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Das Ritual/ Kapitel 18

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©  rosmarin   
   
18. Kapitel
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Alles war wie damals in dieser schwülen Sommernacht. Doch jetzt war ich ganz bewusst nicht mehr die gehorsame Eva. Jetzt würde dem Mann Hören und Sehen vergehen.
Ich kicherte hexisch: „Jetzt will ich in deinen Keller.“ Übermächtig schoss das Verlangen in mein Blut. „Öffne die Tür.“

Der Mann holte den mir bekannten großen Schlüssel aus der Tasche seines weiten schwarzen Umhangs über den Jeans, steckte ihn in das Schloss, drehte ihn zweimal nach rechts, drückte auf die geschmiedete Klinke. Knarrend öffnete sich die Tür. Die Notbeleuchtung erlosch. Wir standen im Dunkeln. Bestimmt in dem Keller, in dem mich der Kerl das Lustheulen gelehrt, nachdem er mich auf eine breite Liege gestoßen, die Augen verbunden und mir ein Glas mit einer süßlichherb schmeckenden Flüssigkeit gereicht hatte.
„Trink“, hatte er befohlen. „Du wirst dein blaues Wunder erleben.“
„Aber… ,“versuchte ich mich schwach zu wehren.
„Halt still. Trink!“
Ich hatte stillgehalten. Und das Glas leer getrunken. War diesem Mann gefügig gewesen wie keinem zuvor. Erst im Morgengrauen hatte er mich erschöpft, aber irgendwie glücklich, in einen schwarzen Jeep gestoßen und nach Hause gefahren. Und ich wusste, ich würde ihm wieder begegnen. Irgendwann. Man sieht sich immer zweimal im Leben, heißt es doch so schön.

Und nun befand ich mich wieder hinter dieser schweren Kellertür. Auch diesmal erlosch die Notbeleuchtung. Auch diesmal standen wir im Dunkeln.
„Komm“, sagte ich und fasste nach der Hand des Mannes. „Auf die Liege mit uns.“
„Erst trinken“, sagte er.
„Erst trinken“, willigte ich ein.
Der Mann entfernte sich einige Schritte und kam mit zwei Gläsern zurück. Wir setzten uns auf die Liege, tranken, warfen die leeren Gläser in den Raum, sanken auf die Liege.

*

Plötzlich blendete mich grelles Licht. Erstaunt öffnete ich die Augen. Der nicht sehr große Raum war rund. Die Wände verkleidet mit rotem Samt. Die gewölbte Decke bestand aus Glas. Ebenso der Fußboden. In der Mitte dieses gläsernen Rondells führte eine hölzerne Wendeltreppe in einen Turm. Weihrauchduft füllte die Luft, nahm mir fast den Atem.

Erstaunt, überrascht, fasziniert, betrachtete ich das einzige Möbelstück rechts neben der Wendeltreppe. Ein antikes Tischchen von seltener Schönheit, bedeckt mit einem bunten Seidentuch. Darauf standen Döschen und Fläschchen mit Duftölen, Seifen, Kerzen, Wässerchen. Dazwischen glänzten und glitzerten exotische Steine, Ketten, Armbänder, Kreuze und eine Unmenge anderer geheimnisvoller Dinge in magischer Schönheit.
Wie in Trance erhob ich mich von der Liege, stand einen Augenblick wie erstarrt. All diese Dinge erinnerten mich an den schrecklichen Matthiastraum. An Matthias‘ seltsame Begehren. Die vier Folterknechte, die mich brutal misshandelt und die ich mit Hilfe des Ringes der Lilith, den die Hexe Vanessa mir geschenkt, in vier eklige Spinnen verwandelt hatte. Abra kadabra. Der esoterische Laden der Hexe erglänzte verlockend vor meinem inneren Auge.

„Ich sehe Unheil. Blut. Verderben.“ Erschrocken fuhr ich zusammen. Vanessa. Verdammte Hexe!

