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Der Anarchist

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©  rosmarin   
   
Nach einer wahren Begebenheit zur Erinnerung an einen verstorbenen Freund

Berlin Ost 1968

"Dich werden wir umerziehen! Du arbeitsscheues Subjekt!" Die Polizisten zerrten Max von seiner Ecke in die Grüne Minna. "Und mit Rias hören ist auch Schluss!"
Max war darüber nicht sonderlich erstaunt. Irgendwie hatte er es erwartet. Wenn er es richtig bedachte, sogar herausgefordert.
Das System von Macht und Gehorsam funktionierte reibungslos. Doch bei jedem noch so perfekt geschmierten Räderwerk fällt hier und da ein Sandkorn ins Getriebe. Und in diesem Falle war er das Sandkorn. Er. Max. Jedenfalls fühlte er sich so, denn er brach die ehernen Regeln der Diktatur; er begehrte auf. Und zwar öffentlich. Er trug bunte Hemden, lange rote Haare und stand stundenlang mit seiner Kofferheule an den Ecken der Straßen herum und tat nichts. Gar nichts. Er verweigerte sich. Sich und die Arbeit. Und das war strafbar. Jeder Bürger hatte das Recht und besonders die Pflicht, zu arbeiten. So stand es im Gesetzbuch. Und wer sich nicht daran hielt, musste mit Strafe rechnen.

Ein Polizist klemmte Max seine Schraubstockfaust in den Nacken. Zwei andere drehten ihm die Arme auf den Rücken, stießen ihn auf die Hinterbank des Polizeiwagens. Die Türen klappten zu. Der Wagen fuhr los. Max saß eingeklemmt zwischen den zwei Beamten, die kein Wort mehr über ihre Lippen brachten. Auch Max sagte nichts. Er wusste, es wäre zwecklos gewesen, wie auch jeder Widerstand. So schielte er nur aus dem Fenster und erhaschte schnell noch den Blick einer seiner Kumpel, der mit einem hübschen Mädchen am Arm die Straße entlang schlenderte.

Der Wagen hielt vor einer ihm bekannten Polizeiinspektion. Die beiden Polizisten verpassten ihm Handschellen, führten ihn über einen großen leeren Hof in ein rotes Backsteingebäude in ein kahles Zimmer.
"Legen Sie bitte alle Kleider ab", sagte ein riesiger Kerl. "Alle persönlichen Sachen. Ziehen Sie die Gefängniskluft an. Auch die langen Haare müssen ab."
"Armleuchter", murmelte Max, "euch werde ich es zeigen. Für diese Aufmerksamkeit gehe ich gerne in den Knast."
"Stehen Sie nicht so krumm herum und reden hier kein dummes Zeugs!", brüllte der Kerl. "Und nehmen Sie gefälligst die Hände aus den Taschen und Haltung an!"
Max gab sich einen Ruck. Der Kerl stieß ihn einige Treppen hinunter in einen Keller. Vor einer Tür blieben sie stehen. Eine Sekunde später stand Max in einer winzigen Zelle.
So begann ein Sommer, der sich in die Erinnerung von Max einbrannte wie kein anderer.

*

Die Zelle war drei Meter lang und zwei Meter breit. Eine dicke Stahltür diente zum Verschluss. Ein winziges Waschbecken, ein Regal an der Wand, eine Liege und ein Klo ohne Brille und Deckel waren das einzige Inventar. Der vordere, der Sanitärbereich, war durch ein Eisengitter von dem hinteren Raum getrennt. Die Seitenwände grob mit Mörtel verputzt, die Außenwand zur Hälfte aus lichtdurchlässigen Glasbausteinen. Dort stand Max.
Wie ein Tiger im Käfig, dachte er bitter nach drei Tagen Einzelhaft.
Doch im Gegensatz zum Tiger, der in seinem begrenzten Raum wenigstens sitzen und liegen darf, war es ihm verboten, sich auf den Boden zu setzen, zu legen oder an die Wand zu lehnen. Er musste sechzehn Stunden am Tag stehen, durfte nicht ein einziges Schrittchen tun. Und noch einen Unterschied gab es. Ein Tiger bekam ausreichend zu fressen. Er nicht! So ein Arsch von Aufseher legte ihm morgens halb sechs eine Scheibe trockenes Brot in die Luke, nachmittags dann noch eine.
Normalerweise bekamen die Häftlinge in Einzelhaft jeden dritten Tag zur Mittagszeit ein Schüsselchen Suppe. Doch ihn, Max, vergaßen die Schweine.

