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Das Ritual/ Kapitel 28 und Schluss

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©  rosmarin   
   
28. Kapitel und Schluss
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Die Nacht war noch dunkler geworden. Der Vollmond versteckte sich noch immer listig hinter den Wolken. Nur ab und an ließ er sich blicken.
Lange stand ich da, schaute in den Himmel, wartete. Worauf? Auf Lilith? Die gab es nur im Spiegel. Auf Horus und Seth? Isis? Hirngespinste. Auf Ricardo? Vielleicht. Alles Blödsinn.
Ich wartete auf Will. Wo blieb der nur so lange? So weit weg hatten wir das Auto ja nun auch nicht geparkt. Ich musste ihm unbedingt erzählen, was passiert war. Musste zurück.
Will sollte bestätigen oder ausschließen, was passiert war. Die Feuerwehr müsste auch längst hier sein. Ich hatte sie doch gerufen?
Da erschien der Vollmond. Überstrahlte alles mit seinem Glanz. Stieß seine unheilvollen Energien tief in mich hinein. Verwandelte mein Denken. Mein Fühlen.
Panisch lief ich zurück. Fand den Fahrstuhl wie ich ihn verlassen hatte. Keine Menschenseele war zu sehen. Nur der Mann lag da in seinem Blut. Mit weit aufgerissenen starren Augen, die aus den Höhlen getreten waren. Röchelte:
„Äh… , ääähhh … „
Lilith erschien im Spiegel.
„Das Messer“, mahnte sie, „das Andenken.“
„Danke!“
Das Messer lag auf der Erde. Blutbesudelt. Scharf. Schnell hob ich es auf, säbelte mir das Andenken ab. Im Spiegel erschien Ricardo, schwenkte das geheimnisvolle Blatt Papier. Das Andenken fiel auf den Boden, das Messer ebenfalls. Lautes Gelächter erfüllte den Raum. Der Spiegel wurde schwarz. Ich rannte nach draußen. Direkt in Wills Arme.
„Ich habe deinen Mantel von hinten wehen sehen“, sagte er. „Was treibst du nur so lange. Was ist denn?“

Vollkommen aufgewühlt erzählte ich Will die Fahrstuhlgeschichte.
„Hier, siehst du? Das Blut! Das Blut!“, schrie ich und hielt ihm zum Beweis meine Hände entgegen, „es geht nicht ab! Ich habe ihn umgebracht! Und nicht nur ihn! Auch Manfred, den Mann! Und Otto! Ich habe sie alle umgebracht. Wo ist mein Messer? Oh, Gott, ich habe es im Fahrstuhl liegen lassen!“

Ich riss mich von Will, an den ich mich weinend geklammert hatte, los. Wollte zurückrennen. Das Messer holen. Das Beweisstück.
Will rannte hinter mir her, holte mich ein, hielt mich fest, schleppte mich gewaltsam zum Auto.
„Ich sehe kein Blut“, sagte er, „beruhige dich. Alles ist in Ordnung. Wir fahren jetzt nach Hause. Du schläfst dich schön aus. Morgen sieht die Welt schon anders aus.“

Diese Allgemeinplätze! Diese Floskeln. Will glaubte mir nicht!

Morgen. Immer wieder würde sich der Vollmond mit seinem Licht in die verborgensten Tiefen der Finsternis stehlen. Ich mein Fenster offen lassen. Er stummer Zeuge meiner absonderlichen Lieben sein. Beschützer dieser Lieben. Und Schatten in Gedanken verwandeln mit seinem Licht.

Ja. Morgen…

„Ich habe sie umgebracht“, wimmerte ich, „ich habe sie alle umgebracht.“
„Red doch keinen Unsinn“, wurde Will ungeduldig. „Komm zu dir. Du hast niemand umgebracht.“
„Ich kann sie beeinflussen“, ließ ich mich nicht beirren, „ich muss sie vor mir schützen.“
„Du bist überarbeitet.“ Will legte zärtlich den Gurt um mich. Erschöpft legte ich meinen Kopf an seine Schulter. Wir fuhren los.
Noch lange rieb ich meine Hände an dem dünnen Stoff des Mantels, in der Hoffnung, das Blut abzuwischen.
„Alles wird gut“, versuchte Will mich zu trösten. „Ich werde mich mehr um dich kümmern.“
„Ja“, hauchte ich.

Ich konnte ihm doch nicht sagen, dass ich die Menschen vor meinen Anwandlungen schützen müsse. Besonders in den Vollmondnächten. Dass ich ein zweites Ich habe, das mir böse Dinge einflüstert. Dass ich Macht über die Menschen habe, sobald der Vollmond erwacht. Wie Lilith Macht über mich. Dass ich sogar hexen kann und das Theater im Theater kein Zufall gewesen war. Dass ich den Skandal provoziert hatte mit Hilfe der Hexe Vanessa. Und ich konnte ihm auch nicht von Lilith im Spiegel erzählen. Von Seth, meinem Nachtgemahl. Von Horus, dem Vampir. Von der ägyptischen Wildkatze, in die ich mich verwandelt hatte. Nein. Unmöglich. Er würde denken, ich sei verrückt.