„Mein Heiligtum“, riss mich der Mann, der ebenfalls aufgestanden war, aus meinen Gedanken. „Möchtest du noch etwas trinken?“, fragte er und schritt, ohne meine Antwort abzuwarten, zu dem Tischchen, goss eine rote Flüssigkeit in einen bereitstehenden Opal, hielt ihn mir hin. „Trink“, forderte er mich auf. „Du wirst dich in einer wundersamen Welt wiederfinden.“

Schon nach den ersten Schlucken dieses nach Zimt, Sander, Muskat und anderen orientalischen Gewürzen schmeckenden Getränks fühlte ich mich leicht und beschwingt, wie damals in meinem Bett mit Luzifer. Verführerisch lächelte ich den Mann an.
„Du bist wunderschön“, flüsterte ich erregt. „Es wird Zeit, dass ich dich einweihe in das Geheimnis meines Mysteriums.“ Mit meinen Lippen berührte ich das Gesicht des Mannes, küsste ihn auf die Augen, die Wangen, die Stirn, den Mund. Genüsslich leckte ich seinen weißen Hals, verbarg mein Gesicht an seiner weißen Brust unter dem weiten schwarzen Umhang, koste die glatte, seltsam kühle Haut. Ich hatte ihn erkannt, wusste in diesem Augenblick, welcher Gattung Wesen er angehörte. „Es birgt die abgründigen Geheimnisse aller Geschöpfe“, sprach ich Vanessas Worte. „Nur wenigen Auserwählten ist es vergönnt, ihr eigenes Geheimnis, ihre Zukunft zu erahnen. Ich bin auserkoren, dir dabei zu helfen. Komm.“

Der Mann hatte keine Zeit, über diese rätselhaften Worte nachzudenken. Willig folgte er mir zu der Wendeltreppe. Hand in Hand stiegen wir hinauf. Höher, noch höher. Vor dem Turmzimmer blieben wir stehen.
„Mein Name ist Horus“, stellte sich der Mann endlich vor.
„Crysella“, sagte ich. „Die Wachsende. Werdende. Die Goldblume.“
„Goldblume“, lachte Horus. „Aha.“
Ich lächelte wissend. Der Bruder von Seth also. Meinem ehemaligen Nachtgemahl. Noch so ein verrückter Gott. Der, der mit Seth kämpfte und gewann. Der, der von den Göttern als der rechtmäßige Sohn des Osiris, dem Totengott, und Isis, der Sonnengöttin, anerkannt wurde, obwohl Seth ihm außereheliche Geburt vorgeworfen hatte. Na, sei es wie es sei. Mich konnte nichts mehr erschüttern. Ich wusste, was zu tun war.

Vorerst aber schaute ich mich neugierig um. Auch in diesem Zimmer waren die Wände verkleidet mit rotem Samt. Der Fußboden war verspiegelt. Die gewölbte Decke aus Spiegelglas. Doch hier glich sie eher der Kuppel eines Kirchturms.
Sanft erhellte das Licht des Vollmonds den Raum, fiel direkt auf eine breite Liege, die in der Mitte stand, umgeben von übergroßen schwarzen Altarkerzen. Es roch berückend nach Weihrauch. Plötzlich erklang die Setmusik. Ich musste tanzen! Es war wie ein Ritual. Sobald die Musik erklang, bewegte sich mein Körper wie von selbst.

*

Ich tanzte zu der ungewöhnlich geheimnisvollen Musik. Mein Körper schien sich ohne mein Zutun zu bewegen, verschmolz mit dem Rhythmus dieser lieblichen Töne. Immer machtvoller erklang die Musik, mysteriöser, magischer. Meine Hände glitten über meinen Körper. Berührten meine vollen Brüste. Kreisten um die rosigen Warzen. Streichelten meinen Bauch. Verharrten zwischen den Schenkeln. Streiften mein kurzes rotes Hemd herunter, griffen in mein langes braunes Haar. Berührten sanft mein Ohr. Anmutig neigte ich meinen Kopf und tanzte einen imaginären Schleiertanz. Immer schneller drehte ich mich im Kreis. Schneller. Wilder. Sehnsüchtiger. Bald hatte ich alles um mich herum vergessen. Ergab mich willig der Musik. Zärtlich und leidenschaftlich. Mein Körper wand sich schlangengleich im Rhythmus der verzaubernden en Musik. Mir schien, als würde ich zu den im Nebel der Zeit verborgenen Inseln des Glücks tanzen und ein süßes Ziehen erfasste all meine Sinne.

