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Die Entscheidung - 9. Kapitel der "Französischen Liebschaften"

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© Michael Kuss   
   
9. Kapitel der Französischen Liebschaften: "Die Entscheidung".
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Susanne lebte in einer recht komfortablen aber unauffälligen Wohnung im zweiten Stock des Sechsten Pariser Bezirks. Eine angesagte Wohngegend für Gutsituierte und bei Mietpreisen, die eigentlich über dem Verdienstniveau einfacher Botschaftssekretärinnen liegt. Laut Topmaier war Susanne meine Kontaktperson. Aber als ich mich mit Susanne zum ersten Mal in ihrer Wohnung verabredete, war kaum die Rede von Topmaier oder meinen Sonderaufgaben. Susanne hatte ein Abendessen vorbereitet, es gab reichlich Wein, wir flirteten und noch vor dem Nachtisch war ich hinter Susannes Stuhl getreten und hatte ohne Vorrede meine Hände fordernd und deutlich um ihre Brüste gelegt.
„Du hast es aber eilig!“ Susanne lächelte. „Gefalle ich dir?“
„Du bist eine aufregende Frau. Und ich bin scharf auf dich! Und du weißt es!“ Ich probierte es erst überhaupt nicht mit dem üblichen Liebesgesäusel, sondern ging gleich auf mein Ziel los. Susanne war aufgestanden und ich ließ meine Hände über die Rundungen ihres Hinterns gleiten.
„Gefalle ich dir wirklich?“ fragte Susanne noch einmal. „Trotz meiner üppigen Formen? Oder stehst du auf runden Frauen?“
„Du bist ein geiles Luder!“ antwortete ich und drückte meinen Unterleib deutlich gegen ihren Hintern. Unsere verbale Kommunikation beim Thema Sex blieb direkt und rational. In Paris hatte ich gelernt, ohne Brimborium und ohne lange Vorreden das Ziel anzusteuern.
Susanne bevorzugte Analverkehr nicht nur mit mir, sondern mit Männern generell. „Nur Frauen und am liebsten Lisa dürfen an meine Muschi heran!“ erklärte Susanne ruhig lächelnd mit einer frappierenden Offenheit. Mit dieser Offenheit konnten wir beide gut leben. Ich habe nie herausgefunden, ob Susanne es sowieso gerne bunt trieb und generell vom Sex nicht genug bekommen konnte, oder ob ihre Großzügigkeit mir gegenüber gezielt mit ihrem politischen Auftrag zu tun hatte. Für diese Erkenntnis war unsere Beziehung zeitlich leider viel zu kurz. Uns beiden war aber klar, dass sie mich besser bei der Stange hielt, solange ich meine Stange bei ihr benutzen durfte. Denn neben unserer sexuellen Offenheit war die Geschichte drumherum eine geheimnisvolle Angelegenheit.
Noch in der gleichen Nacht, zwischen zweitem Orgasmus und zweiter Zigarette, kam Susanne auf die eigentlichen Fragen zu sprechen: „Du brauchst doch einen Reisepass?!“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. „Ja!“ sagte ich. „Aber Topmaier verlangt einen ziemlich hohen Preis...!“
„Topmaier redet viel, wenn der Tag lang ist!“ sagte Susanne eine Spur zu abfällig, um glaubhaft zu wirken. „Kümmere dich nicht um ihn! Wichtig ist für dich erst einmal, einen gültigen Pass zu bekommen! Und für Pässe bin ICH auf der Botschaft zuständig!“ Ich glaubte Susanne zwar nicht ihre abfällige Äußerung über Topmaier, denn in der Befehlshierarchie stand sie vermutlich nicht über ihm. Trotzdem fragte ich: „Und wie soll das ablaufen? Ich stehe doch sicher im Fahndungsbuch und habe Passsperre?!“
„Lass das meine Sorge sein! Besorge dir einfach Passfotos und lass dir vom Standesamt deiner Geburtsstadt eine Geburtsurkunde schicken. Die kostet sieben Mark; leg‘ einfach einen Zehnmarkschein in den Brief. Dann kommst du zu den üblichen Sprechzeiten zu mir auf die Botschaft in die Konsularabteilung. Den Rest erledige ich! Mach dir keine Sorgen! Du bist doch kein Verbrecher! Sondern ein anständiger Kerl! Oder?“ Susanne schaute mich herausfordernd an.
Zwei Wochen später hatte ich meine Geburtsurkunde vom Standesamt meiner Heimatstadt bekommen und einen Tag danach einen neuen Pass auf meinen Namen in der Hand. Gültig mit Stempel und Unterschrift, gültig für zehn Jahre. Weltweit!
