am Roten Meer, wurde zum bösen Dämon und gebar unzählige andere Dämonen. Diese sollen noch heute eine Plage für die Menschheit sein.
So die Überlieferung.

Natürlich könnte auch alles ganz anders gewesen sein.

*

Neugierig schaute ich in Liliths Gesicht.
Auf die Ausrottung ihrer Kinder soll sie äußerst grausam reagiert haben. Sie erwürgte die Neugeborenen, sofern sie nicht durch ein ganz besonderes Amulett geschützt waren. Oder sie ließ die werdenden Mütter bei der Geburt sterben. Und die Männer verführte sie im Schlaf oder schickte ihnen wüste Träume.

„Ich verkleidete mich als Dirne und erwartete sie an irgendeiner Kreuzung oder in dunklen Ecken“, hauchte Lilith als hätte sie meine Gedanken erraten, „ich mordete sie sofort nach dem Beischlaf. Oder ich ließ sie verrückt werden“, lachte sie hexisch.
„Du gibst also zu, dass alles stimmt, was über dich überliefert ist?“, fragte ich ungläubig.
„Inzwischen nahm Gott eine Rippe von Adam“, sprach Lilith leise weiter, „und schuf ihm daraus eine neue Gefährtin. Eva.“ Sie lachte boshaft. „Doch auch das ging nicht gut. Denn auch Eva war ungehorsam und achtete nicht das Gebot Gottes, sondern erlag den Einflüsterungen der Schlange.“
„Du hast recht, Lilith, meine Schöne“, stimmte ich zu, „sie pflückte den verbotenen Apfel vom Baum der Erkenntnis, gab auch Adam davon zu kosten und wurde von Gott verflucht.“
„Und beide mussten das Paradies verlassen.“
„Man sagt auch, dass du dich in die Schlange verwandelt haben sollst, um Eva zu verführen.“
„Man sagt so vieles. Unzählige Mythen ranken sich um mich. Doch wie es wirklich war, weiß nur ich. Und es wird für euch Menschenkinder ein ewiges Geheimnis bleiben.“

Beide Frauen waren also ungehorsam und wurden von Gott verstoßen. Beide handelten als Individuen. Und beide erscheinen uns heute sehr menschlich in ihrem Wissensdurst, ihrer Eigenwilligkeit, ihrer Unvollkommenheit. Und beide mussten die Prüfungen der unwirtlichen Erde bestehen.

„Den Müttern, die ihre Kinder durch den Tod verlieren, bringt dein Aufenthalt hier auf Erden Trauer und Schmerz“, sagte ich aufmüpfig.
„Sie sollen leiden, wie ich gelitten habe.“ Liliths Augen funkelten böse im Glas des Spiegels. „Täglich musste ich Hunderte meiner Kinder sterben sehen. Ihr Menschen seid nicht geschaffen, in immerwährender Glückseligkeit zu leben. Was wisst ihr über die menschliche Seele. Ihre Untiefen. Verirrungen. Verwirrungen. Nichts wisst ihr. Gar nichts. Doch ihr alle tragt die Erbsünde in euch.“ Lilith zeigte ihren Kussmund. „Und du bist doch immer noch eine echte Eva“, sagte sie spitz, „schau dich doch an.“

Klar war ich eine Eva, wenn auch eine, die manchmal aufmuckte, sich aber doch ihren Männern unterworfen hatte. Und nicht nur ihnen. Nein, auch dem Schönheitsideal unserer Zeit. Demzufolge hatte der weibliche Körper haarlos zu sein. Und ich entfernte gewissenhaft jedes störende Härchen. Rasierte meine Scham frei zugänglich für Ricardo.
Achselhaare waren auch etwas Verpöntes, ebenso wie die anderen behaarten Körperteile. Also sparte ich nicht mit Kosmetikprodukten.

„Die Kosmetikindustrie erfährt damit gerade einen Boom“, höhnte Lilith, „aber wer bedenkt schon die Nebenwirkungen dieser chemischen Mittel.“
„Und die wären?“
„Antriebsschwäche, Müdigkeit, Libidoverlust, Migräne, Blutungsstörungen, depressive Verstimmungen.“
„Du spinnst.“ Ich sprang vom Hocker. „Verschwinde! Du Trugbild meiner Sinne!“
„Nach astrologischer Zuordnung sind dies die Folgen bei einem Defizit von Mars und Sonne“, fuhr Lilith unbeirrt fort, „Eva unterdrückt diese Qualitäten und unterwirft sich freiwillig dem patriarchalen Schönheitsideal.“ Lilith bewegte ihre auf dem Rücken befestigten durchsichtigen blauen Flügel und verschwand.

