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Das Ritual/ Kapitel 22

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©  rosmarin   
   
22. Kapitel
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Im Wohnzimmer kramte Carlos alte Fotoalben mit goldverschnörkelten Ledereinbänden aus der Schublade eines alten Schrankes. Vorsichtig legte er sie auf den Tisch zwischen all die anderen Dinge.
„Ihr könnt die Fotos ansehen“, sagte er und blickte auffordernd in die Runde. „Hier drin steckt mein Leben. Mein Leben vor dem Leben.“
Helli nahm sich ein Album vor, blätterte interessiert darin. „Alter russischer Adel“, stellte sie lakonisch fest, „deine Eltern müssen doch steinreich sein.“ Ihre Blicke ruhten gebannt auf der gräflichen Umgebung. „Alles steif. Alles unpersönlich. Alles kalt.“
„Geblieben ist der verlorene Sohn“, sagte Carlos traurig und versank in meinen Augen. „Ich.“
„Wirst du auch mit offenen Armen empfangen?“, wollte ich wissen, „wenn du nach Hause kommst. Wie der verlorene Sohn in der Bibel?“ Ich nahm Carlos‘ Hand und drückte sie auf meinen Schoß, als wolle ich damit demonstrieren, dass ich ihn bestimmt mit offenen Armen empfangen würde. Und nicht nur mit offenen Armen. Jedenfalls zog ich alle Register, um Carlos gefügig zu machen. Ich war die leidenschaftliche Jägerin. „Wird dir auch ein Fest bereitet werden?“, hauchte ich fast in seinem Mund.
Carlos drückte seine Hand fester auf meinen Schoß. Er lächelte traurig, was ihn noch anziehender für mich machte.
„Auf den Fotos siehst du wirklich wie ein Graf aus.“ Der Karlmarxer schwenkte die Kamera über den Tisch. „Und so verloren. Seht doch mal!“, rief er in die Runde, „wie er dasitzt. Steif. Gestriegelt. Gebügelt.“
„Allein“, flüsterte ich, „so allein. Wie ich.“
„Und wie ich“, sagte Rudi, „sind wir nicht alle irgendwie allein?“
„Meine Mutter ist eine strenge und schöne blonde Frau.“ Carlos strich zärtlich mit seinen Finger über das Foto seiner schönen blonden strengen Mutter. „Und mein Vater ein schöner und strenger, nun schon alter, Mann. Er will mich sehen.“
„Wirst du fahren?“ Ich meinte spüren zu können, wie es in Carlos arbeitete. Er hatte seine Eltern seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Bestimmt hatte er Sehnsucht. Sein Vater war alt und krank. „Dich mit ihm aussöhnen?“
„Würde ich gern. Ja. Aber Margaretha will nicht. Sie könne nicht heucheln, sagt sie.“
„Das kann ich gut verstehen.“ Ach ja. Margaretha. Die hatte ich doch glatt vergessen. Ich stand auf und betrachtete die im südländischen Stil bemalten Wände. „Herrliche Palmen habt ihr hier“, spottete ich, „Meer. Weißen Strand. Immer Urlaub.“

Carlos stand ebenfalls auf, verstaute die Alben wieder im Schrank und verschwand. Die Party ging weiter.
Save The Last Dance For Me.

