... für Leser und Schreiber.  

Kalte Duschen - 14. Kapitel der "Französischen Liebschaften"

291
291 Stimmen
   
© Michael Kuss   
   
14. Kapitel der Französischen Liebschaften: "Kalte Duschen".
*
Ich bemerkte sie durch den Tüllvorhang an der Schaufensterscheibe. Sie betrachtete den Aushang der Speisekarte, zögerte, ging weiter und kam zurück, griff in die Tasche, holte Münzen heraus und zählte sie. Sie war etwa Achtzehn, hatte eine Reisetasche und einen gerollten Schlafsack umhängen. Ihre langen schwarzen Haare hingen ihr ungepflegt wild über die Schultern und umrahmten ein ebenmäßiges Gesicht mit dunklen Augen und einer Puppennase zwischen einer hohen Stirn und geschwungenen, vollen und leicht trotzig wirkenden Lippen.
Madame Van Moolen hatte sich mit ihrem Liebhaber schon zurückgezogen. Nebenan war es still und ich konnte es riskieren. Doch bevor ich mich entschlossen hatte, das Mädchen herein zu bitten, kam es bereits durch die Tür.
“Was kostet eine kleine Portion Fritten?” fragte sie in Englisch. Ihre Stimme war schüchtern und nicht sehr fest und die Schüchternheit wollte nicht recht zu den ausgeprägten reifen Gesichtszügen passen.
“Wie groß ist denn dein Hunger?” Mit einem Lächeln versuchte ich freundlich zu sein und verständnisvoll zu wirken. Ich sah jetzt ihre ausgetretenen Schuhe und den langen, glockenartigen Rock aus indischem Samt. Als sie nicht antwortete, sagte ich “Du kannst auch mehr als nur Fritten haben!”
“Nur eine Portion Fritten!”
“Komm‘ und setz’ dich erst einmal!” Ich deutete auf einen Tisch. Sie zögerte und sagte: ”I havn’t got enough money!”
“Setz dich, bitte!” Mit meiner Hand auf ihrem Rücken schob ich sie an den Tisch. Sie setzte sich halb auf den Stuhl, beide Beine nach außen gewinkelt. “Mach‘ dir keine Gedanken wegen dem Geld!” sagte ich beruhigend. Endlich kam ein Lächeln auf ihr Gesicht. Das Mädchen gefiel mir und ich hatte Sehnsucht nach Zärtlichkeit. Nach dem Frust der letzten Wochen sich endlich wieder einmal fallen lassen, das wäre schon ein Glückstreffer. Warum sollte das Glück nicht auch mich wieder einmal treffen?!
Schließlich hatte sie sich für Hähnchen mit Fritten und Salat entschieden; ihr Hunger war unverkennbar. Wir sprachen wenig. Sie kam aus Wales und hatte im letzten Jahr in London gelebt. Jetzt war sie unterwegs “...in die Sonne!” Ich fragte wenig und sie erzählte scheibchenweise. „Ich kenne dieses Leben auf der Straße, wir sind ja auch nur vier oder fünf Jahre im Alter auseinander“, erklärte ich. „Bin genau wie du on the road. Das Hotel gehört mir nicht, ich arbeite nur hier!“ Dann schloss ich den Haupteingang ab, schaltete die Außenbeleuchtung aus und brachte Shirley in mein Zimmer. “Du kannst in meinem Bett schlafen! Ich nehme später den Schlafsack und schlafe auf dem Fußboden. Muss noch mal runter und ein bisschen aufräumen! Du kannst ganz beruhigt schlafen!”
“But..., you do want to make love with me!? Isn’t it?” Sie schien nicht beunruhigt; ihre Frage erschien mir eher sachlich.
“Nur wenn du willst...!”
“Ich möchte aber schlafen!”
“Dann schlafe ganz einfach! Kein Problem!”
“Wirklich nicht?”
“Wirklich nicht!”
