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Das Ritual/ Kapitel 7

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©  rosmarin   
   
7. Kapitel
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Am nächsten Tag überfiel mich eine grenzenlose Traurigkeit. Eine die Sinne verwirrende Melancholie, aus der ich nicht herausfinden konnte. Am liebsten wäre ich gar nicht aufgestanden, hätte mich in die Kissen gekuschelt und den Tag verschlafen. Doch ich wusste aus Erfahrung es würde nichts bringen. Ich würde grübeln über Dinge, die nicht zu ändern waren.

Nachdenklich setzte ich mich vor meinen Geliebten, gönnte ihm jedoch keine Zeile. Ich wartete, schaute versonnen aus dem Fenster. Letzte Blätter wirbelten von den Bäumen. Eine Elster flog unruhig hin und her, setzte sich dann in die Spitze eines kahlen Lindenbaumes, verweilte.

Spielerisch drehte ich den Ring der Hexe Vanessa an meinem Finger.

Wo war draußen?
Drinnen?
Oben?
Unten?

Das Zimmer schien plötzlich seine Konturen verloren zu haben. Ein Heer längst Verstorbener wurde lebendig an den weißen Wänden, bewegte stumm ihre übergroßen Münder. Ein Wispern und Flüstern begann. Ein Beten und Köpfeneigen. Und dann war alles in rotes Licht getaucht. Rauchwolken stiegen in einen dunklen Himmel. Flammen loderten ihm wild entgegen.
Ich erwachte auf einer Wiese zwischen Gänseblümchen und Butterblumen. Bienen summten auf den Blüten. Ein Sonnenstrahl kitzelte meine Nase, ich musste niesen. Da wurde der Himmel wieder dunkel.

*

Einsam lag ich auf einem schwarzen Stein. Er war kalt. So kalt wie die Luft, die mich umgab. Der Stein war ein auf den Kopf gestelltes schwarzes Kreuz. Ängstlich sah ich mich um. Gestalten in roten Kapuzenmänteln näherten sich mir schwankend. In ihren Händen hielten sie lodernde Fackeln und sangen leise, wie beschwörend, eine Melodie, die mir bekannt vorkam, mich an Schmerz erinnerte. Tränen. Tod.
Andächtig schritten die Gestalten in einer Reihe hintereinander.
„Nein!“
Nicht noch einmal! Ich wollte das alles nicht, sprang von dem Stein und verkroch mich wie ein Tier in eine dunkle Ecke und beobachtete das Ritual.

Isis nahm meinen Platz auf dem Altar ein. Dem umgedrehten schwarzen Kreuz. Sie war wieder zum Kind geworden, nachdem sie Seth nach dem Osirismord nicht töten ließ und Horus ihr einen Stierkopf überstülpte. .
*

Seth hatte sich mit zweiundsiebzig Männern verschworen, um Osiris zu töten, und heimlich seine Körpermaße verschafft. Auf einem prunkvolles Fest sollte die Schandtat geschehen. Also fertigten sie einen kostbaren Schrein und ließen ihn nach dem gemeinsamen Mahl in den Festsaal bringen.
„Wer da genau hinein passt“, sprach Seth, „bekommt ihn zum Geschenk.“
Natürlich wollten die schönen Recken in den wunderschön geschnitzten Schrein passen und versuchten es der Reihe nach, während die Damen in ihren Ballroben Beifall klatschten. Doch keiner hatte das rechte Maß.
„Osiris mein Lieber“, forderte Seht Osiris auf, „steig auch du hinein.“
Osiris stieg in den wundervollen Schrein, legte sich nieder und sagte: „Dieser Schrein ist wie für mich gemacht. Also gehört er mir.“
Die Verschwörer eilten herbei, nagelten den Deckel fest, gossen geschmolzenes Blei darüber, hoben den schönen Schrein auf, schafften ihn an den Nil und ließen ihn ins Meer treiben.

Isis war voll Trauer. Wochenlang suchte sie verzweifelt nach dem Schrein am Gestade des Meeres. In einer Vollmondnacht fand sie ihn endlich im kanaanitischen Byblos, öffnete dank ihrer magischen Kräfte den Deckel, küsste ihren toten Geliebten und ihre Tränen tropften heiß auf sein bleiches Gesicht.

