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Das Ritual/Kapitel 27

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©  rosmarin   
   
27. Kapitel
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„Hab keine Angst. Bleib’ ruhig“, versuchte ich die Situation zu meistern. „Der Kerl wird dir nichts tun. Du kannst ja hexen.“
Heimlich drehte ich den Ring der Hexe Vanessa an meinem Finger. Nichts tat sich. Mir wurde immer unheimlicher. Woher kam der Kerl? Eingestiegen sein konnte er ja nicht. Alle Türen waren verschlossen und verriegelt. War dieser Kerl real? Oder eine widerliche Ausgeburt meiner aufgeputschten Fantasie?
Verunsichert schauten meine Augen aus einem bleichen Gesicht aus dem Glas des Spiegels. Schienen heller und heller, größer und größer zu werden, bis sie sich in der Helligkeit des Spiegels verloren.
Der Mann stand genau hinter mir. Starrte wie ich in den Spiegel. Legte langsam seine übergroßen Hände um meinen Hals. Fasziniert schaute ich zu. Gleich würde er zudrücken. Gleich. Dann wäre ich mich los.
„Nein!“, versuchte ich laut zu schreien. Brachte jedoch nur ein heiseres Krächzen zustande. „Neinnn!“
„Hast du auch was zu melden?“, amüsierte sich der Kerl mit heiserer Säuferstimme. „Du suchst doch die Lust im Fleische.“
Sein Gesicht war ganz dicht an meinem. Unangenehmer Schnapsatem umnebelte meine Sinne. Nahm mir fast die Luft zum Atmen in dem engen Gehäuse. Die dicke feuchte Hand des Kerls kroch wie eine Nacktschnecke unter meinen schwarzen Mini, eine Hand, die wusste, wohin sie wollte, eine Hand, die nicht locker ließ, eine Hand, die mich zu Stein erstarren ließ, eine Hand, vor der mich wahnsinnig gruselte.

Plötzlich fiel es mir wie die berühmten Schuppen von den Augen. Diese Hand. Diese dicke, fleischige, unbarmherzige Hand gehörte nicht dem Fremden im Fahrstuhl. Nein! Sie gehörte dem Hohepriester.

*

Wehrlos lag ich auf dem schwarzen Stein. Dem umgedrehten schwarzen Kreuz auf dem Friedhof hinter der Ruine, in der ich in dem Keller Luzifer begegnet war. Spürte die Kühle der Nachtluft. Zitterte. War nackt.
Gespenstisch wippten die kahlen Bäume über dunklen Gräbern. Der Mond war verschwunden. Der Gesang verebbt. Die tanzenden Gestalten in der Bewegung erstarrt.
„Ein Bastard soll nicht in die Versammlung des Herrn aufgenommen werden; auch seine Nachkommenschaft bis ins zehnte Glied soll nicht in die Gemeinde des Herrn kommen.“ (fünftes Buch Moses, 23;2)
Der Hohepriester schritt langsam auf mich zu. Legte seine Hand auf meine Stirn. Murmelte:
„Geist der bösen Kleinen komm heraus. Verlasse diesen sündigen Leib. Diese abscheuliche Hülle. Lege dein Gelübde ab, dein Diener zu sein.“ Er salbte meinen nackten Körper, wickelte mich in weißes Linnen, hielt mich der wartenden Menge entgegen. „Lasset die Kindlein zu mir kommen“, sagte er mit dröhnender Stimme, „denn durch sie ist das Königreich der Hölle.“
Die Menge antwortete im Chor:
„Gepriesen sei Satan. Denn er ist der Herr über alles. Er ist der Herrscher der Finsternis. Verdammt sei Gott. Denn er ist der Herr über nichts.“
Der Hohepriester brachte mich zurück zum Altar, befahl mir, aus dem Becher zu trinken, den er mir hinhielt. Und gehorsam tat ich, was der Hohepriester von mir verlangte und trank den Becher in einem Zug leer.

All dies war mir geschehen. Mir! Nicht Isis. Nicht Lilith. Mir. Mir ganz allein. Ich hatte es verdrängt. Musste es verdrängen, um damit leben zu können.
Der Priester hatte diabolisch gelächelt. Das Leinentuch geöffnet. Mich wohlgefällig betrachtet, hielt plötzlich einen blinkenden Dolch in der Hand, eröffnete das teuflische Ritual.
Oh, Gott! Wie sollte ich mit dieser grausigen Erkenntnis weiterleben?