Sie legte ihre Sachen neben das Bett, holte einen Trainingsanzug aus der Tasche und wartete bis ich das Zimmer verlassen hatte. Als ich unten meine Arbeit erledigt hatte und wieder nach oben kam, schlief sie bereits. Ich wickelte mich in den Schlafsack, legte mich auf den Fußboden, stellte mir das Mädchen in meinen Armen vor und war glücklich, wie sie ruhig in meinem Bett schlief. Morgen werden wir weitersehen. Nichts mit Druck durchziehen! Was nicht freiwillig kommt, kommt nicht von Herzen: daran kann man keinen Spaß haben! Morgen werde ich mit Madame Van Moolen ein paar offene Worte über meine rückständige Bezahlung reden! Weit mehr als zwei Monatslöhne plus Überstunden! Das müsste doch so viel hergeben, dass Shirley erst mal etliche Tage sorgenfrei hier bei mir bleiben könnte.
Doch die Lawine begann zu rollen, ohne dass ich viel dazu beitragen musste. “Du hast eine Hure auf deinem Zimmer. Und du hast sie durchgefüttert! Auf meine Kosten!” Madame hatte mit ihrem Angriff nicht einmal bis zum Frühstück gewartet, als sie, wie eine Vogelscheuche in Lockenwicklern, gegen Morgengrauen an meine Tür polterte. “Ist das Miststück noch drinnen? Dann will ich sie in fünf Minuten nicht mehr sehen! Ist das klar?” Sie rauschte abwärts durchs Treppenhaus. Verschlafen und überrumpelt stolperte ich ihr nach und wollte die Situation erklären. Sie schlug ihre Tür zu, war aber eine Sekunde später wieder draußen: “Und du...! Du kannst gleich mit abzischen! Pack deine Koffer, und dann raus mit euch beiden!” Ich stand auf dem Treppenabsatz, brauchte eine Weile, um Luft zu holen und die Dinge zu ordnen. Ich klopfte an ihre Tür. “Was gibt’s noch?” rief sie von drinnen. “Meinen Lohn!” sagte ich mit fester Stimme. “Zwei Monate mit Überstunden!”
“Waaas willst du? Loohhn? Für was willst du Lohn? Du Scheißer! Sag` mir, für was ich dir auch noch Lohn bezahlen soll? Du hast dich hier wochenlang durchgefressen! Hast dich bei mir eingenistet! Umsonst gewohnt! Jetzt auch noch auf meine Kosten mit einem Flittchen gefickt! Ich stell dir das Hotelzimmer in Rechnung und die ganzen Mahlzeiten, und dann kannst du mal sehen, was unterm Strich übrig bleibt! Deinen Lohn? Mach ja, dass du deine Koffer packst und dann raus mit dir! Sonst hole ich die Polizei! Ich gebe dir und deiner Hure genau zehn Minuten!” Sie drehte sich um und schrie ins Zimmer: “Kapitäään!” Das mickrige Kerlchen kam in einem lächerlichen Nachthemd, das seine krummen Storchenbeine besonders ungünstig zur Geltung brachte. Er legte der Schlampe seine Hand auf den Rücken und musste sich dafür auf die Zehenspitzen stellen. “Beruhige dich!” sagte er zu ihr in Französisch, und zu mir in Englisch: “Es wird jetzt besser sein, wenn Sie nach oben gehen, Ihre Sachen packen und keine Probleme machen!”
Erst wollte ich explodieren. Jetzt ist aber Feierabend! Schluss! Basta! So nicht mit mir! Und von dir Hochstapler schon überhaupt nicht! Aber dann lief in Sekundenschnelle ein Film von Ruhe und Vernunft ab und ich wusste, wie ich mich verhalten muss. “Sie haben Recht!” sagte ich leise, beinahe unterwürfig, mit einer resignierenden Handbewegung. “Es hat ja sowieso keinen Zweck! Ich bin schon so gut wie weg! Packe nur noch meine Koffer! Aber ein paar Francs für eine Fahrkarte könnten Sie mir schon geben!” Ich machte Anstalten zu gehen. “Klopfen Sie noch einmal, bevor Sie weggehen!“ lenkte sie plötzlich ein. „Ein paar Franc werde ich Ihnen schon mit auf den Weg gehen. Bin ja kein Unmensch! Aber nicht unverschämt werden! Nicht unverschämt werden, verstanden?!” Sie folgte dem Gecken in ihre Kombüse und schloss die Tür. Von drinnen hörte ich ihre Stimme. “Ich werde ihm drei Tage zahlen. Das ist mehr als genug! Diese Herumtreiber werden sonst übermütig!”