Seth, der bei Mondschein jagte, war ihr gefolgt, sah, was geschah, eilte hinzu, zerhackte voll Hass die Leiche in vierzehn Teile und vergrub sie am Ufer des Flusses.
Isis fuhr traurig mit dem Kahn durch die Sümpfe, fand nach langem Suchen endlich die vierzehn Teile des Osiris, die an verschiedenen Stellen entlang des Flusses verborgen waren, grub sie mit ihren eigenen Händen aus und bestattete sie an einem geheimen Ort.
Da stieg Osiris herauf aus der Unterwelt und suchte Horus, der ihn rächen sollte, und stärkte ihn für den bevorstehenden Kampf mit Seth.
Der Kampf dauerte vier Tage. Seth unterlag, wurde gefesselt und der Isis ausgeliefert, damit sie ihn töten ließe. Doch sie schickte ihn fort.
Diese Milde entfesselte den Zorn des Horus. Er riss seiner Mutter die Krone vom Haupt und stülpte ihr einen Helm mit einem Stierkopf über. Da wurde Isis zum Kind und weinte.

*

Unbeweglich lag Isis auf dem Stein. Dem umgedrehten schwarzen Kreuz. Ihr kleiner Körper war nackt, sie zitterte vor Angst und Kälte. Auch sie hatte schon andere Kinder auf dem schwarzen Stein liegen sehen. Auch sie hatte die Schreie gehört, das unterdrückte Stöhnen, den Dolch blitzen sehen, das Blut an ihm schimmern im hellen Schein des Vollmonds. Und sie wusste: Der Altar war zum Opfern da. Und jetzt war sie an der Reihe. Sie kam jedes Mal, wenn ich verschwand.

Mit weit geöffneten Augen starrte Isis in den Mond. Sie durfte sich nicht bewegen, musste still halten, ganz artig sein. Sie war die Auserwählte. Tief atmete sie den rauchigen Duft des Feuers. Warmes Öl tropfte langsam auf ihren starren Körper, sie stieß einen langen Seufzer aus.
Die schwankenden Gestalten, deren angemalte Gesichter im flackernden Schein des Feuers nicht zu unterscheiden waren, wiegten sich im rhythmischen Tanz, wirbelten um Isis herum. Sie wartete. Nur das war ihre Chance.

Ich spürte die Kühle der Nachtluft jetzt stärker. Auch ich zitterte. Auch ich war nackt.
Die kahlen Bäume wippten gespenstisch über den dunklen Gräbern. Der Mond war verschwunden. Der Gesang verebbt. Die tanzenden Gestalten in der Bewegung erstarrt.
„Ein Bastard soll nicht in die Versammlung des Herrn aufgenommen werden; auch seine Nachkommenschaft bis ins zehnte Glied soll nicht in die Gemeinde des Herrn kommen.“ (fünftes Buch Moses, 23;2)
Der Hohepriester schritt langsam auf Isis zu. Er legte seine Hand auf ihre Stirn und murmelte: „Geist der bösen Kleinen komm heraus. Verlasse diesen sündigen Leib. Diese abscheuliche Hülle. Lege dein Gelübde ab, dein Diener zu sein.“ Er salbte ihren nackten Körper, wickelte sie in weißes Linnen und hielt sie dann der wartenden Menge entgegen.
„Lasset die Kindlein zu mir kommen“, sagte er mit dröhnender Stimme, „denn durch sie ist das Königreich der Hölle.“
Die Menge antwortete im Chor:
„Gepriesen sei Satan. Denn er ist der Herr über alles. Er ist der Herrscher der Finsternis. Verdammt sei Gott. Denn er ist der Herr über nichts.“
Der Hohepriester brachte Isis zurück zum Altar, befahl ihr, aus dem Becher zu trinken, den er ihr hinhielt.
Gehorsam tat Isis, was der Hohepriester von ihr verlangte und trank den Becher in einem Zug leer.
Der Priester lächelte diabolisch. Er öffnete das Leinentuch, betrachtete Isis wohlgefällig und hielt plötzlich einen blinkenden Dolch in der Hand. Damit eröffnete er das teuflische Ritual.
Der Wein, den Isis getrunken hatte, machte sie schwindelig, umnebelte ihre Sinne. Und doch floh sie, als sie den ersten Schnitt des Dolches spürte, aus ihrem Körper.

