... für Leser und Schreiber.  

DER HIMMEL UEBER ROM, Teil 5 - VIA FLAMINIA

335
335 Stimmen
   
© Ingrid Alias I   
   
Es war früh am Morgen und die Sonne ging gerade auf, als sie Rom verließen. Die eisenbeschlagenen Räder der Kutsche hallten auf dem buckligen Straßenpflaster. Hinter und vor ihnen ergoss sich ein nicht enden wollender Strom von Fußgängern und diversen Transportmitteln durch die Porta Fontinalis, dem Tor zum Nordosten des Kaiserreichs.
Bei den anderen Fuhrwerken handelte es sich meistens um Bauernkarren, gezogen von Ochsen. Andere Reisekutschen waren kaum unterwegs – weiter vorne sah Vanadis eine Sänfte, die von sechs Sklaven getragen wurde. Anscheinend hatten sich nur wenige reiche Leute entschlossen, die Stadt zu verlassen. Warum auch? In Rom gab es alles, was das Herz begehrte. Sogar das Wetter war im Augenblick sehr angenehm, die Hitze des Sommers war gebrochen, und noch verdüsterten keine Stürme und kalten Regenfälle das Gemüt. Es handelte sich um die Zeit der Beschaulichkeit, die Zeit der Gleichheit zwischen dem Wetter.
Vanadis blickte gespannt aus der Kutsche. Es war ihre erste große Reise nach Jahren. An die davor erinnerte sie sich nicht gerne, denn sie endete auf dem Sklavenmarkt in Rom. Auf dem Forum Romanum wurden Sklaven gerne verkauft, hauptsächlich vor dem Tempel des Castor und des Pollux. Doch das wusste sie damals noch nicht. Jetzt wusste sie mehr über die Gebräuche Roms, und trotzdem konnte sie ein Zittern nicht unterdrücken, wenn sie daran dachte, wie sie dort gestanden hatte.
Fast nackt mit aufgelöstem Haar. Ihre Handgelenke gefesselt, hochgezogen und angebunden an einen Pfahl. Es gab keine Möglichkeit, sich zu wehren, sie war vollkommen hilflos. Sie hatte Angst, all die Gespräche um sie herum, Männer, die Obszönitäten von sich gaben. Warum konnte sie ihre Ohren nicht verschließen vor diesem Dreck. Warum hatte sie diese schreckliche Sprache schon als Kind gelernt und konnte alles davon verstehen? Und was würde mit ihr geschehen? Männerblicke lagen auf ihr, lauernd abschätzend, lüstern, grausam. Sie versuchte ihre Arme zu bewegen, aber es ging nicht, sie waren über ihrem Kopf festgezurrt, und während sie an ihren Stricken zerrte, fingen einige der Männer an zu lachen, ein schmieriges Lachen, ein höhnisches Lachen.
Doch es wurde noch schlimmer. Sie hörte eine keifende Stimme: „Was ist? Keine Gebote? Das ist doch wohl ein prächtiges Objekt! Wollt ihr sie nicht mal anfassen und erkunden? Aber vorsichtig!“ Sie sah, dass die Männer glasige Blicke bekamen und sie gierig anglotzten, und dann kamen einige näher und tasteten nach ihr.
Sie machte sich steif, geht weg, geht doch weg, dachte sie, aber es half nichts. Sie berührten ihre Brüste und lachten, das Lachen klang geil, und dann berührten sie sie an ihrer intimsten Stelle.
„Noch Jungfrau“, murmelte einer lüstern. Ein anderer sagte: „Die wird bestimmt eine gute Prostituierte…“
Sie schloss die Augen, um nichts von alledem zu spüren. Es gelang, sie konnte ihren Geist verschließen vor der Grausamkeit des römischen Sklavenmarktes. Alles hörte sie nur noch gedämpft – auch ihr Körper war wie abgestorben, taub und gefühllos. Doch auf eine stumpfe Art dachte sie noch, sie dachte an ihre Mutter. Sie hatte ihr alles beigebracht, und sie vermisste sie so furchtbar. Mutter, du musstest dich nicht für mich opfern, sie hätten mich so oder so bekommen, aber ich vermisse dich, wo bist du nur, kannst du mir nicht etwas sagen, nur ein bisschen. Ich weiß, dass du da bist, aber ich kann dich nicht verstehen. Bitte sag etwas zu mir…
Doch ihre Mutter schwieg. Warum schwieg sie? Warum hatte sie sie verlassen? Nein niemals, ihre Mutter liebte sie und beschützte sie immer noch. Das war vielleicht die Botschaft, die sie ihr sandte. Und dann auf einmal hörte sie die Stimme ihrer Mutter, die sagte: Denk nur an mich, denk an meine Liebe und du wirst alles überstehen. – Ach Mutter, ich vermisse dich so… Und ihre Mutter tröstete sie, ich bin immer noch bei dir und werde immer bei dir sein. – Ich hab dich so lieb, Mutter.