Sie mussten meine polternden Schritte nach oben gehört haben. Drinnen erklang Radiomusik. Ich schlich zurück in den Schankraum. Das Schloss im Geheimfach hinter der Bierkühlung war für den Schraubenzieher kein Problem. Madame hatte mehr Vertrauen in das Schwarzgeld in der Zigarrenkiste als in ein Bankkonto. Ich nahm sämtliche Geldscheine und stopfte sie ungezählt in die Hose. Nur die Münzen ließ ich liegen. Ich schlich nach oben. Shirley stand angezogen am Treppengeländer, in einer weisen Ahnung hatte sie bereits gepackt und ihr Gepäck neben sich stehen. “Ich bin gefeuert! Wir müssen raus!” erklärte ich kurz angebunden. Sie stellte keine Fragen. Ungeordnet stopfte ich meine Habseligkeiten in die beiden Koffer, den Rest in eine Sporttasche. Wir zwängten uns über die enge Holztreppe nach unten. Die Schlampe und ihr Komödiant standen bereits im Schankraum. Sie breitbeinig und mit einem Baseballschläger bewaffnet. Er hatte sich am Eingang postiert, die Arme entschlossen vor der mickrigen Brust verschränkt. “Das Geld!” befahl sie, hielt eine Hand vorgestreckt und hob mit der anderen den Knüppel.
“Holen Sie doch die Polizei!” sagte ich unbeeindruckt.
“Polizei?! Ich brauche keine Polizei!” Sie ließ den Knüppel auf mich niedersausen. Ich zuckte zur Seite, aber er traf mich halb an der Schulter. Es schmerzte, ich schnellte herum, drehte der Schlampe den Arm auf den Rücken und hatte den Knüppel in der Hand. Sie ging einen Schritt zurück. Der Komödiant kam auf mich zu. “Stehenbleiben!” schrie ich. Die beiden standen tatsächlich wie erstarrt. Shirley war bereits mit ihrem Gepäck an der Tür. “Und jetzt können wir die Polizei holen!” sagte ich entschlossen. “Und dann werden wir über alles reden!”
“Es gibt nichts zu reden!” Die Schlampe wagte sich aus der Deckung hervor. “Du Gauner hast meine Kasse geplündert! Dafür bringe ich dich in den Knast!”
“Was habe ich? Ihre Kasse geplündert? Können Sie das beweisen? Sie haben mir meinen Lohn für zweieinhalb Monate plus Überstunden bezahlt und mich entlassen. Jeder aus der Nachbarschaft und sogar die Polizei weiß, wie lange ich hier gearbeitet habe! Und jetzt bin ich im Begriff zu gehen. Das ist alles!”
Der Komödiant kam einen Schritt nach vorne, aber immer noch im sicheren Abstand. “Machen Sie doch keine Schwierigkeiten!” sagte er. Seine Augen sahen mich flehend an.
“Sie halten sich ganz da heraus!” schrie ich. “Vielleicht sind Sie der Dieb!”
“Aber das ist doch...!” Vor Entrüstung lief sein Gesicht rot an.
“Shut up!” bellte ich, und war über mich selbst verwundert. Ich hatte diese Unverfrorenheit doch nirgends gelernt, niemals hatte ich mich so nachhaltig gewehrt, hatte meistens nur eingesteckt und klein beigegeben. Und wie weit war ich damit gekommen? Diesmal war ich nicht gewillt, klein beizugeben.
“Für dich Gauner wird sich die Polizei zuerst interessieren!” schrie ich. “Aus dem Gefängnis entlassen, aus dem Land gewiesen, vor der Polizei versteckt und hier unter falschem Namen und als falscher Kapitän untergekrochen, sich durchgefressen, und jetzt auch noch Geld stehlen und mich beschuldigen!” Der Kerl zuckte zusammen. Die Schlampe blickte ungläubig von einem zum anderen. Sie gestikulierte mit den Händen, wollte sprechen...