So stand Max in seiner tristen Gefängniskluft hinter dem Gitter. In der Stahltür war ein winziges Guckloch, durch das er beobachtet wurde. Über der Tür hing ein Scheinwerfer, der ihn stundenlang in grelles Licht tauchte. Bald hatte er nur noch einen einzigen Wunsch: Sich zu setzen, oder zumindest an die Wand zu lehnen. Doch hätte er dies getan, wäre er mit Handschellen an die Gitterstäbe gefesselt worden und somit seiner dürftigen Bewegungsfreiheit beraubt.
Also hielt er aus und blieb stehen.

In dem hinteren Bereich war eine Holzpritsche an der Wand befestigt, tagsüber hochgeklappt und angeschlossen.
Pünktlich 21 Uhr 30 kam ein Aufseher in die Zelle, schloss wortlos die Pritsche herunter und legte eine kratzige Decke darauf.
Während dieser Aktion musste sich Max mit dem Gesicht zur Wand in eine Ecke stellen.
Schon nach den ersten drei Tagen war es ihm unmöglich geworden, den nagenden Hunger zu ignorieren. Die eine Scheibe trockenes Brot, die er am Morgen bekommen, hatte er sich unter qualvollster Selbstdisziplin bis zum Nachmittag aufgeteilt. Doch am vierten Tag aß er die Scheibe schon am Vormittag und die Nachmittagsscheibe am Nachmittag. Nach sieben Tagen schmeckte ihm ein Krumen Brot köstlicher als jeder Kuchen der Welt.
Bei allen Erinnerungen, die Max später quälen sollten, war die des Essens die intensivste. Jeden Krumen behielt er minutenlang in seinem Mund, vermischte ihn mit Speichel, immer darauf bedacht, ihn nicht zu früh hinunter zu schlucken, während lange verdrängte Bilder vor seinem geistigen Auge entstanden.
Was hatte er bei diesem oder jenem Zusammentreffen gegessen? Was wurde ihm bei einem Besuch angeboten? Was gab es auf dieser Party?
Mit dem Essen verbanden sich Gesichter, mit den Gesichtern Geschichten. Die Erinnerungen reichten weit in seine Kindheit. Er schmeckte den Kuchen, den seine Oma gebacken, atmete den Duft der Gerichte, die seine Mutter so liebevoll zubereitet hatte. Er hatte immer gern und viel und genussvoll gegessen, verabscheute, etwas Essbares auf dem Teller zu lassen. Doch hatte es auch solche Situationen gegeben. Jetzt bereute er sie. Denn jetzt war es ihm unmöglich, sich das Gefühl des Sattseins vorzustellen. Ja, er konnte nicht einmal glauben, jemals richtig satt gewesen zu sein. Seine Träume und Wünsche für die Zukunft - sollte es jemals eine für ihn geben - drehten sich ausschließlich ums Essen.
"Es wird einen Wursttag geben", murmelte er euphorisch vor sich hin. "Alle Wurstsorten, die es gibt, werde ich auf einem riesigen Tisch vor mir aufbauen. Ich werde sie lange betrachten, ihren Geruch einsaugen, und dann, nach und nach, schön langsam und genüsslich, über den Tag verteilt, verzehren. Einen Käsetag soll es geben, einen Fleischtag und, natürlich einen Kuchentag."
Stundenlang träumte Max von den ungewöhnlichsten Zeremonien, die er veranstalten wollte, während duftende Schwaden herrlichster Bratensoße durch die Zelle zogen und er plötzlich Hühnerfleisch in seinem Mund schmeckte.

Jeden Morgen und jeden Abend wurde das Trenngitter für einige Minuten geöffnet und Max durfte sich waschen. Da es ein modernes Gefängnis war, sogar warm. So pumpte er sich bei dieser Gelegenheit den Magen voll heißen Wassers, das ihm ein Gefühl der Fülle täuschte und seinen zeternden Magen für einige Momente beruhigte.
Und dann, eines Tages geschah etwas, womit Max nie gerechnet hatte.
Wie immer wurde er alle drei oder vier Tage aus der Zelle geholt. Ein Aufseher jagte ihn mit gellenden Kommandos einen langen Gang entlang, an dessen Ende sich eine kleine Kammer befand und darin ein Waschbecken. Auf dem Rand des Beckens lag Rasierzeug, mit dem er sich unter Aufsicht des Aufsehers und des Kalfaktors rasieren musste. Diesmal entfernte sich der Aufseher einige Schritte und beobachtete ihn nicht wie sonst. Diesen Augenblick nutzte der Kalfaktor.
"Nimm", flüsterte er, trat nah an ihn heran und steckte ihm flugs etwas in die Hosentasche.
In seiner Zelle griff Max vorsichtig hinein und zog ein Stück Leberwurst hervor. Ein unglaubliches Glücksgefühl durchströmte ihn. Ganz langsam aß er, wie die Krumen des Brotes, Teilchen für Teilchen diese kostbare Leberwurst. Es war ein Sonntag.
"Nun habe ich auch mein Sonntagsessen", freute er sich überglücklich und schämte sich nicht der Tränen, die über seine Wangen liefen.