Eine unendliche Weile konnte sie diesen Zustand aufrecht erhalten, doch irgendwann erreichte sie der Lärm des Sklavenmarktes wieder. Und als sie schließlich die Augen öffnete und wieder anfing zu leben, da sah sie vor sich eine ältere Frau, die sehr eindrucksvoll wirkte, sie war nicht hübsch, geschweige denn schön, aber sie besaß fesselnde Gesichtszüge. Neben ihr stand ein hochgewachsener römischer Mann, ein Krieger war er, das konnte sie an seinem ledernen Brustpanzer erkennen. Er betrachtete sie, doch sein ausdrucksloses Gesicht verriet nicht, ob es begehrend oder abschätzend war.
Sie war verkauft worden an diese Frau und an diesen Mann. Wobei ihr die Frau viel besser gefiel, der Mann war schwer zu durchschauen, außerdem schien er ein Offizier zu sein, denn er hatte einige Soldaten bei sich, die ihm untertänigst huldigten.
So kam sie in das Haus des Marcus Colonius, in dem seine grässliche Frau Sidonia die Herrschaft führte.
Erst Monate später erfuhr sie, dass Marcus gar nicht ihr Herr war, sondern die Dame, die sie auf dem Sklavenmarkt mit ihm zusammen gesehen hatte, es handelte sich um eine freigelassene Sklavin namens Antonia Caenis. Unter der Mutter des jetzigen Kaisers Claudius hatte sie gedient, von Kind an. Und als diese starb, es hieß, dass sie sich auf Befehl des Caligula – der ihr Enkel war und den sie erzogen hatte – das Leben nehmen musste, da wurde die Caenis laut dem Testament ihrer Herrin freigelassen.
Antonia Caenis war ein Frau mit großem Einfluss, obwohl sie weder eine vollwertige Bürgerin, geschweige denn eine Adelige Roms war. Vanadis hatte sich natürlich gefragt, warum sie von dieser Frau gekauft wurde und vor allem, was sie im Hause des Marcus tat. Nun würde sie es vielleicht erfahren, und sie verspürte ein bisschen Angst davor.
Sie hatte darauf bestanden, auf der Fensterseite der Kutsche zu sitzen. Es handelte sich natürlich nur um ein Loch in der Holzwand des Wagens, aber es war ein bisschen größer als das in der Einstiegstür. Viel konnte man durch dieses kleine Loch nicht sehen, aber Vanadis hatte zumindest einen Ausschnitt des Geschehens im Auge.
An ihr vorbei rauschten dicht besiedelte Gebiete, und sie stellte fest, dass der Wagen schnell war. Oder eher die Pferde, denn sie überholten fast alles, was vor ihnen war, bis sie schließlich ganz allein auf der Straße daher fuhren und das Geräusch der Reifen ihr ins Blut übergegangen war.
Die Sonne stand mittlerweile höher am Himmel und bestrahlte rotgold den fast wolkenlosen Himmel. Ein wunderschöner Anblick! So friedlich, dass sie selber ein bisschen Frieden fand. Ein Viadukt erhob sich zur Linken, und es wirkte wie ein Riese, der mit steinernen Beinen über die Landschaft schritt, um Rom zu erreichen.
Vanadis sah, wie die Besiedlung allmählich immer geringer wurde, bis kein einziges Haus mehr zu erblicken war und stattdessen kleine Olivenhaine am Rande der Straße wuchsen. Ab und zu kam ein Fluss in Sicht, es war bestimmt der Tiber, und sie konnte ihn kaum wiedererkennen: Die stinkende Kloake aus Rom hatte sich auf einmal in einen wunderschönen sprudelnden Fluss verwandelt.