Auf dem Altar lag jetzt Lilith. Ihre langen Locken umhüllten wie Feuer den Stein. Züngelten schlangengleich um ihn herum. Die grünen Augen funkelten groß und dämonisch aus ihrem reglosen Gesicht.

Ich war nicht überrascht, sie unter diesen mystischen Gestalten zu finden, deren starre Augen und angemalte Gesichter mich nicht mehr zu schrecken vermochten. Denn alles, was nun geschah, war auch mir geschehen.

Reglos hockte ich in meinem Versteck. Ich wusste, dass Lilith wusste: Etwas Schreckliches würde geschehen. Etwas überaus Grausames. Unmenschliches. Dämonisches. Doch sie war bereit. Deshalb war sie gekommen. Freiwillig. Sie, die Dämonin. Die Dunkle Mutter. Die Königin der Nacht. Und der Schmerz und die Scham würde alles, wo auch immer ich sein würde, mir nur allzu vertraut erscheinen lassen.

Lilith hatte keine Drogen erhalten, die ihre Reaktionen hätten abtöten können. Sie war hellwach. Und doch spürte sie nichts, als der scharfe Dolch ihr zwischen die Beine schnitt, das Blut herauslief. Sie schmeckte auch nichts, als der Priester ihr lächelnd ihr eigenes Blut zu trinken befahl. Und sie spürte noch immer nichts, als Männer und Frauen eindrangen in ihre geschändete Nacktheit.
Sie wusste, dass die Dinge, die da geschahen, weh taten. Doch sie spürte keinen körperlichen Schmerz. Sie wusste: Die Handlungen waren beschämend. Doch sie fühlte keinen emotionalen Schmerz. Deshalb war sie gekommen.
Sie brachte sich selbst als Opfer dar.

Endlich waren die vermummten Gestalten es müde, sie zu quälen, wandten ihre Aufmerksamkeit einander zu, zogen sich erregt in Paaren vom Feuer zurück. Sie lachten und tanzten und tranken immer mehr Wein.
Dann legten sie ihre roten Wollkutten mit dem umgedrehten schwarzen Kreuz auf dem Rücken ab und vereinten, nackt, wie sie waren, ihre Körper in sinnlichem Rasen aus Blicken, Berührungen und Gerüchen.

*

Ich erwachte im Dämmer des Morgens auf dem verlassenen Friedhof. Die mystischen Gestalten waren verschwunden. Nur der Mond hing noch am Himmel. Ungerührt. Schon verblasst.

Nur langsam fand ich zurück in die Realität. Ich hatte wohl geschlafen. Mein Kopf lag auf der Schreibtischplatte. Also war alles nur ein Traum. Ja. Alles war wie immer.
Die Fotos hingen stumm an den Wänden. Der Totenkopf mit den Rosenblüten in seinen toten Augenhöhlen stand an seinem Platz neben dem Computer, der grünbronzene Liebesgott Osiris wie immer im Regal und der mit Stecknadeln gespickte Ricardo daneben.
Auch der Schreibtisch war unaufgeräumt. Auf dem Bildschirm tanzten die Schmetterlinge.
Mit der Maus zuckte ich sie weg, erhob mich benommen von meinem spartanischen Stuhl, lief wütend im Zimmer auf und ab.

Immer diese verrückten Träume! Diese Verknüpfung von Lilith und den Figuren aus der altägyptischen Mythologie. Was hatte das eine mit dem anderen zu tun? Und als Höhepunkt zwischen all den ungereimten Dingen der Mond. Immer wieder der Mond. Der Vollmond. Oder war es doch kein Traum? Vielleicht eine Begegnung mit der Vergangenheit?

„Die Wahrheit liegt hinter dem Licht“, hatte Lilith gesagt, bevor sie sich im Kaleidoskop der Scherben aufgelöst hatte.

War ich durch den Spiegel getreten? In eine Anderswelt, die mir bisher verborgen geblieben war? Die ich vielleicht verdrängt hatte?

Ich lachte laut auf. Traum. Anderswelt. Vergangenheit. Wie auch immer. Dummes Zeugs. Es wurde Zeit, meine Doktorarbeit zu Ende zu schreiben. Dann würde wohl auch dieser verdammte Spuk endlich vorbei sein.
Es war schon spät.
In dieser Nacht schlief ich fest und traumlos.

***

Fortsetzung folgt
 

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