*

Plötzlich verstummte die Musik. Ich erstarrte in der Bewegung. Wie eine Puppe, der man den Schlüssel aus der Spieluhr gezogen hatte.
Auch Horus stand wie erstarrt. Fasziniert hatte er mir zugeschaut. Sein Fledermausmantel hing lässig auf seinen Schultern. Die langen schwarzen Haare bedeckten die Hälfte seines Gesichts, sodass jetzt nur ein funkelndes Auge zu sehen war. Wie bei dem ägyptischen Fabeltier. Dem Horusfalken. Dem Falkenhorus. Dem Weltgott, der mit seinen ausgebreiteten Flügeln die Welt umspannt und dessen Heimat der Himmel ist. Der Horus des Himmels. Der Lichtgott. Seine Augen symbolisieren Sonne und Mond und alles Gute.

Fast gleichzeitig lösten wir uns aus der Erstarrung. Horus zauberte zwei Pokale, gefüllt mit einer roten Flüssigkeit, unter seinem weiten Umhang hervor und prostete mir zu.
„Auf diese Nacht.“
„Auf diese Nacht.“
Ich trank. Horus trank. Alles war klar. Das Getränk schmeckte wie das schon getrunkene. Horus nahm mich auf seine Arme und trug mich auf die breite Liege. Kichernd zog ich meine Knie zum Kinn.
Wie schamlos‚ dachte ich und lachte.
Bestimmt würde Seth uns zusehen. Seth. Mein Nachtgemahl. Gleich würde ich ihn betrügen. Neulich mit Otto. Vordem mit Matthias. Heute mit Horus. Seinem Bruder.

Horus zündete die schwarzen Kerzen an, schritt wie ein König zu mir hin, umschlang mich mit den Flügeln der Welt. Meine Knie öffneten und schlossen sich wie die Flügel eines Schmetterlings. Horus‘ Hände streichelten Erfahrung. Stöhnend verkrallte ich meine Hände in sein langes seidiges Haar, starrte an die gewölbte Kuppeldecke, die aufbrach wie die Scholle beim Pflügen. Eine Urhöhle, die sich weitet, weitet, zusammenpresst, ausbreitet, pulsiert, schließt, wieder und wieder, im gleichmäßig geheimnisvollen Rhythmus.
Alles um mich herum begann sich zu drehen. Die mit dem roten Samt verkleideten runden Wände waren plötzlich pochendes, schwellendes, vaginales Material, geschmückt mit Hunderten von Brüsten. Klebrige Flüssigkeit tropfte herab, formte sich zu immer bizarreren Gebilden, die, kaum, dass sie Ausdruck angenommen hatten, zerflossen, erstarrten, sich neu formten, um gleich darauf wieder zu zerfließen in unendliche Unendlichkeit. Wieder und wieder. Ein nicht fassbares Chaos.

„Du bist schon eine tolle Frau.“ Unverhofft biss Horus in meinen Hals. „Wenn ich bedenke, wie du vor zehn Jahren warst.“
„Wie denn?“
„Ein Kind. Ein unschuldiges Kind, mit Augen, in denen der Teufel steckte.“
Wieder biss Horus zu.

„Ich bin alles“, sagte Lilith. „Kind. Mutter. Alte Frau. Der Dreierzyklus. Werden. Wachsen. Vergehen.“