Am ganze Leibe zitternd schaute ich in den Spiegel. Wie auf Befehl erschien Liliths schönes Gesicht. Füllte den Spiegel mit seinem Glanz.
„Du oder sie“, knurrte der Kerl.
"Ich sagte ich", und drückte meine Lippen auf Liliths. "Ich."
Der Kerl hob mich auf seine breiten Schenkel. Drückte mich grinsend an die dem Spiegel gegenüberliegende Fahrstuhlwand.
Ich wollte Lilith im Spiegel sehen. Schließlich opferte ich mich für sie. Sie musste mir helfen, dieses Ungetüm loszuwerden. Doch die mächtige Gestalt des Kerls verdeckte den Spiegel.
Keuchend, schwitzend, stöhnend erreichte der Kerl sein Ziel. In meinem Leib brannte Höllenfeuer. Ich wehrte mich nicht. Ich opferte mich. Lilith hatte mich zur Erkenntnis geführt. Ich musste durch die Hölle. Um endlich das Licht zu sehen.
Die wuchtigen Stöße des Verrückten schienen kein Ende nehmen zu wollen. Raubten mir fast die Besinnung. Blut brauste mir in den Ohren. Vor meinen Augen tanzten Feuerblitze. Ich krallte meine Hände in die krausen Haare des Mannes. Schrie. Glaubte, entzweigerissen zu werden. Schrie und schrie.
„Halts Maul!“ Der Kerl ließ von mir. Stellte mich auf meine Füße. „Sonst musst du noch mal“, drohte er, noch immer wild keuchend.
„Na los doch, du Schlappschwanz“, machte ich meinem unbändigen Zorn Luft. „Wenn du kannst! Mistkerl!“
„Hat dir also gefallen kleine Hexe!“, dröhnte der Kerl. „Ich hab viel Kraft.“

Zu meinem eigenen Entsetzen geriet auch ich in Fahrt. Genoss wollüstig das Ungeheuer in meinem Schoß. Kostete unsere Geilheit laut stöhnend aus. Grauen wurde zur perversen Lust. Angst und Widerwillen zur Befreiung. Die kräftigen Lenden zur Geborgenheit.
Der Mann ging etwas in die Knie, um mir mehr Halt zu geben. Einen Moment Ruhe zu gönnen.
Mein schwarzer Slip lag auf dem Boden des Fahrstuhles. Ich saß mit hoch gerutschtem Rock auf den kräftigen Lenden des Kerls, der vor Wollust glühte und mich bestimmt gleich wieder an die Wand nageln würde. Ich musste zur Tat schreiten. Zog den Kerl auf den schmutzigen Boden, auf dem er zufrieden grunzte und seine fleischigen Arme verlangend nach mir ausstreckte.
"Komm, du kleines Biest", knurrte er, "die wahre Lust liegt im Fleische."
"Wie wahr", war ich einverstanden, schob meinen Mini bis zur Taille, mein Top über meine Brust und schwang mich mit einem Aufschrei auf die Lüsternheit dieses widerlichen Kerls.
Verrückt! Verrückt! Ich hatte ihn in der Hand. Er war das Opfer. Nicht ich. Ich ritt ihn. Ritt ihn wie eine Furie.
Im Spiegel erschien Lilihts schöne Gestalt. Gehüllt in einen durchsichtigen roten Schleier. Umkringelt von ihrem langen roten Haar. Ihre Wangen waren gerötet. Von ihren Ohren hingen Ketten aus Ägypten und dem Schmuck der ganzen Welt.

Wenn der Tor erwacht ist, hatte sie einmal gesagt, und meint, nun könne er sich wieder mit ihr vergnügen, entledigt sie sich ihres Schmuckes, verwandelt sich in eine kraftvolle Gestalt, steht dem Mann gegenüber, angetan mit einem feurigen Gewand aus Flammen und lässt Körper und Seele erzittern.

Liliths Augen waren groß und hell. In ihren Händen hielt sie ein scharfes Schwert. Tropfen fielen von ihm herab. Wie bittere Tränen. Gleich würde sie den Mann töten und ihn dann mitten in die Hölle werfen.

Unverhofft erklang die Sethmusik. Wie lange hatte ich sie nicht mehr gehört. Es schien mir eine Ewigkeit. Aus der Ewigkeit wuchs der Augenblick. Und aus dem Augenblick die Sehnsucht.
Langsam löste ich mich von dem Mann, der keine Anstalten machte, mich zu halten, glitt leicht wie eine Feder auf den Boden des Fahrstuhls. Tanzte.