“Sie sind jetzt erst einmal ruhig und hören mir zu! Denn auch für Sie dürfte sich die Polizei interessieren...!” Ich pokerte weiter. Was hatte ich zu verlieren? Eigentlich konnte ich nur noch gewinnen.
“Die Polizei? Für mich? Dass ich nicht lache!" Ihre Stimme klang hysterisch. "Ich habe eine saubere Weste! Seit vielen Jahren führe ich dieses Geschäft! Immer ohne Beanstandung!”
“Der Laden gehört dir überhaupt nicht, sondern deinem Mann...!”
“Der kommt in die Trinkerheilanstalt...!” schrie sie.
“Das ist noch nicht sicher!“ schrie ich zurück. „Und was deine saubere Weste betrifft: Ich zeige dich an! Kuppelei, Steuerhinterziehung, Schwarzarbeit, verstecken eines polizeilich gesuchten Verbrechers, und der Gesundheitsüberwachung werde ich die tiefgefrorenen Ratten in deinem Kühlschrank zeigen! Dann wird dein Laden dicht gemacht! Aber das will ich deinem Mann nicht antun, das arme Schwein tut mir leid, ich werde ihm sagen, er soll dich rausschmeißen und sich wieder selbst um seinen Laden kümmern!” Meine in der Aufregung zusammengesuchten Worte überschlugen sich. Ich hatte in Deutsch gesprochen. Die Holländerin verstand perfekt Deutsch und ließ sich keuchend auf einen Stuhl fallen. Shirley und der Komödiant hatten wahrscheinlich nichts verstanden.
“Come on, let’s go!” rief ich zu Shirley hinüber und die Wirtin blaffte ich an: "Aufschließen!" Ich schnappte meine Koffer, ging an der Schlampe vorbei, den Komödianten noch im Auge behaltend. Keiner der beiden rührte sich, als wir die Kneipe verließen. Dann hörte ich, wie die Holländerin den Kapitän boshaft anschrie.
Wieder schlug ich wie so oft den Weg nach oben Richtung Bahnhof ein. In Marseille gibt es nur zwei Anlaufstellen für Leute unserer Sorte: Der Alte Hafen und der Bahnhof Saint Charles und dazwischen die engen Gassen des arabischen Viertels.
Nach ein paar Schritten kam der Legionär aus einer Hausecke geschlüpft. “Mensch, Kumpel! Wat war denn bei euch los? Ick hab det ja nur halb an der Fensterscheibe mitjekriegt...?!”
“Deine Olle hat mich rausgeschmissen...!”
“Haste lange jenuch den Affen jespielt, wat?!”
“So ungefähr!”
“Hat se dir wenigstens wat bezahlt?”
“Ja!” Ich griff in meine Hosentasche und überflog die Geldbündel. “Hier!” sagte ich und hielt ihm ein paar Scheine hin. “Echt stark!” nuschelte der Legionär. “Bist wirklich’n Kumpel! Hab mir nich in dir jetäuscht!” Er nahm die Scheine, stopfte sie in die Hosentasche und schlug mir die Hand auf die Schulter. “Bist echt’n Kumpel!“
“An deiner Stelle würde ich mit dem Saufen aufhören", sagte ich. "Und deiner Alten mal richtig den Marsch blasen und mich selbst um den Laden kümmern! Aus der Bude kann man eine Goldgrube machen!”
“Hmm! Ja! Sollte ich wohl...!” Er zuckte die Schultern, reichte mir die Hand und schielte anerkennend zu Shirley rüber, die neugierig abseits stand. Dann schlurfte er in entgegengesetzter Richtung davon, am Hotel vorbei, watschelnd wie ein müder Pinguin auf Glatteis.
“Das musst du mir alles mal richtig erklären”, sagte Shirley. “Wer war denn das? Warum hast du ihm Geld gegeben? Ist das ein Freund von dir?”
“Später! Lass uns erst mal ein Hotel und ein Frühstück finden!” Es war ja fast noch Nacht und zwei Stunden Schlaf und ein bisschen Zärtlichkeit und Entspannung würden uns beiden sicher gut tun.