Topmaiers Anruf ließ nicht lange auf sich warten. Zwei Tage später bestelle er mich ins Reisebüro und dort begann er umständlich das Gespräch: „Mein lieber Freund, das Leben besteht nun einmal aus Interessenlagen und innerhalb dieser Interessenlagen aus Geben und Nehmen…“
„Ja, und?!“ fragte ich kurz. Warum quatschte er solange herum? Jetzt wollte ich Klarheit haben.
„Nun, Sie haben vom deutschen Staat etwas bekommen, was Ihnen eigentlich nicht zusteht. Und Sie sollten sich überlegen, ob Sie jetzt nicht eine Gegenleistung erbringen könnten, die uns allen hilft. Eine Hand wäscht die andere…! Und denken Sie daran: Wir haben Ihnen gegenüber eine gewaltige Vorleistung erbracht!“
„Sie denken jetzt bestimmt ans Vaterland?!“ sagte ich süffisant.
„Richtig!“ sagte Topmaier. „Ans Vaterland! Ich wusste, dass Sie ein kluger junger Mann sind!“ Dann setzte er hinzu: „Und ein vernünftiger…!“
„Wie sehen die Einzelheiten aus?“ fragte ich ohne Umschweife. Warum sollte ich mich auf gesalbte Sonntagsreden einlassen; schließlich hatte ich einen Vollprofi vor mir. Da konnte ich das Gespräch auch abkürzen und gleichzeitig Selbstbewusstsein demonstrieren.
„Gut!“ sagte Topmaier. „Ich sehe, Sie sind für klare Verhältnisse!“ Er sah mich an. „Dann nehmen Sie mal Platz! Ich werde Ihnen Ihre Aufgaben erst einmal in groben Zügen erklären...“
Topmaier fasste zusammen: „Sie wissen, dass dieser Cohn-Bendit aus Frankreich ausgewiesen wurde, aber jetzt in Deutschland agiert. Zum Beispiel trifft er sich mit anderen linken Terroristen im Frankfurter Club Voltaire und mit Hausbesetzern im Frankfurter Westend. Zu dieser Gruppe gehört auch ein Typ namens Joschka Fischer. Sie, lieber Stehauf, werden also ab und zu nach Frankfurt reisen, sich dort unter die Linken mischen und die Ohren offen halten…“
„Ich? Ich soll nach Deutschland…?“
„Aber ja! Sie haben doch jetzt einen gültigen, ordnungsgemäßen Pass. Meine Dienststelle wird dafür sorgen, dass Sie unbehelligt bleiben…“
„Ihr Wort in Gottes Ohr…!“
„Sie können sich auf uns verlassen! Ihnen wird nichts passieren! Wir brauchen Sie noch hier in Frankreich!“
„Aha...!“ sagte ich nur und wartete dass Topmaier weiterredete.
„Wir wissen, dass Cohn-Bendit noch intensive Kontakte nach Paris hat und trotz De Gaulles Landesverweis nach Frankreich zurückkommen möchte, was hier neue Unruhen schaffen wird. Das würde dann brennend unsere französischen Kollegen interessieren, mit denen wir fruchtbar und auf Gegenseitigkeit zusammenarbeiten. Sie verstehen…?!“
„Sie wissen, dass ich keine Verbindung mehr zu diesen Gruppen habe?!“
„Dann sollten Sie diese Verbindungen schnell wieder herstellen, mein lieber Freund! Denn DAS hatte ich Ihnen bereits aufgetragen!“ Topmaiers Stimme hatte ihre gutmütige Sachlichkeit verloren und wurde beinahe drohend.
Nach einer Kunstpause wechselte er das Thema: „Und zu den anderen Personen: Diese Beate Klarsfeld hat nicht nur einen französischen Juden geheiratet, der Jagd auf angebliche deutsche Altnazis macht, die im Ausland untergetaucht sein sollen, aber in Wirklichkeit handelt es sich um deutsche Patrioten. Die Klarsfeld hat auch den deutschen Bundeskanzler Kiesinger auf dem CDU-Parteitag in Berlin geohrfeigt und bringt auch sonst gewaltig die deutsch-französischen Beziehungen durcheinander. Dieses ganze linke Pack muss lückenlos überwacht werden! Frieden und Freiheit stehen auf dem Spiel! Sie verstehen…?!"