Neben ihr saß ihre Herrin, die Antonia Caenis, und ihr gegenüber lag zusammengekrümmt der Sklave Imaginus. Er machte einen sehr schwachen Eindruck, als ob er unter einer Krankheit litte. Warum hatte man den armen Kerl mitgenommen? Sie musste an die Unterhaltung zwischen Marcus und der Caenis denken. Seltsam, jedes Wort hatte sich ihrem Kopf eingeprägt:
––––––„Ich suche ja schon seit Jahren nach jemand, der geeignet ist, und ich glaube, ich habe ihn gefunden“, sagte die Caenis und lächelte schmerzlich dabei. „Doch er ist krank und wird gewiss sterben.“
„Armer Kerl“, sagte Marcus. „Aber wird er auch mitspielen?“
„Das wird er wohl. Er möchte einmal in seinem Leben eine wichtige Rolle spielen.“––––––
Sie konnte sich noch genau daran erinnern, eigentlich konnte sie sich an jedes Wort erinnern, das die Caenis und Marcus gesprochen hatten. Es gehörte bestimmt zum Plan, von dem sie so gut wie nichts wusste. Warum auch, sie war ja nur eine Sklavin.
Ein Soldat aus Markus’ Einheit kutschierte den großen Reisewagen. Vanadis sah Marcus vor der Kutsche reiten. Natürlich! Sie wäre auch gerne geritten, aber als Sklavin fiel das ja wohl flach. Aber die Caenis war ja eine Freigelassene ...
„Würdest du nicht lieber reiten wollen?“, wandte sie sich unverblümt an ihre Reisegefährtin.
Caenis schaute sie verblüfft an, sie ordnete ihre Tunika – warum eigentlich, sie sah doch immer perfekt aus – bis sie schließlich sagte: „Auch wenn ich manchmal die Freiheit der Bewegung vorziehe, so habe ich inzwischen gelernt, dass dies nicht die wirkliche Freiheit ist. Die wirkliche Freiheit ist in uns ...“
„Oh nein! Wieso musst du aus jedem Thema eine philosophische Abhandlung machen?“ Vanadis musste lachen und fügte spöttisch hinzu: „Die Freiheit, was für ein weites Feld ...“
„Manchmal denke ich, die äußerliche Freiheit wird überschätzt ...“
„Ach Quatsch, du bist nur faul geworden...“ Vanadis lehnte sich bequem zurück, soweit man in dem rumpelnden Reisewagen von Bequemlichkeit reden konnte.
„Du bist mir eine ... Aber du hast recht. Manchmal ist es besser, es bequem zu haben, als frei zu sein...“ Caenis reichte ihr wortlos ein komfortabel aussehendes Kissen, das anscheinend mit Gänsefedern gefüllt war.
Aber nur manchmal… Vanadis nahm das Kissen dankbar an, steckte es hinter sich, reckte sich behaglich – und die Sprünge der Kutsche fühlten sich auf einmal gar nicht mehr so schlimm an.
„Was geschieht in Ravenna? Warum willst du dorthin? Und wieso soll ich mit dabei sein?“
„Als erstes: Die Kissen hat Marcus besorgt...“ Antonia Caenis lächelte, sie machte eine Pause, bevor sie weitersprach. „Es ist eine Privatsache, die mich nach Ravenna führt, eine Sache der Gerechtigkeit. Und ich hoffe, dass du mir dabei hilfst...“ Sie schaute Vanadis unsicher an und verstummte.
Wie schön, Marcus hatte die Kissen besorgt! Das war das einzige, das sie verstanden hatte. Und sie fragte sich zum hundertsten Male, was Marcus mit der Caenis zu tun hatte. Aber sie traute sich nicht, danach zu fragen. Es ging sie auch gar nichts an. „Du weißt, dass ich dich mag. Ich halte dich für ehrlich, du warst auch mal Sklavin – ist es eigentlich eine große Veränderung vom Sklaven zum Freigelassenen?“ Vanadis biss sich auf die Lippen, warum musste sie immer so direkt sein und vor allem so sprunghaft?