*
“Bist du ein Gangster?” fragte Shirley später im Hotelbett in meinem Arm.
“Ein Gangster?” Ich überlegte einen Moment. “Schon möglich. Aber nur ein kleiner! Und nur so viel, wie ich vom Leben dazu gezwungen werde, um zu überleben!”
„Ja!“ sagte Shirley. „Das ist wahr! Manchmal muss man böse sein. Entweder aus Selbstschutz oder um zu überleben!“ Ich legte meinen Arm um sie. Wir kuschelten uns aneinander und Shirley fragte: "Hast du Kondome?"
Später stand ich auf um zu duschen. Die Etagendusche befand sich am Ende des Flurs. Ich bemerkte, dass ich für den Gaszähler erst unten beim Nachtportier eine Duschmarke holen musste. Ich ging zurück ins Zimmer und holte Kleingeld aus meiner Geldbörse, die ich mit meinen Papieren in der Schublade des Nachtschränkchens versteckt hatte. Shirley war wieder eingeschlafen. Ich beugte mich über ihr Gesicht und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie lächelte entspannt, brummelte zufrieden und drehte sich im Schlaf auf die andere Seite. Unten kaufte ich vier Duschmarken, gleich zwei für Shirley mit; eine ausgiebige Dusche würde uns beiden gut tun. Und dann hinein in den neuen Tag! Frühstücken wie Gott in Frankreich. Und dann sehen, was das Leben ab heute so bringt. Was man mit Shirley auf die Beine stellen kann...?! Der Frühling steht vor der Tür, wir sind am Mittelmeer, ich habe erst mal genug Geld in der Tasche, und das Mädchen ist genau das, was ich jetzt brauche. Als ich frisch geduscht und in ein Handtuch gewickelt zurück ins Zimmer kam, war Shirley nicht da. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich die Situation begriffen hatte. Ich rannte nach unten zum Portier. “Ihre kleine Freundin?” Er klang unbeteiligt und räkelte sich im Drehstuhl. “Sie ist vor ein paar Minuten hier raus. Sie hatte ihr Gepäck dabei!” Er sah mich prüfend an. “Wissen Sie”, meinte er lakonisch, “ich wusste ja, dass das Mädchen nicht wirklich zu Ihnen gehört. War ja nur`n Hippie! Aber nicht schlecht! Immer gut für eine Nacht!” Er grinste.
“Sie hat mein Geld mitgehen lassen!” sagte ich.
“Ach so!” meinte der Portier und nahm die Zeitung wieder in die Hand. “Das ist allerdings Pech!”
“Jetzt stehe ich da, mit fast nichts! Nur noch Kleidung und Pass!”
“Nun!” der Portier war nicht aus der Ruhe zu bringen. “Ihr Zimmer hatten Sie ja im Voraus bezahlt!” Er setzte sich wieder “Wollen Sie die Polizei rufen und eine Anzeige machen?” Ich tat, als überlege ich kurz. “Nein!“ sagte ich. „Was würde das schon bringen?”
“Da haben Sie Recht! Ist mir auch lieber so!” sagte der Portier. In der Hose fand ich noch ein paar Geldmünzen und der Portier hatte mir die beiden Duschmarken eingelöst; es reichte für einen Milchkaffee und ein Croissant.
