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DER HIMMEL UEBER ROM, Teil 13 - BACCHUS

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© Ingrid Alias I   
   
Marcus bewegte sich unruhig auf der Bank hin und her. Er war gerade in der Garnison vor den Toren Roms eingetroffen, da hatte der Kaiser ihn zu sich rufen lassen, an und für sich nichts Ungewöhnliches, aber heute lag etwas in der Luft, etwas Bedrohliches. Er hatte schon einiges darüber erfahren und machte sich Gedanken darüber. So weit war es gekommen?
Neben ihm saßen zwei ehemalige Konsuln, die der Kaiser auch zu sich gebeten hatte. Und noch andere Würdenträger, die meisten von ihnen kannte er nicht, es waren aber gewiss Adelige höchsten Ranges, denn sie würdigten ihn keines Blickes. Er war ja nur ein Ritter, sein Stand war zwar besser als der eines freien Bürgers, aber nicht so gut wie der eines Patriziers. Der Kaiser Augustus hatte den Ritterstand protegiert, denn die Patrizier drohten auszusterben, Kinder wurden kaum noch geboren, der Adel musste aber erhalten und somit wieder aufgestockt werden. Also erschuf der Augustus einen neuer Stand, dieser rekrutierte sich aus erfolgreichen Soldaten, welche dem Kaiser treu ergeben waren und auch ein gewisses Vermögen aufweisen konnten.
Marcus lächelte bitter: So einer wie er… Auch seine Familie war einst reich gewesen, bis sein Vater… Nein, das tat jetzt nichts zur Sache, aber es war der Grund dafür, dass er mit der Sidonia verheiratet war. Sidonia, eine Patrizierin von feinstem römischen Blut, stolz und überheblich, und sie hatte über ihn gelacht. Ein schlichter Ritter als Ehemann! Aber das machte ihm lange Zeit nichts aus, er hatte gelernt, seine Gefühle zu verstecken. Doch in der letzten Zeit war ihm klargeworden, was er versäumt hatte. Und das tat weh, so weh wie er es nie vermutet hätte. Wie hatte er jemals glauben können, dass dieses Leben alles war, was er erwarten konnte. Dennoch fühlte er sich glücklicher als in all den Jahren zuvor. Er lebte wieder, zwar schmerzhaft, aber er lebte.
Nachdem einige der Wartenden zum Kaiser vorgelassen wurden und wie es Marcus schien, kaum einer wieder aus des Kaisers Gemächern herauskam, es waren nur ganz wenige, die schreckensbleich das Zimmer verließen - wurde er endlich selber hineingerufen.
Claudius saß hinter seinem großen Schreibtisch. Sein Blick war seltsam trübe, aber seine Rede war sicher, keine Spur von seinem üblichen Stottern. Marcus kam es vor, als stünde der Kaiser unter Drogen.
„Markus, mein lieber Junge!“, Claudius begrüßte ihn freundlich. Sie kannten sich schließlich schon eine lange Zeit. Claudius besaß in Capua einen Landsitz, genauso wie die Familie Colonius, manchmal hatte man sich dort gegenseitig besucht, und als Marcus noch ein kleiner Junge war, unterhielt er sich oft mit diesem verachteten Mitglied der Claudier-Familie. Er verstand überhaupt nicht, wieso man Claudius so geringschätzig behandelte, denn er konnte gut zuhören, er war überaus klug und hatte schon mehrere Bücher verfasst über die Geschichte Roms und über die von Karthago, also über die Punischen Kriege. Und auch das Stottern, das die Mutter des Claudius so abscheulich und verachtenswert fand, kam in Gegenwart seiner Freunde gar nicht vor. Nur wenn er öffentliche Reden halten musste.
Für Marcus war der jetzige Kaiser - den die Senatoren spöttisch Clau-Clau-Claudius nannten - wie ein Onkel, dem man vertrauen konnte.
Claudius sah ihn aus verschleierten Augen an. Er stand bestimmt unter Drogen, man munkelte, dass seine Sekretäre dies veranlasst hatten, sie wollten ihn gewiss schützen vor einem Zusammenbruch. Denn wenn er die verdammte Wahrheit erkennen würde… Der arme Mann! Marcus hatte oft daran gedacht, ihm die Augen zu öffnen über das Treiben der Messalina, doch er hatte sich zurückgehalten, denn er sah dem Treiben seiner eigenen Frau ja auch hilflos zu…
„Wie geht es deinem Vater?“, fragte der Kaiser ihn.