Erschauernd spürte ich eine wundersame Süße in meinem Blut. Mein Körper wurde schwerelos, ich begann zu schweben. Die nochmals aufgebrochene Kuppeldecke spiegelte ein verschlungenes Bild. Das Paar im Spiegel wand sich in wollüstigen Posen, während die angenehme Süße meinen Leib mehr und mehr dehnte, ich mit Horus in die Dunkelheit des Himmels flog.
„Jetzt gehörst du mir“, sagte Horus mit seiner angenehm rauen Stimme. „Jetzt. Und in alle Ewigkeit.“ Sein weißes mit meinem Blut verschmiertes Gesicht war dicht über mir. „Unsterblich bist du nun. Meine Gemahlin. Geliebte. Fürstin der Finsternis. Der großen Mutter ebenbürtig.“
„Nein!“, schrie ich. Mir fiel ein, dass ich doch schon durch Seth unsterblich geworden war. Entsetzt starrte ich auf Horus’ lange Eckzähne, die verführerisch im Spiegel der Decke erglänzten. „Nein!“

Es ist ein Spiel. Ein irres, ein total verrücktes Spiel. Ein Vollmondfrauspiel. Oh, Otto!

Mit letzter Kraft kroch ich unter Horus’ Leib hervor. Wütend setzte ich mich auf ihn, drückte seine Arme fest auf die schwarze Liege und hackte meine schönen, weißen, glänzenden, langen Zähne in seinen schlanken, weißen Hals. Schmeckte sein Blut, das er aus mir gesogen, auf meinen Lippen, in meinem Mund und neue Energie pumpte pulsierend durch meinen Körper.
Horus verfiel mehr und mehr. Er war nicht mehr fähig, sich zu bewegen.
Wir hatten die Rollen vertauscht. Zärtlich küsste ich Horus‘ immer blasser werdenden Mund, saugte die letzten Blutstropfen aus seinem Hals.

Ein Mondstrahl fiel ins Zimmer. Horus lächelte erleichtert. Seine Energie schien sich zu erneuern.
Verdammter Vollmond!
Mit einem Fluch auf seinen blassen Lippen stieß mich Horus derb von der Liege, erhob sich, eilte zu der roten Samtwand.
Eine geheime Tür, die ich vordem nicht bemerkt hatte, und die der Form eines Kreuzes glich, öffnete sich wie durch Zauberhand.
„Das Licht des Vollmonds erweckt die Toten!“
Laut auflachend stürzte sich Horus in die Tiefe.

Wie betäubt taumelte ich von der Liege. Hinter der Samtwand entdeckte ich eine schmiedeeiserne niedrige Brüstung.
Horus lag unbeweglich auf dem Rücken vor dem Haus auf der schmutzigen Straße, die Arme ausgebreitet. Wunderschön sah er aus. Wie er so dalag. Im gleißenden Licht des Vollmonds. Überirdisch schön.
Ein Mondstrahl irrte auf seiner weißen Brust, kroch langsam höher, erreichte sein Gesicht. In diesem Moment erhob sich Horus, winkte mir zu und hastete schwankend in Richtung Stadt.

Ich wankte auf die Straße, winkte einige Straßen weiter einem Taxi. Bestimmt hatte Horus eine Droge in das Getränk getan. Oder ich war verrückt. Oder alles war ein Traum. Ein schrecklicher Albtraum, aus dem ich sofort erwachen musste.
Zu Hause angelangt eilte ich ins Bad. Eine fremde Frau starrte mir aus dem Spiegel entgegen. Die langen roten Locken zerzaust. Das Gesicht weiß. Zwischen ihren geöffneten Lippen glänzten zwei wunderschöne lange, weiße, spitze Dragulazähne.

Entsetzt rannte ich aus dem Bad ins Wohnzimmer. Vor dem Computer stand ein Glas Wasser. Darin schwamm Ottos Penis. Aus der Spitze ragten verführerisch zwei ebensolche Zähne. Ich lachte hysterisch. Rannte zurück ins Bad. Bleckte vor dem Spiegel meine langen Zähne. Der Spiegel zeigte kein Bild.

„Ich brauche Blut“, schrie ich. „Viel Blut! Unendlich viel Blut!“

*

Ich war sicher: Der Wahnsinn hatte seine Krallen nach mir ausgestreckt, trieb sein teuflisches Spiel. Verzweifelt sank ich auf die kalten Fliesen, verbarg mein Gesicht in den Händen, schluchzte wie ein verlassenes Kind und hoffte, mir bliebe noch eine kurze Frist schöpferischen Schmerzes.

***

Fortsetzung folgt
 

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