Die Caenis fing an zu lachen. „Du bist so herrlich erfrischend“, sagte sie schließlich. „Und nein, die Veränderung ist unbedeutend. Ich bin ja immer noch gefesselt an meine Herrin Antonia, ich trage ihren Namen, trage ihre Vergangenheit ...“
„Wie meinst du das?“
„Nun, ihre Geschichte ist auch meine Geschichte. Ich habe vieles aus ihrem Leben schriftlich aufzeichnen müssen, und das waren keine schönen Dinge...“ die Stimme der Caenis stockte. Sie richtete sich auf, deutete aus dem Fenster der Kutsche und meinte leichthin: „Schau, das ist sie nun, die Via Flaminia, die Mutter aller Straßen Roms.“
„Sie sieht aus wie eine gewöhnliche Straße, aber eine gut ausgebaute.“
„Einst kam ich über diese Straße nach Rom“, Caenis lächelte schmerzlich. „Meine Mutter trug mich Meilen über Meilen, bis sie schließlich zusammenbrach. Und als ich Rom zum ersten Mal erblickte, da war es mir feindlich gesinnt, denn meine Mutter war tot, gestorben und zurückgelassen auf der Via Flaminia.“
„Das ist ... sehr traurig.“ Vanadis wusste nicht, was sie sagen sollte. Natürlich hatte sie geahnt, dass die Caenis kein leichtes Schicksal hatte. Wer hatte das schon als Sklave? Aber ein verlassenes Kind und dann in Rom, das war bestimmt schrecklich.
„Ich hatte Glück. Es lag vielleicht daran, dass ich kein hübsches Kind war. Ich wurde verkauft an die Herrin Antonia. Der Himmel weiß, was sie von einer Sklavin wollte.“ Caenis fing an zu lächeln. „Vielleicht wollte sie ein Kind, welches verantwortungsvoll war. Welches intelligent und gebildet war. Und vor allem ein Kind, das gut war ...“
„Moment mal, Caenis, der Kaiser Claudius ist doch der Sohn der Antonia, und der ist doch gut!“
„Du hast recht, Claudius ist gut, er ist viel zu gut – und vor allem viel zu gutmütig. Aber ihn meinte ich nicht, ich meinte die Schwester des Claudius. Livilla, sie war so schön, so eitel, so machtgierig, sie verkörperte die schlechte Seite der Claudier. Sie war mit Castor, dem Sohn des Tiberius verheiratet, doch der starb unter ungeklärten Umständen. Man munkelte, sie hätte ihn ermordet. Wenig später zeigte sie sich öffentlich mit dem Konsul Seianus, einem Emporkömmling, der sich zum Führer der kaiserlichen Leibgarde emporgeschmeichelt hatte. Er hatte sich Tiberius, der nach dem großen Augustus Kaiser war, vollkommen unterworfen – und ihn gleichzeitig betrogen. Was waren seine Ziele? Als Ritter hätte er zu Tiberius’ Zeiten nie Kaiser werden können. Vielleicht ließ er sich deswegen mit der Livilla ein, der einzigen Tochter der Antonia. Sie war die Großnichte des Kaisers, also vom höchsten adeligen Blut“, die Caenis seufzte. „Livilla war eine böse Frau, sie und Seianus planten Meuterei. Sie wollten gemeinsam den Thron besteigen!“
Vanadis guckte währenddessen gelangweilt aus der Kutsche, was ging sie die römische Vergangenheit an? Manchmal jedoch interessierten sie die seltsamen Verwandtschaftsverhältnisse der römischen Aristokratie. Doch nie lange, die waren einfach zu verwirrend.
„Aber sie haben es nicht geschafft, oder?“, sie hoffte, es würde nicht allzu uninteressiert klingen.
