... für Leser und Schreiber.  

Mitten im Leben

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© Rosalina Brand   
   
Sie sah schlecht aus, als sie zur Türe herein kam, den Mantel an die Garderobe hängte und langsam auf den Tisch zukam, an dem Brigitte auf sie wartete. Die beiden Frauen trafen sich seit Jahren in lockeren Abständen zu einem vormittäglichen Kaffee, zu einem lockeren Schwatz. Aber jetzt war alles anders. Die schwere Krebserkrankung hatte Marianne überraschend getroffen, die Operation war zwar gut verlaufen, die Chemotherapie machte ihr allerdings mehr zu schaffen, als sie erwartet hatte.
Brigitte stand auf, ging ihr einige Schritte entgegen und umarmte sie:
„Ich freue mich dich zu sehen, wie geht es dir?“
„Den Umständen entsprechend,“ antwortete Marianne.
Wie geht man mit einer solchen Aussage um, dachte Brigitte, hieß dies, dass es ihr relativ gut ging oder eben doch eher schlecht? Durfte sie eine Nachfrage wagen? Die beiden kannten sich zwar schon lange, es war aber nie eine wirkliche Freundschaft zwischen ihnen entstanden, auf jeden Fall keine, in der Intimitäten ausgetauscht wurden. Und Krankheit, empfand Brigitte, war etwas sehr Intimes. Aber vielleicht war die ausweichende Antwort ja gerade eine Aufforderung, genauer nachzufragen? Denn Marianne hatte immerhin nicht die Floskel „danke gut“ gewählt.
Marianne musste Brigittes Unsicherheit bemerkt haben:
„Ich muss morgen wieder in die Chemotherapie, das wird sehr unangenehm sein, aber eigentlich möchte ich jetzt nicht daran denken. Erzähl mir doch lieber von deinen Ferien.“
Und Brigitte erzählte, war froh zusammen mit ihrer Zuhörerin der Schwere für eine Weile zu entkommen. Sie berichtete von Land und Leuten, von Sehenswürdigkeiten, von Ferienbekanntschaften. Sie verschwieg allerdings die unbändige Freude auf der Fahrt mit der Fähre, die überwältigende Lebenslust, die sie beim ersten Anblick der Ferieninsel wie eine Welle überflutet hatte. Es kam ihr irgendwie ungehörig vor, eine Schwerkranke mit Gefühlen zu konfrontieren, die ihr vielleicht nie mehr vergönnt sein würden. Zum Glück gab es ja genug anderes zu berichten und Brigitte war eine gute Erzählerin. Auf jeden Fall verging die Zeit schnell und unbeschwert.
Die beiden Frauen verabschiedeten sich mit guten Wünschen, der Termin für das nächste Treffen war vereinbart.
Irgendwann wird es das letzte Mal gewesen sein, dass wir uns in diesem Café getroffen haben, ging es Brigitte durch den Kopf. Obwohl es immer ein letztes Mal geben musste und man nie wissen konnte, wann dieses letzte Mal sein würde. Solches wurde einem aber meist nur bewusst, wenn eine Gefahr lauerte, eine ernsthafte Krankheit zum Beispiel, wie eben bei Marianne. Sonst war es nicht viel mehr als eine Redensart.
In solche Gedanken versunken ging sie ihren Heimweg, ging durch die vertrauten Gassen, ging über die Strasse, die sie an dieser Stelle in den letzten zwanzig Jahren viele tausend Mal überquert hatte. Gedankenverloren.
Wie sonst hätte sie das mit überhöhter Geschwindigkeit nahende Auto übersehen können. Sie bemerkte es erst, als sie von dem Lärm der kreischenden Bremsen erschreckt wurde und es unkontrolliert auf sich zuschlittern sah.
 

http://www.webstories.cc 07.05.2024 - 12:03:13