*

Irgendwann saß ich wieder auf meinem Stuhl, dachte an Carlos und mein Unglück und heftiges Mitleid mit mir selbst erfasste mich.
„Carlos“, murmelte ich vor mich hin, „nur heute, nur heute sollst du mich lieben. Nur einmal.“
Es war verrückt und es war beschämend. Aber in mir war nur noch dieser Gedanke. Und das ohne eine Spur Vollmond. Schuld daran war bestimmt der Joint. Oder der Wein. Oder beides. Oder nichts davon. Ich kicherte vor mich hin. Es war einfach der Mann Carlos.
„Komm endlich! Verdammter Kerl!“ Ich sprang von meinem Stuhl. Setzte mich sofort wieder. Sprang wieder auf.
„Komm endlich!“
Und, als hätte Carlos mein heimliches Rufen gehört, meine sehnsüchtigen Gedanken erraten, kam er zurück, drückte mich auf die Couch, die schon lange leer war. Die Gäste waren wahrscheinlich in der Küche. Hatten bestimmt immer noch Hunger. Margaretha hatte den leeren Nudeltopf schon vor einigen Minuten vom Tisch genommen.
„Schau mal hier.“ Carlos hielt mir ein grünes Kügelchen vor die Nase. „Hasch. Pures Hasch. Indisch Gold. Ganz frisch. Nur für dich.“
Indisch Gold. Schöner Name. Ja. Klang jedenfalls gut. Indisch. Gold. Bereitwillig nahm ich das Kügelchen und schnupperte.
„Riecht gut“, stellte ich sachlich fest. "Aber wieso frisch? Auf dem Bakon sind doch nur Blüten."
"Einige Samen sind schön dabei", sagte Carlos. „Einen Moment. Ich schließe mal kurz die Tür ab.“
Mir wurde siedendheiß. Carlos wollte die Tür abschließen? Das konnte nur eines bedeuten. Er wollte es auch. Jetzt. Hier. Auf der Couch. Die Magie funktionierte. Es war soweit.
„Und die anderen?“, fragte ich vorsichtshalber.
„Die wissen dann, was abgeht.“
Aha. Also war es bestimmt nicht das erste Mal, dass so etwas abging. Wer nicht gestört werden wollte, schloss einfach die Tür ab. Mir sollte es recht sein. Ich war heiß. Ich war Begehren.

Carlos schloss die Tür ab und legte sich zu mir auf die Couch. „Mund auf!“, verlangte er, „Augen zu!“
Ich machte den Mund auf. Schloss die Augen. Wartete auf weitere Befehle. Die folgten auf der Stelle.
„Slip aus!“
Ich zog den Slip aus, warf ihn auf den Boden.
„Beine anziehen!“
Bereitwillig zog ich meine Beine bis zur Brust.
„Wunderschön“, stöhnte Carlos, „was für ein Anblick!“
Carlos kniete sich zwischen meine angezogenen Beine, streichelte meine Brüste, deren Nippel sich mehr und mehr aufrichteten.
„Augen auf!“ verlangte er.
Ich sah Carlos an, der mich mit seinen Blicken fast auffraß. Er hatte das Kügelchen in seinem Mund, schob es auf seiner Zungenspitze genüsslich hin und her, bevor er es in meinen Mund gleiten ließ.
Carlos Küsse waren heiß und innig. Seine Hände zärtlich, fordernd. Fast schwerelos drückte ich meinen Unterleib Carlos entgegen. Tell Laura I Love Her. Sein unterdrücktes Stöhnen vermischte sich mit meinen leisen Seufzern.
„Fick mich. Fick mich doch endlich!“, schrie ich, als seine Brührungen mich fast in den Wahnsinn getrieben hatten. „Mach schon! Du Sadist!“

*

Nach einiger Zeit nahm ich wie durch Nebel wahr, dass sich der Raum wieder gefüllt hatte. Da musste ja Carlos die Tür aufgeschlossen haben, ohne dass ich es bemerkt hatte. Alle lachten, tanzten, tranken, haschten, koksten, küssten. Ich lag noch immer mit angewinkelten Beinen auf der Couch. Carlos kniete noch immer oder schon wieder dazwischen. Lustvoll spürte ich seine Küsse, seinen heißen Atem und schwamm selig auf einer Welle des Glücks.
„Ich zeige dir was.“ Carlos glitt vorsichtig aus mir heraus. Nahm den Slip von der Erde. Zog ihn über meine Hüften. Stellte mich auf meine wackeligen Füße. „Es war wunderbar“, sagte er, „es war toll. Vielleicht können wir nachher weitermachen?“
„Immer wieder gern“, hauchte ich benommen, „du bist auch echt gut.“
Der alte Schrank in der Ecke neben dem Fenster wackelte auf mich zu.
„Das ist ein Sesamöffnedichschrank“, sagte Carlos beiläufig, „und diese zwei Steinkrüge“, erklärte er stolz, während seine Hände zärtlich darüber glitten wie eben noch über meinen Körper, „habe ich selbst aus den Tiefen des Meeres geborgen. Sie sind Jahrhunderte alt. Auch dieses seltene Gestein. Und diese Muscheln.“