„Nein, das haben sie nicht“, Caenis hüllte sich in ihren Mantel und dachte wohl nach, bis sie schließlich zögerlich verkündete: „Meine Herrin Antonia kam ihnen auf die Schliche. Sie berichtete dem Tiberius von dem Komplott – und sie sperrte ihre eigene Tochter ein und ließ sie verhungern. Natürlich hat sie selber dabei auch gelitten, sie wollte sich bestrafen, weil sie so eine schlechte Tochter geboren hatte.“
Vanadis überlegte und fragte dann erstaunt: „Willst du damit sagen, dass sie ihre eigene Tochter verraten und dann auch noch selber getötet hat? Oh, das ist grausam!“
„Die Herrin Antonia war eine ganz besondere Frau – und auch von bester Abstammung. Der legendäre Marcus Antonius war ihr Vater und die Oktavia, die Schwester des Augustus ihre Mutter. Antonia hatte sehr hohe Ansprüche an sich selbst – und sie verabscheute die Schwachen, sowohl die körperlich als auch die charakterlich Schwachen. Sie verachtete auch ihren Sohn Claudius, behauptete immer, dass er nur überleben konnte, weil er zuviele Krankheiten in sich trug, welche sich wohl gegenseitig bekämpften und somit ausschalteten. Ja, sie verachtete ihn. Vielleicht deswegen, weil ihr erster Sohn, der Germanicus so früh starb. Germanicus war das körperliche Gegenteil von Claudius, er war gesund, wohlgestaltet und ein guter Feldherr. Nun, auch Claudius ist ein guter Feldherr, wie er in Britannien bewiesen hat…“
Vanadis stöhnte innerlich auf. Diese miteinander verzweigten römischen Verwandtschaftsverhältnisse ... Die waren kaum zu verstehen, geschweige denn zu ertragen.
„Die Herrin Antonia hat also ihre Tochter Livilla verraten?“ Sie hoffte, dass mit dieser Frage der Informationsfluss ihrer Besitzerin beendet wäre, aber nein, der Redeschwall der Caenis war nicht aufzuhalten.
„Ich selber musste das Schreiben an Tiberius aufsetzen, unter der Bedingung, das Geschriebene sofort zu vergessen. Aber das konnte ich nicht, diese Weisung war vergeblich, ich trug nämlich nicht allein dies, sondern auch all das andere, was die Herrin mir diktiert hatte, stets in meinem Herzen, und es konnte niemals getilgt werden. Das habe ich ihr auch gesagt.“
Vanadis schaute mitleidig zu der Caenis hinüber, konnte es sein, dass sie Tränen in deren Augen sah? Nein, sie musste sich irren.
Sie versuchte nun, die komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse am römischen Kaiserhof zu ordnen. Die anderen Sklaven hatten so viel darüber erzählt, Klatsch und Tratsch über den Adel waren sehr beliebt und würden es wohl immer sein. Warum? War es tröstlich zu wissen, dass adelige und reiche Leute auch Probleme hatten? Möglich ...
Also: Der große Augustus hatte von seiner zweiten Frau eine Tochter, nämlich die Julia. Dann verliebte er sich in die Livia aus der Familie der Claudier, sie war noch sehr jung und außerdem verheiratet. Aber Augustus erzwang die Scheidung und heiratete die Livia. Diese brachte zwei Söhne mit in die Ehe, Tiberius und Drusus. Jahre später musste der Tiberius sich scheiden lassen, um Julia, die Tochter des Augustus zu heiraten. Die Ehe war eine Katastrophe. Aber die Livia hielt zu ihrem Ältesten, sie verleumdete die Julia bei ihrem Vater, dem Kaiser, und die arme Julia wurde auf eine Insel verbannt. Ihre drei Söhne aus anderen Ehen, also die Enkel und Erben des Augustus, blieben vorerst am Leben. Vorerst ... Doch im Laufe der Jahre brachte die Livia wohl alle Nachkommen des Augustus um – und auch ein paar ihrer eigenen. Bis schließlich ihr älterer Sohn Tiberius Kaiser wurde. Tiberius, der Bruder von Claudius’ Vater, dem beim Volk beliebten Drusus. Und der war der lang schon verstorbene Mann der mittlerweile auch schon verstorbenen Antonia. Diese hatte Selbstmord begangen, kurz nachdem ihr Enkel Caligula – er war ein Sohn des Germanicus – an die Macht gekommen war. Die Sklaven munkelten, dass der neue Kaiser ihr dies befohlen hätte. Verwirrend das alles ...