*
“Wie viel?” fragte der Araber an der Ecke zur Rue St. Dominique. Er deutete auf meinen Bogart-Mantel, den ich aus der Tasche genommen und wie ein Markthändler in die Höhe gehalten hatte. Zwei Araberinnen hatten sich bereits schnatternd über den Inhalt meines Koffers gemacht, wühlten darin herum, hoben drei Hemden hoch. “Wie viel?” Die Klamotten gingen zum Schleuderpreis weg. Die Umstehenden drückten mir einfach kleine Münzen in die Hand, ohne auf meine Einwände zu achten. Zuerst war die Straße fast leer. Ein paar Algerier dösten trotz der Kälte auf den Treppenstufen der verfallenen Häuser, ein Moped raste kreischend durch das enge Gässchen. Sekunden nachdem ich meine Koffer aufs Trottoir gestellt und die ersten Klamotten wortlos angeboten hatte, waren sie wie Ratten aus ihren Löchern geschlüpft, hatten mich umringt, sich meiner Sachen bemächtigt und einen Hungerlohn dafür bezahlt. Nicht einmal ein Zehntel des Neuwertes. Aber irgendwie muss es schließlich weitergehen. Von der Hand in den Mund, und wenigstens bis zum nächsten Tag, zur nächsten Stunde überbrücken…
*
Das Hotel Van Moolen auf dem Weg zum Bahnhof. Der Schankraum war erleuchtet. Erst hatte ich Angst, ging dann aber neugierig und vorsichtig näher heran und lugte durch die Scheibe. Der Australier kroch auf den Knien, neben sich einen Putzeimer: mit einer Bürste scheuerte er den Fußboden. Die Schlampe war im Hintergrund zu erkennen. Immer noch mit Lockenwicklern. Sie bewegte den Mund und schrie etwas zu dem Mann. Ich konnte es nicht verstehen, aber ich erkannte, wie der Kerl zusammenzuckte, sich noch tiefer bückte und seine Hände mit der Bürste über den Boden wieselten.
Im Bahnhofsbistro setzte ich mich an einen Ecktisch, bestellte einen Espresso, und beobachtete den Eingang, als könnte dort die Lösung meiner Probleme oder meine kleine Beischlafdiebin hereinkommen. Langsam musste ich mir etwas einfallen lassen. Ich dachte an Simone. Das alte Mädchen würde sich Hoffnungen machen. Und ich wusste, ich würde duschen, vögeln, essen und dann mich auf und davon machen. Und Zuhälter? Danke! Das Leben hatte sicher Besseres zu bieten. Und muss man das Erstbeste nehmen, nur weil sich im Moment nichts anderes anbietet?
“He, Kumpel! Da biste ja wieder!” Neben mir säuselte die Stimme eines Betrunkenen. Der Legionär ließ sich auf einen Stuhl fallen. “Wo haste denn deine süße kleine Schnecke gelassen?” lallte er. Schwankend griff er in die Tasche, klaubte ein paar Münzen hervor und knallte sie auf den kleinen, runden Tisch.
“Iss ja noch wat übrig...!” lallt er, als sei er selbst darüber erstaunt.
„Ist das der Rest von dem was ich dir vorhin gegeben habe?“ fragte ich fast gleichgültig. Mich konnte kaum noch etwas erschüttern.
„Logisch!“ lallte er. „Man lebt nur einmal!“ Er grinste und rief mit einer schwungvolle Handbewegung zum Kellner: “Einen Kaffee für meinen Freund und ein Bier für mich!“ Seine Augen waren hohl und verloren nach innen gerichtet. Langsam sackte sein Kopf kraftlos auf seinen angewinkelten Arm. Der Kellner brachte die Getränke. “Wecken Sie ihren Freund auf, Monsieur!” sagte er. “Hier wird nicht geschlafen!” Er strich das Kleingeld vom Tisch zusammen und steckte es ein. Der Legionär rülpste. Speichel lief ihm aus dem Mundwinkel, sickerte langsam durch die Bartstoppel und tropfte auf die Tischplatte. Ich ließ ihn sitzen, ging in die Bahnhofshalle und stand hilflos zögernd zwischen Telefonkabine und Fahrplan. Aber ich hatte kaum Geld, um irgendeine Aktivität zu starten. Plötzlich trat ein Mann an mich heran, von dem ich mich schon eine Weile beobachtet fühlte. „Haben Sie Feuer, Monsieur?!“ fragte er wie beiläufig. Ich reichte ihm Streichhölzer. Der Mann hatte manikürte Fingernägel und zwei dicke Siegelringe an den Fingern. Sein schwarzes Haar war pomadig nach hinten gekämmt. Er trug einen sauber gebügelten blaugrauen Anzug mit Krawatte und geputzte Schuhe. Er war so um die Dreißig und sprach schlechtes Französisch mit italienischem Akzent.
„Du suchen Arbeit?“ fragte er und beugte sich vertraulich näher an mich heran.