Ich liebte hin und wieder das kleine Abenteuer, solange es überschaubar und kalkulierbar blieb. Vielleicht war ich gelegentlich zum Fatalisten, aber nicht zum leichtsinnigen Hasardeur geworden. Mit ziemlich ausgeprägtem Bauchgefühl erkannte ich, wann eine Nummer für mich zu groß wurde. Denn ich wollte einfach nur einigermaßen ruhig in Frankreich leben, aber mich in keine gefährlichen Geschichten verwickeln lassen. Weder von der einen, noch von der anderen Seite. So groß war meine Eitelkeit nun auch wieder nicht, um sie durch risikoreiche Aktionen zu befriedigen. Außerdem stimmten Topmaiers Anschuldigungen gegen Cohn-Bendit und Beate Klarsfeld nicht. Der rote Daniel war höchstens ein revolutionäres Großmaul und ein grandioser Theoretiker, aber sicher kein Terrorist. Und Beate hatte ich zwar als verbissene Nazi-Jägerin, aber sonst als freundliche und umgängliche junge Idealistin kennengelernt, die sich vehement für Gerechtigkeit einsetzt. Da gab es in Paris ganz andere Deutsche, die man hätte beobachten müssen. Beispielsweise alte Nazis, die nach dem Krieg schon seit Jahren von der deutschen Botschaft gedeckt wurden. Ich musste also auf Zeit spielen, um hier nicht zwischen die Fronten zu geraten. Denn Topmaiers tiefschwarze CSU-Ansichten mit brauner Tendenz waren mir auch nicht geheuer. Jetzt kam es auf jede unbedachte Äußerung an.
"Haben die Klarsfeld oder Cohn-Bendit denn schon irgendwelche terroristische Akte vorgenommen?" Ich versuchte, Zeit zu gewinnen. "Soweit ich weiß, haben Sie rebelliert und demonstriert, aber von Gewaltanwendung der beiden weiß ich nichts..."
"Vom Aufruf zur Rebellion und Aufruf zur Gewalt, bis zur ANWENDUNG von Gewalt ist es nur ein kurzer Weg! Und Klarsfelds Ohrfeige gegen unseren Bundeskanzler, war das etwa keine Gewalt?" Topmaier ließ keinen Einwand gelten. "Wir müssen die Anfänge abwehren! Die beiden und viele ihrer Mitläufer haben langfristig die Abschaffung unserer demokratischen Grundordnung im Sinn. Und das würde in die Anarchie führen! Verstehen Sie?"
„Klingt nachvollziehbar!“ sagte ich zweideutig und scheinbar einsichtig. "Näher betrachtet, scheint das eine interessante Aufgabe zu sein. Trotzdem möchte ich erst noch einmal darüber schlafen! Lassen Sie uns morgen ausführlich über die Einzelheiten sprechen! Das ist alles ein bisschen viel auf einmal!“
„Na sehen Sie, es klickt bei Ihnen!“ sagte Topmaier fast versöhnlich. „Aber warten Sie nicht zu lange!“ Er hatte wieder einen warnenden Unterton in seine Worte gepackt. "Ihre Auswahlmöglichkeiten sind nicht besonders groß. Nutzen Sie Ihre Chance!“ drohte er. „Sie wären dumm, sie nicht zu nutzen! Ich kann sie jederzeit nach Deutschland ausweisen lassen!"
„Sie hören morgen von mir!“ Ich bemühte mich, ruhig und überzeugend zu wirken. „Ich werde mir Gedanken machen und Ihnen morgen konkrete Vorschläge unterbreiten, wie ich meine Chancen sehe und wie ich in den Gruppen wieder Fuß fassen kann!“
Nachdenklich fuhr ich mit der Metro in meine Absteige zurück und fasste einen schnellen Entschluss. Topmaier hatte von "Freiheit" gesprochen. Aber wir hatten wohl beide einen unterschiedlichen Freiheitsbegriff und Topmaier hatte keine Ahnung, was ich zum Erhalt meiner Freiheit alles tun oder aufgeben konnte. Noch am gleichen Abend packte ich meine beiden Koffer, verabschiedete mich mit einem wehleidigen Blick von meinem kleinen Hotel am Montmartre und verließ Paris mit dem letzten Nachtzug. Als der Zug anfuhr und langsam die Gare de Lyon verließ, überkam mich eine befreiende Ruhe. Gelöst streckte ich die Beine aus und sah freudig und neugierig Marseille und dem Mittelmeer entgegen.
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Dies war ein Auszug aus
Michael Kuss
FRANZÖSISCHE LIEBSCHAFTEN.
Unmoralische Unterhaltungsgeschichten.
Romanerzählung.
Fünfte überarbeitete Neuauflage 2013
ISBN 078-3-8334-4116-5.
14,90 Euro.
Als Print-Ausgabe und als E-Book erhältlich in den deutschsprachigen Ländern, in Großbritannien, USA und Kanada.
Im Web: www.edition-kussmanuskripte.de
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Auch hier bei Webstories: Französische Liebschaften (10): "Unter Huren und Legionären".
 

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