„Aber die mütterlichen Bande müssen doch stärker sein“, sagte Vanadis energisch. „Zumindest ein bisschen stärker als die Interessen und Rechte des ‚Großen Roms’.“
Die Caenis lachte bitter auf: „Du weißt nicht, zu was gewisse Leute im Namen des ‚Großen Roms’ fähig sind. Aber du wirst es erfahren, oder du weißt es schon. Väter verraten ihre Töchter und Enkel, liefern sie Rom aus und lassen sie zu Geiseln werden ...“
„Nein!“
„Doch, und deswegen habe ich dich auf diese Reise mitgenommen. Du bist ja fast vom gleichen Blut wie er.“
„Wer? Ich? Wieso?“
„Ich werde es dir erklären“, Caenis lächelte. „Aber damit warte ich am besten bis heute Nacht. Ich hoffe, wir liegen dann auf einer bequemen Bettstadt und müssen nicht immer brüllen, um uns verständigen zu können.“
„Gut, wenn du meinst.“ Vanadis schaute sie skeptisch an und fragte sich, was ihr da für Geheimnisse enthüllt werden würden.
Aber sie beschäftigte sich nicht lange damit, denn die Via Flaminia war viel zu interessant dafür. Als sie aus dem Fenster blickte, sah sie einen römischen Meilenstein, er verkündete, dass Claudius zur Zeit Kaiser war, dass er Britannien unterworfen hatte, dass Rom Meilen weit weg war und dass es in Richtung Ariminum ging.
Die Meilensteine waren recht hoch, sie markierten immer den Abstand zu Rom, der größten Stadt der Welt, der Hauptstadt des Imperiums – und das nach jeder römischen Meile. Was für ein Aufwand! Wie viele Steinmetze waren hier beschäftigt? Und eine Meile, wie lang war die? Vanadis dachte nach und kam zu der Erkenntnis, dass es um Schritte ging, römische Schritte natürlich. Tausend Doppelschritte ergaben eine römische Meile. So gerechnet, waren die Meilensteine vielleicht zwei bis drei Doppelschritte hoch. Immerhin war der Kaiser Claudius sparsam, denn es gab noch viele alte Meilensteine, deren Inschriften sich auf Augustus und Tiberius bezogen. Von Caligula, dem Wahnsinnigen war aber wohl alles ausgemerzt worden.
„Wie weit ist Rom denn entfernt von unserem Ziel?“, fragte sie ihre Besitzerin.
„Insgesamt beträgt die Entfernung von Rom zu Ravenna an die zweihundertfünfzig Meilen.“
„Das ist ganz schön weit!“ Wie viele Tage brauchte man wohl, um diese Strecke zu schaffen. Nach dem jetzigen Tempo zu urteilen, vielleicht zwei bis drei. So schnell? Das war doch nicht normal. Alle zwanzig Meilen wurden an den Poststationen die Pferde gewechselt, das ging so flink vonstatten, dass sich das Aussteigen nicht lohnte, obwohl alle gerne aussteigen wollten, um sich die Beine zu vertreten. Bis auf den Sklaven Imaginus, der lag immer noch teilnahmslos auf der Bank. Der arme Kerl.

Als der späte Nachmittag anbrach, hielten sie etwas länger in einem Ort namens Carsulae. Doch Vanadis musste zu ihrem Entsetzen feststellen, dass sie auch dort nicht übernachten würden. Sie durften aber aussteigen, einen gewissen Ort aufsuchen, der etwas schmutzig war, ein kurzes Getränk in der Taverne einnehmen, es handelte sich um mit Wasser vermischten Wein – und das war es schon.
Es ging weiter mit neuen frischen Pferden, und der neue frische Kutscher erhöhte sogar noch das Tempo. Der verhasste Marcus war nicht mehr zu sehen, und das brachte sie maßlos auf. Wahrscheinlich lag er schon in einem bequemen Bett, dieser ... undurchschaubare Römer!
Nein, das konnte alles nicht wahr sein, Vanadis fühlte sich total zerschlagen, ihre Ohren waren taub von dem immerwährenden Getrappel der Pferdehufe auf den Steinen der Via Flaminia, ihre Knochen taten weh, alles war aufgegessen, was sie an Brot und Käse mitgenommen hatten, und jetzt verspürte sie Hunger. Ganz großen Hunger!

wird fortgesetzt...
 

http://www.webstories.cc 29.03.2024 - 01:04:50