„Vielleicht! Kommt darauf an...!“ Skeptisch interessiert sah ich ihn an.
„Du sprichst Fremdsprachen?“
„Ja!“ sagte ich. „Englisch, Französisch und Deutsch!“
„Sehr gut!“ Der Italiener schien zufrieden. „Du kannst Auto fahren und hast Permiso?“
„Ja! Sogar für einen Panzer!“
„Nicht schlecht! Und du hast Pass?“
Ich zögerte.
„Also Nein!“ sagte der Mann ruhig.
„Nein!“ sagte ich, um mich nicht festzulegen. Erst einmal sehen, was der Kerl will. Astrein wird es sicher nicht sein. Aber vielleicht hilfreich. In meiner Situation greift man nach fast jedem Strohhalm. Sogar nach Strohalmen, die ein gelackter Italiener in einem Bahnhof in Marseille anbietet…
„Macht nichts!“ Der Mann steckte mir eine Visitenkarte in die Hand. „Das wir können arrangieren! Hier ist Adresse! Ist Bar in der Rue Sainte. Ist unten am Alten Hafen hinter Chinesenviertel. Kommst du um Drei heute Nachmittag! Fragst du nach Georgio! Sagst du, Allessandro hat geschickt. Schlafen du am besten vorher noch ein paar Stunden. Kann sein, dass wir heute Nacht gleich Arbeit für dich!“
„Ich habe kein Hotel!“ sagte ich und fügte zögernd hinzu: „Und auch kein Geld für ein Hotel! Ich hatte ein bisschen Pech in den letzten Tagen!“
„Kapito!“ Allessandro holte einen Bündel Geldscheine aus seiner Hosentasche, blätterte darin herum und steckte mir ein paar Scheine zu. „Kleines Vorschuss! Vertrauen gegen Vertrauen! Du verstehen?“
„Verstehe!“ sagte ich überrascht und verstaute das Geld in der Brusttasche des Parkas.
„Das ich will hoffen!“ sagte Allessandro. Dann war er genauso unauffällig in der Menge verschwunden, wie er aufgetaucht war.
Nur wenige Sekunden später, ich war noch am Staunen und Nachdenken, stand ein anderer Mann von ähnlichem Kaliber neben mir. Er zupfte mich am Arm und flüsterte: „Du pünktlich sein, mein Junge! Drei Uhr! Okay?! Aber keine Dummheiten! Okay?! Sonst…!“ Er hob den Zeigefinger quer zum Hals und machte eine Schnittbewegung.
„Okay!“ sagte ich. „Logisch…!“
Der Mann klopfte mir jovial auf die Schultern, grinste diabolisch, stellte sich gegenüber an den Zeitungskiosk und stierte mit einem ausdruckslosen Pokerface vor sich hin.
Die Bahnhofshalle hatte sich mit Menschen und Leben gefüllt. Lärmend hatte der Alltagsverkehr eingesetzt. Wer genau hinschaute, erkannte zwischen den Berufspendlern auch die Gestrandeten, die herumhingen und nicht mehr weiter wussten, oder auf einen fatalen Wink des Schicksals hofften.
Auf der Toilette zählte ich das Geld. Es könnte für zwei oder drei Tage reichen. Dann ging ich zum Bahnhofsfriseur, Haare schneiden und nachdenken. Soll ich wie der englische Gentleman enden? Oder gar wie der versoffene Ex-Legionär? Welche Möglichkeiten blieben mir noch...?
*
Dies war ein Auszug aus
Michael Kuss
FRANZÖSISCHE LIEBSCHAFTEN.
Unmoralische Unterhaltungsgeschichten.
Romanerzählung.
Überarbeitete Neuauflage 2013
ISBN 078-3-8334-4116-5.
14,90 Euro.
Als Print-Ausgabe und als E-Book erhältlich in den deutschsprachigen Ländern, in Großbritannien, USA und Kanada.
Im Web: www.edition-kussmanuskripte.de
*
Auch hier bei Webstories: Französische Liebschaften (15): "Katharina und der Kiez vom Pigalle".
 

http://www.webstories.cc 19.04.2024 - 13:15:37