*

„Alles in Ordnung?“, fragte Will, kaum, dass wir in meiner Wohnung waren.
„Alles in Ordnung“, erwiderte ich mit klarem Kopf, als hätte es den Vorfall im Theater und im Fahrstuhl nie gegeben.
Verwundert sah ich auf meine Hände. Kein Blut war zu sehen.
„Wir trinken noch ein Gläschen Wein“, rief Will aus der Küche. „Ich öffne schon mal eine Flasche.“
Ich ging ins Wohnzimmer. Mein Blick fiel auf den Computer. Auf dem Bildschirm tanzten Schmetterlinge. Auf dem Schreibtisch lag meine fertige Doktorarbeit. Daneben stand ein Glas Wasser. Keine abgesäbelten Penisandenken mit Dragulazähnen schwammen darin.

Alles ist ganz normal, wunderte ich mich. Bestimmt habe ich all die schrecklichen Dinge nur geträumt.

Unter dem Fuß des Computers sah ich etwas leuchten. Ein Stück Papier. Weg damit. Behutsam zog ich es hervor. Und erstarrte. Es war ein Brief. Der Brief, mit dem Ricardo im Glas des Spiegels im Fahrstuhl gewinkt hatte. Wie kam er hierher? Mein Herz begann heftig zu klopfen. Zaghaft nahm ich den Brief in die Hand. Las: Konsulats der Deutschen Botschaft in Afrika:

- ... müssen wir Ihnen zu unserem Bedauern mitteilen, dass Ihr Ehemann Ricardo in der Nacht 2011 bei einem Selbstversuch mit dem von ihm entwickelten Impfstoff gegen Malaria tropica, verursacht durch den Erreger Plasmodium falciparum, ums Leben gekommen ist. Wir versichern Sie, dass ...

Vor meinen Augen tanzten Feuerblitze. Ricardo! Nein! Das durfte nicht sein! In Windeseile spulten sich alle Szenen der letzten Monate im Telegrammstil vor meinem geistigen Auge ab. Alles um mich her versank in einem gleißenden Licht.

Die Wahrheit liegt hinter dem Licht.

Ich bin Crescentia die Wachsende ich bin die Märtyrerin die heilige Crescentia die Amme des heiligen Veit ich bin die Goldblume ich gehe zurück zurück in die Zeit
zurück zurück...

Nur Gott ist vollkommen Gott ist das Licht... Gotteslicht...


***


In einem weißen Zimmer in einem weißen Bett in einem weißen Hemd erwachte ich und wusste sofort:
Das ist das weiße Nichts, das die Hexe Vanessa prophezeit hatte, das weiße Nichts, in dem ich nun lange Zeit leben würde.
In dem weißen Nichts saß Will. Ganz in Weiß. Auf einem weißen Stuhl. Besorgt hielt er meine Hand. Auf dem weißen Nachttisch nahe meines Kopfes prangte als einziger Farbtupfer ein feuerroter Rosenstrauß in einer hohen Glasvase.
Ein Herr ganz in Weiß betrat leise das Zimmer.
„Na, da wären wir ja wieder“, begrüßte er mich.

*

In den nächsten Wochen erzählte ich Frau Globus, meiner Therapeutin, meine ganze verrückt anmutende Geschichte. Doch ich war nicht verrückt. Auch nicht schizophren, wie sich herausstellte. Ich war eine multiple, also eine dissoziale, Persönlichkeit.

„Du hast in deiner frühen Kindheit in dem Kloster Schreckliches erlebt“, sagte Will, mit dem ich Hand in Hand auf einer Bank im Garten der Reha saß, „so Schreckliches, dass du nur damit leben konntest, indem du es verdrängt und dich abgespalten hast.“
„In mehrere Ichs“, stimmte ich zu. „Und mein zweites Ich war natürlich Liliht, die Regie führte, wenn mir das Leben zu schwer erschien.“
„Logisch“, sagte Will, „weil du gerade über das Thema geschrieben hast.“
„Und die anderen Personen habe ich gerufen, wenn ich sie brauchte.“
Schweigend saßen wir da. Die Sonne war am Untergehen. Tauchte den Himmel in glühendes Rot.
„Und als du den Brief von der Afrikanischen Botschaft gelesen hast“; nahm Will den Faden wieder auf, „konntest du nur weiterleben, indem du Ricardos Tod nicht wahrhaben wolltest.“
„Frau Globus sagte“, sagte ich, „dass durch diese erneute existentielle Krise, in der ich mich nun befand, all das Verdrängte aus der Kindheit aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche gelangt ist.“
„Du musst Furchtbares durchgemacht haben“, sagte Will mitfühlend. „All die Schauergeschichten, die du mir erzählt hast, müssen sich in ähnlicher Form in deiner Vergangenheit abgespielt haben.“
„Nicht ganz“, widersprach ich, „vieles habe ich in meinen Träumen und Albträumen verarbeitet.“
„Übrigens“, sagte Will, „die Polizei hat den Friedhof hinter dem Kloster gefunden. Die Satanssekte soll es noch immer geben. Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren.“
„Und ich werde aussagen“, sagte ich. „Wir haben ja gute Anwälte."

*

Vor meinem geistigen Auge erschien Liliths schönes Gesicht. Lächelnd vernahm ich ihre beschwörenden Worte:
Asche zu Asche.
Vom Leben zum Tode.
Dir gehört der erbarmungswürdige Leib.
Mir aber gehört die Seele.

Leises Lachen erfüllte das Bad. Lilith verschwand wie ein Spuk. Der Spiegel war ein Spiegel.



Die Wahrheit liegt hinter dem Licht.


***
 

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