*

Ich tanzte zu der ungewöhnlich geheimnisvollen Musik. Mein Körper schien sich ohne mein Zutun zu bewegen, verschmolz im Rhythmus dieser lieblichen Töne. Immer machtvoller erklang die Musik, mysteriöser, magischer. Meine Hände glitten über meinen Körper. Berührten meine vollen Brüste. Kreisten um die rosigen Warzen. Streichelten meinen Bauch. Verharrten zwischen den Schenkeln. Streiften mein kurzes rotes Hemd herunter, griffen in mein langes rotes Haar. Berührten sanft mein Ohr. Anmutig neigte ich meinen Kopf und tanzte einen imaginären Schleiertanz. Immer schneller drehte ich mich im Kreis. Schneller. Wilder. Sehnsüchtiger. Bald hatte ich alles um mich herum vergessen. Ergab mich willig der Musik. Zärtlich und leidenschaftlich. Mein Körper wand sich schlangengleich im Rhythmus der verzaubernden Musik. Mir schien, als würde ich zu den im Nebel der Zeit verborgenen Inseln des Glücks tanzen und ein süßes Ziehen erfasste all meine Sinne.

*

Plötzlich erstarrte ich in der Bewegung.

„Jetzt!“, hatte Lilith mit ihrer süßen Stimme gefordert. „Jetzt!“

Wie in Trance ging ich zu dem Mann, der an der dem Spiegel gegenüber liegenden Wand lehnte und mich fasziniert anstarrte. Provozierend bückte ich mich, in der Hoffnung, mein nackter Po würde ihn vollends um den Verstand bringen, hob meinen schwarzen Mantel von der Erde, zog ihn an, tastete mit einer Hand nach dem Buschmesser in meiner Manteltasche, krallte die andere in das schwarze Haar des Fremden, stieß zu. Vor meinen Augen das hämisch grinsende Gesicht des Hohen Priesters mit seiner roten Wollkutte und dem eingestickten schwarzen Kreuz auf dem Rücken.

Mein Mantel umhüllte uns wie eine schwarze Nacht. Symbolisch gesehen. Denn mir war, als würde ich nach einer unendlich langen schwarzen Nacht aus tiefster Dunkelheit erwachen.
„Räche dich!“, hatte Seth gefordert und nicht Ricardo gemeint.
Mit einem Aufschrei stieß ich dem Kerl das Messer in seinen muskulösen Bauch. Ein dicker Strahl dunkelroten Blutes schoss wie eine Fontäne heraus. Regnete fast zärtlich auf uns herab. Bespritzte den Spiegel. Die Wände. Den Boden. Tauchte den kleinen Raum in loderndes Rot.

Fassungslos starrte der Kerl mich an. Zu Tode erschrocken warf er seine Arme, mit denen er sich an der Wand abstützen wollte, ruckartig in die Höhe. Brüllte wie am Spieß: „Bist du wahnsinnig! Du geiles Biest! Ich bringe dich um!“
„Erst bist du dran“, sagte ich ruhig. „Du hast es verdient, du gewalttätiges Schwein.“
Mit beiden Händen zog ich das Messer aus der Wunde. Stach nochmals zu. Und nochmals. Endlich brach der Kerl kraftlos zusammen. Versuchte, mit den Händen seinen Bauch zusammenzudrücken. Vergeblich. Das Messer steckte wie Liliths Dolch in dem weißen warmen Fleisch. Berauscht starrte ich in die Wunde. In der geheimnisvoll rotschwarzen Öffnung bewegten sich die Gedärme wie bösartige Schlangen, kriechend, zuckend, unlösbar ineinander verschlungen.
Hysterisch auflachend schaute ich in den Spiegel. Lilith war verschwunden. Statt ihrer füllte sich der Spiegel langsam mit Ricardos Gestalt. Entsetzt blickte ich in sein lächelndes Gesicht. Auf einen Brief in seiner rechten Hand. Einen Brief mit dem Briefkopf der Deutschen Botschaft in Afrika.
Was sollte das?

Der Ricardotraum, den ich kurze Zeit nach seinem Verschwinden geträumt hatte, erschien mit aller Deutlichkeit vor meinem inneren Auge. Mit Details, an die ich mich in meinem ersten Traum nicht erinnern konnte.

