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Der Gesprächspartner. Oder: Wie ein zahnloser Zecher in einer Kneipe seinen besten Freund fand

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© Michael Kuss   
   
Keine Ahnung, warum fremde Leute mir oft ungefragt ihr Herz ausschütten. Als sei ich die Briefkastentante einer Regenbogenzeitschrift, die sich jeden Schwachsinn anhört und für alle Wehwehchen eine Lösung aus dem Hut zaubern kann. Aber anscheinend kann ich ganz gut zuhören, obwohl mich das ab und zu in verdammt heikle Situationen bringt...
Neulich saß ich alleine am Tresen einer Kneipe und wollte eigentlich nur die Zeit bis zur nächsten S-Bahn totschlagen. Aber irgendetwas musste einem einsamen Zeitgenossen signalisiert haben, dass ich nur auf ihn als Gesprächspartner gewartet hatte. Jedenfalls klemmte er sich auf den Barhocker neben mir, schaute mich mit einem herzerweichend treuen Hundeblick an, schwieg noch eine Weile, aber als ich den Fehler machte, seinen Blickkontakt zu erwidern, begann aus seinem Mundwerk die Quelle zu sprudeln und wurde zum Wasserfall. Und zwar ohne zu versiegen…
Das Besondere an der Geschichte war nur: Ich verstand kein einziges Wort! Nicht dass der gute Mann eine mir unbekannte Fremdsprache benutzte, nein! Aber offensichtlich hatte er sein Gebiss verlegt, verloren, vergessen oder seine dritten Zähne waren in Reparatur oder er besaß vielleicht keine mehr und musste sich mit einem zahnlosen Mund behelfen. Und aus diesem Mund heraus kam ein unverständliches Genuschel, dagegen war Til Schweiger ein Waisenknabe. Aber mein Tresennachbar trug das Genuschel mit einer solchen Innbrunst und gesundem Selbstbewusstsein vor, dass ich sogar versuchte, den einen oder anderen Zusammenhang seines Gelabers zu erraten.
Vergeblich! Ich verstand nur Bahnhof. Trotzdem quasselte er unbekümmert weiter und sah mich sogar erwartungsvoll und um Zustimmung oder Ablehnung, zumindest um Verständnis heischend an. Denn nun hatte er sich heiß und in Höchstform geredet; seine Augen funkelten, seine Hände gestikulierten, sein Blick tendierte zwischen Anklage, Frage- und Ausrufezeichen. Gemessen an der Intensität seiner Körpersprache musste es ein furchtbares Schicksal sein, von dem er mir da erzählte! Also beschloss ich, so zu tun als ob ich ihn verstehen und auf ihn eingehen würde. Ich unterbrach ihn - wenn er mal kurz Luft holte und mich fragend ansah - mit irgendeiner nichtssagenden Floskel. Ich sagte zum Beispiel in seinen Wortschwall hinein: „Na so was!“ oder „Kaum zu glauben!“ oder „Tatsächlich?!“ oder „Das iss ja’n Ding!“ Jedenfalls schienen meine unverbindlichen Plattitüden an jeder Stelle seiner Geschichte zu passen, denn jedes Mal glänzten seine Augen daraufhin noch mehr, er nickte aufgeregt, schlug bekräftigend mit der Faust auf den Tresen und sein unverständliches Genuschel nahm noch mehr Fahrt auf, immer wieder kurz unterbrochen von meinen flüchtigen Einwürfen, die ihn aber nur dazu veranlassten, unser „Gespräch“ noch eine halbe Stunde fortzusetzen.
Ich weiß nicht mehr wie ich es geschafft hatte, mich dann doch loszueisen; jedenfalls sah er mir bei unserem Abschied dermaßen sehnsuchtsvoll und dankbar nach, dass mich noch tagelang sein Hundeblick verfolgte und ich einige Zeit später – weiß der Kuckuck warum – wieder in der Kneipe landete.
Mein zahnloser Gesprächspartner saß alleine an einem hinteren Tisch – keiner der anderen Stamm-Kneipenhocker hatte anscheinend Interesse, sich mit ihm zu unterhalten -, alle veranstalteten das übliche Kneipentheater; - nur er saß traurig und alleine in einer Ecke und hatte seinen Hundeblick aufgesetzt. Aber kaum hatte er mich bemerkt, stand er auf und war plötzlich wieder neben mir am Tresen.
Ich fragte: „Na! Wie geht’s?“ und er antwortete: „Prima, alter Kumpel! Ick freu mir dir zu sehn! Wie läuft et denn so? Allet paletti?“ Erstaunt schaute ich ihn an. Diesmal hatte ich jedes Wort deutlich verstanden.
„Ick hab'n neuet Jebiss!“ sagte er stolz und strahlte mich an. Er schob seine Finger in den Mund, zog zwei Zahnprothesen heraus und praesentierte sie auf dem Tresen. Zweimal sechzehn Kunstzähne fein säuberlich aneinandergereiht und in rosaroter Füllung verankert. Er steckte das Gebiss wieder in den Mund und sagte: „Allet von de Krankenkasse und vom Sozialamt berappt! Für mich Nulltarif total!“
„Das freut mich für dich!“ sagte ich und versuchte irgendwie aus der Nummer raus zu kommen. Aber er hatte sich bereits festgesaugt und fragte mit unschuldig strahlenden Augen: „Unn weeste wat MIR freut, Kumpel? MIR freut et, wie jut wir beede uns beim letzten Mal unterhalten hamn! Du warst der eenzige unn erste Mensch, mit dem ick mir uff Abhieb so jut vastanden hab! Ick hab‘ mir lange nich so jut mit jemand unterhalten wie mit dir! Du hast Ahnung von det Leid von andere Menschen! Du bist’n echter Kumpel!“ Damit legte er mir vertraulich seinen Arm um meine Schultern und sagte: „Willste mir nich’n Bier spendieren? Sozusaachen als Besiegelung von unsere Freundschaft…!“
 

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