Die Tage in der Zelle schienen Max endlos. Es gab nur ihn. So wurde er schon bald sein eigenes Objekt. Er dachte und fühlte so konzentriert, so deutlich und so tief wie nie zuvor in seinem Leben. Manchmal sang er leise vor sich hin, obwohl auch singen streng verboten war. Er sang alle Bob Dylan - Songs, die er kannte, viele Stunden lang, spielte Filmszenen nach, schlüpfte in die Rolle des Mädchenmörders und des Kommissars, spielte einen zackigen deutschen Oberst und einen melancholisch souveränen Gunfighter, einen einsamen verbitterten Rock’N’Roll Star oder einen brummigen, warmherzigen Hausmeister. So verging die Zeit.
Eines Tages bemerkte er, dass der Fensterkitt, der in den breiten Ritzen zwischen den Glasbausteinen haftete, ziemlich weich war. Er pulte etwas heraus, formte eine kleine Kugel und betupfte damit vorsichtig die Fläche eines Glasbausteins. Ein feiner Kittfilm bildete sich. Darüber zog er mit seinem Fingernagel einen schmalen Strich, der in dem entgegen fallenden Lichtstrahl gut sichtbar war. Nun hatte er eine Möglichkeit zum Malen und Schreiben gefunden und verbrachte in den folgenden Tagen viel Zeit mit dieser wunderbaren Entdeckung.
Immer neue Kugeln und Kügelchen mussten geformt, angepasst, verworfen und eingelegt werden. Endlich war das Bild fertig. Paul McCartney und George Harrison waren bestens gelungen. Überrascht und erfreut über seinen Erfolg gestaltete Max Bettler, Cowboys, Musikanten, Tänzerinnen, Feen und viele bekannte Märchengestalten.
Dann begann er zu schreiben, vor allem Gedichte. Erst wenn zur Mittagszeit die Essenkübel klapperten war es mit seiner Konzentration vorbei. Er spürte den Hunger mit einem schmerzenden, beißenden, quälenden Verlangen. Danach kamen Momente dumpfer Übelkeit.
"Dieser verdammte Hunger frisst meine Seele", wütete er. "Ich muss mich ablenken. Ich muss!"
So klopfte er zaghaft an seine Instinkte; kratzte größere Mengen Kitt aus den Ritzen und formte, etwas zaghaft noch, dann immer hektischer, ein weibliches Geschlechtsteil, bohrte seinen rechten Zeigefinger in den Kitt, öffnete mit der anderen Hand seine Hose und massierte sein zur Entbehrung gezwungenes Glied, immer mit einem Ohr zum Gang.
Und schon bald war es soweit.
Für einen kurzen süßbitteren Augenblick vergaß Max die Zelle, den Hunger, den Aufseher. Der Druck löste sich. Dann war der Rausch vorbei.
Wieder spürte Max die Kälte, die Krallen des Hungers, die unendliche Verlassenheit. Die Einsamkeit des Einzelgängers. Und maßlose Verzweiflung ergriff ihn mehr denn je.

Nach einndzwanzig Tagen kam ein Aufseher in die Zelle.
"Feg den Boden!", herrschte er Max an und drückte ihm einen groben Besen in die Hand. "Dalli, dalli!"
Danach hetzte er ihn über unzählige lange Gänge über den Hof zu der Station, in der die Politisch Gefangenen einsaßen.
"Wir heben was zu Fressen für dich auf Max!", grölten die Gefangenen aus den vergitterten Fenstern. "Halte durch! Lass dich nicht kleinkriegen!"
Der Aufseher führte Max zu einem Offizier, der in einem tiefen Ledersessel in seinem Büro saß.
"Sind Sie nun gewillt, zu arbeiten Steiner?", fragte der Offizier freundlich. "Sie sehen doch, Ihre Bockigkeit bringt gar nichts."
"Nein", erwiderte Max leise, "niemals werde ich für euch arbeiten."
"Seien Sie doch vernünftig Steiner." Der Offizier erhob sich schwerfällig. "Denken Sie doch mal an Ihre Mutter. Sie ist Leiterin eines bekannten Kulturhauses, Mitglied unserer Partei, der SED, und Sie bereiten ihr so großen Kummer. Wenn Sie schon kein vollwertiges Mitglied unserer sozialistischen Gesellschaft sein wollen, arbeiten Sie doch wenigstens hier."
Max schwieg verstockt, obwohl er wusste, dass ihm nun wieder einundzwanzig Tage Hungerarrest bevorstanden, er sich wieder, wie jeden Abend, auf die Holzpritsche legen, seine dünne Gefängnisjacke als Kopfkissen, sich mit der lausigen Decke zudecken, vom Essen träumen, sich selbst befriedigen und erschöpft einschlafen würde.