*

Ich saß auf dem roten Hocker, schaute sehnsüchtig in den Spiegel, der nur mein Bild wiedergab, und wünschte Lilith herbei.
Was wusste ich eigentlich über mich? Bestimmt schlummerten Geheimnisse in mir, Sehnsüchte, die lieber in ewiger Dunkelheit ihr Schattendasein fristen sollten.
Die Jahre meiner frühen Kindheit lagen in völliger Dunkelheit. Meine ersten Erinnerungen begannen mit meinem sechsten Lebensjahr in einem Kloster. Nonnen und Zöglinge waren meine Familie. Ich war ein sehr scheues Kind. Doch das war vergessen, als ich Will kennenlernte. Mit achtzehn. Euphorisch wagte ich den Schritt in meine vermeintliche Unabhängigkeit, was sich natürlich als Trugschluss herausstellte. Ich kam sozusagen vom Regen in die Traufe. Will behandelte mich wie ein Kind. Nicht wie seine Ehefrau. Er wusste alles und ich nichts. Was aus meiner jetzigen Sicht sogar stimmte.

Und dann begegnete ich Ricardo. Es war Liebe auf den ersten Blick. Mein Chef gab eine Party, feierte seinen fünfzigsten Geburtstag. Als der Tanz begann, stand Ricardo vor mir wie der Prinz aus dem Märchenland, machte eine Verbeugung und sagte: „Ein wunderschönes Kleid tragen Sie. Es umschmeichelt Ihren Körper wie die Haut eine Schlange.“

Schöner Vergleich. Was war ich doch für ein Schäfchen. Nichts wusste ich von der Welt. Nichts. Hinter den Klostermauern lag das große Schweigen. Lernen. Beten. Gehorchen. Rituale. Träume. Ein Leben in Monotonie.
Vor den Klostermauern ein Leben in Arbeit, oder noch schlimmer, ohne Arbeit. Und Will, der mehr väterlicher Freund als Ehemann war, schirmte mich von allem ab.

Ich himmelte Ricardo stumm an. Der muss doch denken, ich bin eine dumme Gans, dachte ich.

„Collier und Armband harmonieren wunderbar mit dem duftigen Schwarz Ihres Hautkleides. Sind das Smaragde?“
Ich war kaum fähig, mich zu bewegen. So sehr zitterten mir die Beine, als Ricardo die tief grün funkelnden Steine berührte, wie zufällig meinen Hals mit einem Finger streifte.
„Ja, Smaragde“, hauchte ich.
Schon an diesem Abend habe ich mit Ricardo geschlafen und somit ein wichtiges Verbot überschritten, eine Todsünde begangen.

*

Ich schmiegte mein Gesicht wieder an den Spiegel. Im gleichen Moment erschien Liliths schönes Gesicht.
„Im Auto“, sagte sie, „und am nächsten Abend in seinem Haus. In seinem Bett.“
„Die Liebe mit Ricardo war einmalig“, seufzte ich, „und nun hat mich der Scheißkerl so brutal in den Arsch getreten!“ Wütend sprang ich vom Hocker, lief im Badezimmer auf und ab, wieder zurück zum Spiegel. „Bist du nun an seiner Stelle gekommen?“, schrie ich, „sozusagen als Phantom und willst mich narren?“ Ich lachte hysterisch. „Verschwinde endlich! Verschwinde!“
Wütend griff ich die Bodenvase neben dem Spiegel und warf sie Lilith ins Gesicht.
Klirrend zersprang der Spiegel in abertausend Scherben, die im Licht des Mondes flimmerten und flammten, während Lilith sich auflöste im Kaleidoskop des zersprungenen Glases.
„Tritt hindurch“, hauchte sie, ehe sie ganz verschwand, „die Wahrheit liegt hinter dem Licht.“

***

Fortsetzung folgt
 

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