„Das ist der letzte Kuss“, hörte ich Ricardo sagen mit seiner ganz normalen Stimme, als würde er sagen: ‚Vergiss die Zigaretten nicht. Und das Bier’. „Ich verlasse dich. Du bist meiner nicht wert. Dich werden immer alle verlassen.“
„Liebe mich“, bettelte ich, liebe mich.“
„Aber sicher liebe ich dich, sicher. Ich liebe dich so, wie ich dich noch nie geliebt habe.“

“Ich habe mich verändert”, sagte ich in Ricardos lächelndes Gesicht. “Und dich vergessen. Will ist mein Mann.”

„Ich liebe dich, nein, ficke dich, jetzt ein letztes Mal.“
Grob griff Ricardo in mein Haar, drückte mich gewaltsam auf die feuchte Erde, nestelte an seiner Jeans. Voll Ekel spürte ich sein Glied an meinem Mund.
„Ich will nicht!“
„Dann in das andere Löchlein. Her damit“, lachte Ricardo höhnisch. „Du prüdes Ding! Dich werde ich jetzt mal so richtig durchrammeln.“
Ich wollte schreien. Doch kein Laut kam über meine Lippen. Ich wollte mich wehren. Doch ich war wie erstarrt. Als hätte ich eine Droge genommen, die alle Muskeln lähmt, aber die Sinne übersensibilisiert, war ich nicht in der Lage, etwas zu tun. Konnte nur stillhalten. Und während ich mich völlig willenlos ergab, wandelte sich das Entsetzen zu meinem Entsetzen in Lust. Ich wünschte, Ricardo ewig so in mir zu spüren. Wild. Brutal. Ungestüm.
Ein unbekanntes Feuer verbrannte meinen Unterleib. Die Starre wich von mir. Ich entspannte mich, kam Ricardo sogar entgegen. Umschlang seine Hüften mit meinen Beinen, suchte seinen Mund, gierte nach seiner Zunge, schrie sinnlose Worte, steigerte mich von einer Ekstase in die nächste, wand mich unter Ricardos Händen, den immer hektischer werdenden Stößen, drehte mich auf den Bauch, verging in nie gekannter Wollust.
„Liebe mich“, bettelte ich. „Liebe mich.“
„Aber sicher doch.“ Ricardo krallte seine Finger fester in mein Haar, zog meinen Kopf nach hinten. „Du geiles Weib. So gefällst du mir.“ Mit einem Aufschrei stieß er noch einmal tief in mich hinein, sagte dann eiskalt: „Schade, dass du nicht so geil warst, als wir zusammen waren.“
Abrupt hatte mich Ricardo von sich gestoßen, war laut lachend mit Riesenschritten über die Wiese in den nahen Wald gelaufen.

“Es war nur ein Traum”, sagte Ricardo. “Denk an den Brief.”

Überlautes Gelächter erfüllte den Raum. Ricardo verschwand. Und mit ihm der geheimnisvolle Brief.

Lilith erschien in all ihrer Pracht.
„Komm, nimm ihn hin, den Kuss des Todes“, sagte sie und spitzte auffordernd ihre vollen Lippen.
Wie in Trance drückte ich meine Lippen auf Liliths im Spiegel.

Asche zu Asche
Vom Leben zum Tode
Dir gehört der erbarmungswürdige Leib
Mir aber gehört die Seele.

Der erbarmungswürdige Leib. Ach ja, der Verrückte. Er lag da in seinem Blut. Röchelte. Lebte. Ich wollte nicht mehr töten. Mich nicht mehr rächen. Das Dunkel meiner Vergangenheit war nicht mehr schwarz. Teilchen um Teilchen fügte sich zu einem Mosaik. Ich wollte nach Hause. In Ruhe über alles nachdenken. Den Schlüssel finden. Und Will sollte mir dabei helfen. Wer sonst.
In einem Anflug von Barmherzigkeit suchte ich mein Handy, wählte die 112, zog das Messer aus der Wunde des Mannes, ließ es fallen, drückte panisch auf alle Knöpfe. Der Fahrstuhl hielt nicht. Keine Tür ging auf. Ich drückte die drei. Die Tür öffnete sich im dritten Stock. Ich drückte auf E. Der Fahrstuhl flog nach unten. Die Tür ging auf. Der Fremde lag da in seinem Blut. Lilith im Spiegel war verschwunden. Der Spiegel leuchtete rot. Erleichtert wankte ich aus dem Fahrstuhl.

Entkommen...

***

Fortsetzung folgt
 

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