*

Eines Nachmittags kam Jesus in Max‘ Zelle. Es war wie ein Licht in der Dunkelheit. Max weinte den ganzen Abend; er weinte über sein eigenes trauriges Wissen, das er von frühester Kindheit in sich trug.
Es gibt für die Menschen auf dieser Erde keine andere Möglichkeit, als sich gegenseitig zu bekriegen, aufzufressen, zu vernichten, war er sicher.
Übermächtig fühlte er den uralten sich ständig wiederholenden Prozess des lebendigen Seins. Leben in jeglicher Form bestünde aus Gegensatz, hatte er gelesen. Und das bedeute Krieg.
Er, Max, wusste, weshalb er in dieser Zelle stand. Seine Wächter wussten es nicht. Diese Faschisten. Er aber war ein Anarchist. Mutig vertrat er die Idee einer herrschaftsfreien, gewaltlosen Gesellschaft, in der die Menschen ohne politischen Zwang, ohne Herrschaft, gleichberechtigt und ohne Standesunterschiede miteinander leben und sich so frei entfalten könnten. Er war ein Leidender. Ein Suchender, der keinen Feind brauchte, der den Frieden liebte und von sanfter Natur war. Doch die Menschen bedrängten ihn, wurden so zwangsläufig zu seinem Hassobjekt. Hier drinnen waren es die Aufseher, die Offiziere, draußen andere Kreaturen. Ihm blieb nur der Kampf der Verweigerung.
Max weinte bitterlich über den kleinen Max, der in dieser verfluchten Zelle so hungern und leiden musste. Den kleinen Max, den seine Mutter liebevoll schützend in die Arme genommen und der nun dem grausamen Gemetzel des Lebens schutzlos ausgeliefert war. Max weinte aus Mitleid mit sich selbst, aus Rührung und Dankbarkeit, denn ein Licht ganz tief in ihm drin verhieß Hoffnung.

Am sechsten Tag lehnte sich Max an die Wand; er rutschte tiefer und tiefer und setzte sich endlich auf den nackten Boden, träumte vom Meer, von Reisen in ferne Länder. Und plötzlich erblickte er zwei Frauen mit wunderschönen Gesichtern. Das konnten nur Frauen aus russischen Märchen sein. Wahrscheinlich aus russischen Märchenfilmen. Lächelnd reichten die Frauen Max ihre Hände und führten ihn in einen von der Abendsonne rot überfluteten Wald.
Max' Füße waren leicht, sein Herz warm und in seinem Kopf erklang eine unbeschreiblich herrlich sinfonische Musik.
Die wunderschönen Frauen stiegen mit ihm fast schwebend auf einen Berg. Als sie den Gipfel erreicht hatten, blieben sie stehen. Die Frauen schauten in den Himmel, dessen dunstweiße Wolken die Spitze des Berges sanft zu berühren schienen. Doch er, Max, sah voller Entsetzen in einen Abgrund, in dessen Tiefe sich riesige grüne Ratten im Schlamm wälzten, bedrohlich ihre schmutzigen scharfen Zähne fletschten, fette, schweinshäutige Köter mit bösen gelben Augen hämisch zu ihm aufblickten und unzählige schleimige, Gift spritzende Schlangen sich ihm entgegen ringelten.
Das Unzeug zischte, bellte, spukte aus der Tiefe in die Höhe.
Doch trotz des anfänglichen Entsetzens verspürte Max keine Angst. Vertrauensvoll drückte er die Hände der Frauen und fühlte sich wundersam geborgen.
Plötzlich waren die wunderschönen Frauen verschwunden. Auch die Sonne war nicht mehr zu sehen. Die Musik nicht mehr zu hören. Nur Nacht umgab Max. Tiefschwarze Nacht. Und ein eisiger Wind schlug ihm ins Gesicht.
Voll Grauen stürzte er in bodenlose Tiefe.

Als Max zu sich kam, waren seine Hände mit Handschellen an das Gitter gekettet. Da fing er an zu schreien. Er schrie und schrie. Er konnte gar nicht mehr aufhören zu schreien. Da stürmten die Höllenhunde in seine Zelle. Sie brüllten und schlugen ihm die Fäuste in die Seiten, packten ihn und schleiften ihn ins Krankenzimmer.
Ein Arzt verpasste ihm eine Spritze zur Beruhigung.
Wieder in der Zelle verweigerte Max das Brot. Er sprach nicht, sah niemanden an, dachte nichts, fühlte nichts, war nicht mehr.
Er stand einfach nur da.

Nach drei Wochen wurde Max in den Westen abgeschoben. Da gehörten sie hin. Die Anarchisten. Die Verweigerer.


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