Gebannt starrte ich auf Carlos geöffnete Hände. Vorsintflutliches, absonderliches Meeresgetier bewegte sich darauf, kroch auf unsichtbaren Wegen im Schneckentempo auf mich zu. Eines nach dem anderen. Drehte sich im Kreis. Wurde größer und größer. Glänzender. Bunter. Marschierte an mir vorüber, wie Soldaten bei einer Parade, verschwand in umgedrehter Reihenfolge wieder im Schrank, dessen Türen sich wie durch Zauberhand öffneten und schlossen. Ein Stückchen Papier wirbelte durch den Raum direkt vor meine Füße. Schnell hob ich es auf. Da verwandelte es sich in einen schwarzen Stein. Glänzend wie echtes Gold.
„Es ist ein Glücksstein“, sagte Carlos, „wenn du ihn in dein Portemonnaie legst, wird es nie mehr leer sein.“
„Und warum hast du dann kein Geld?“
„Weil man so einen Stein geschenkt bekommen muss.“
„Aha“, scherzte ich, „da könnte ich ihn dir ja wieder zurückschenken.“
„Das würde auch nichts nutzen.“

In der Ecke neben der Couch prangte noch ein außergewöhnliches Stück. Ein alter echter Haremsstuhl. Bezogen mit rotem Samt. Verziert mit Gold und Elfenbein. So stand er da in seiner Pracht.
„So richtig wohl fühle ich mich hier nicht.“ Der Stuhl schob sein Lehnenmaul hin und her. „Ich habe schon glanzvollere Zeiten erlebt. Ich gehöre in ein Museum. Auf glänzendem Parkett müsste ich stehen. In einem großen prunkvollen Raum. Und unzählige Kronleuchterkerzen müssten auf mich herabstrahlen. Alte Meister mir zulächeln. Von goldgeschmückten Wänden. Und Menschen, die ehrfurchtsvoll in Latschen über das Parkett schlurfen, dürften mich bestaunen. Das wäre ein Leben, das mir geziemte. Aber so.“ Der vernachlässigte Stuhl schloss traurig sein Maul.
„Wenn der Kuckuckskleber kommt“, sagte Carlos, „verstecken wir diesen Haremsstuhl immer unter einem großen Wäscheberg.“
„Warum denn das?“
„Er ist überaus wertvoll“, lächelte Carlos, „und unser einziges Vermögen.“
„Und jetzt?“
„Jetzt machen wir es uns wieder auf dem Sofa gemütlich.“

*

Als wir uns eine Verschnaufpause gönnten, sah ich mich vorsichtig um. Niemand kümmerte sich um Carlos und mich. Überall im Raum hatten sich Pärchen gebildet, die miteinander beschäftigt waren. Bunte Kleider, bestickte Jeans, durchlöcherte Hemden, Kunstblumen, Strumpfhosen, Schuhe aller Art lagen in einem chaotischen Durcheinander verstreut auf dem braunen Dielenboden. Einige Doppelpärchen entblößten sich gegenseitig. Andere waren zärtlich ineinander verschlungen. Auf dem breiten Bett tummelten sich laut stöhnend vier nackte Männer. Die alte graue Katze war nirgends zu sehen. Zwei nackte Frauen streichelten sich gegenseitig. Ein dicker Mann tobte ächzend und schwitzend auf einer kleinen dünnen Frau auf dem Boden. Stakkato. Stakkato.
Dieses unwirklich anmutende Bild umhüllte eine dumpfige Hitze. Die Glut eines animalischen Feuers. Erfüllt von leisen Schreien, brünstigem Jammer, dem schmatzenden Geräusch feuchter Küsse, gieriger Körper, der Phrenesie animalischer Wollust, vermischt mit den rockigen Klängen der Musik.
Only The Lonely. Eine Sechtzigerjahre Party eben. Oder wie man sie sich vorstellte. Drugs and Rock'n Roll. Echt geil.

Von der Anneliese und Helli und Rudi entdeckte ich keine Spur. Auch nicht von Margaretha und dem Karlmarxer. Er würde uns doch wohl nicht heimlich filmen?
Abrupt stieg ich von Carlos runter. Er hielt mich fest. „Nicht“, bat er, „wir waren doch gerade so schön in Fahrt.
„Lass mich“, stammelte ich, „ich muss Will anrufen.“
„Hier ist noch was zu essen!“ Margaretha kam wieder mit dem Riesentopf aus der Küche. „Milchnudeln!“, rief sie, „Milchnudeln! Wer will Milchnudeln?“
Wer wollte jetzt Milchnudeln? Jetzt, wo jeder mit jedem beschäftigt war?
„Iiihhh“, lallte ich, „Milchnudeljnn. Wo ist denn hier das Telefonn. Meine Batterie ist hin. Ich muss Will anrufen.“

***


Fortsetzung folgt
 

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