Marcus war erstaunt und erfreut über des Kaisers Interesse. „Er ist sehr verwirrt, und auch sein körperlicher Zustand wird immer schlechter. Ich muss wohl bald mit dem Schlimmsten rechnen.“
„Nun, er ist alt…“, der Kaiser räusperte sich. „Hmm… und deine Frau Sidonia, was denkst du von ihr?“
Sidonia? Wieso kam der Name Sidonia auf den Tisch? Marcus war vollkommen überrascht. Er hatte alles erwartet, nur nicht den Namen seiner Frau. Und so starrte er den Kaiser wortlos an.
„Sie ist in Haft. Sie war bei der Hochzeit der Messalina dabei und vor allem bei der Nachfeier hier in diesem Palast…“, erklärte dieser.
„Oh nein, Herr!“ Marcus fühlte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Hatte sie es wirklich so weit getrieben, dass sie nun im Kerker saß? Er hatte ja einiges vermutet - und sofort wieder verdrängt - aber das war wirklich der Gipfel! Er schwieg vor sich hin, in Erinnerungen versunken, die nicht schön waren und bemerkte nicht, dass Claudius ihn aufmerksam betrachtete.
„Du weißt nichts davon, lieber Marcus. Das sehe ich dir an. Dir geht es wohl ebenso wie mir“, die Stimme des Kaiser klang verschwommen, aber er stotterte nicht. „Ich muss immer an den großen Augustus denken… Dieser fühlte sich bestimmt auch so, als er erfuhr, dass seine Frau Livia fast alle seine Nachkommen entweder beim ihm verleumdet oder selber umgebracht hatte. Fast alle, denn sonst hätte ihm dies niemand mehr sagen können. Auch er, der große Augustus hatte niemals den geringsten Verdacht gehegt, dass die Livia ihm dies antun könne. Genauso wie ich nie etwas anderes gedacht habe, als dass die Messalina die keuscheste Frau Roms wäre.“ Der Kaiser wandte sich ab, wohl um seine Tränen zu verbergen.
Doch dann drehte er sich wieder um: „Wo waren wir, lieber Marcus? Ach ja, die Sidonia. Sage mir als ihr Ehemann, wie ich mit ihr verfahren soll. Eigentlich muss ich alle töten, die an dem Umsturz beteiligt waren. Denn es handelte sich um einen Umsturz! Und ich bin mir sicher, dass deine Frau davon wusste. Sie hätte mich warnen können, hat es aber nicht getan. Und sie hätte es vor allem DIR mitteilen können…“ Der Kaiser blinzelte ihn mit Augen an, die sehr müde wirkten. Er sah überhaupt schwer mitgenommen aus, war sicher innerhalb von Tagen um Jahre gealtert, und er tat Marcus leid.
Aber er selber war auch nicht besser dran. Die Sidonia war dabei gewesen, hatte Verrat geplant und die Familie Colonius entehrt. Oh nein, hoffentlich wirkte sich das nicht auf seine kleine Tochter aus. Was mit ihm selber passierte, war ihm egal, aber dieses Kind musste geschützt werden. Sie war das Beste in seinem Leben, außer… Doch was sollte er nun tun?
„Ich kann meine Frau nicht verurteilen, Herr!“, brachte er schließlich mühsam hervor, und niemand - auch der Kaiser nicht - konnte ahnen, wie schwer ihm dieser Satz fiel.
Der Kaiser ging zum Fenster. Er hinkte ein wenig, das hatte er schon seit seiner Kindheit getan. „Ich hingegen könnte sie sehr wohl verurteilen, und zwar zum Tode. Narcissus, mein Sekretär rät mir das dringend an. Aber weil du mein Freund bist, stelle ich dir frei, sie entweder zu verdammen - oder sie in deinem Landhaus gefangen zu halten als eine, die nicht ganz gescheit ist und dort unter deiner Aufsicht leben muss…“
Markus schaute ihn fassungslos an. In ihm stritten sich zwei Stimmen, die eine flüsterte ihm zu: Soll der Kaiser sie doch verurteilen, sie ist eine schlimme Frau. Sie hat dich nie geliebt, sie hat dich von Anfang an betrogen und dich verachtet. Die andere sagte fest und unumstößlich: Du musst ihr die Treue halten, denn wenn du das nicht tust, dann verrätst du dich selber!
„Herr, ich kann sie nicht verdammen“, sagte er nach einer Weile, und seine Stimme zitterte dabei.
„Gut, mein lieber Marcus, du wirst sie gleich in ihrem Kerker besuchen und ihr die freudige Wendung mitteilen können.“ Der Kaiser lächelte, und Marcus wunderte sich, dass er trotz allem, was die Messalina ihm angetan hatte, so unerschütterlich optimistisch war. Es musste an den Drogen liegen, die man ihm verabreicht hatte. Ganz bestimmt. Wie sonst konnte jemand, der gerade von der furchtbaren Untreue und Verderbtheit seiner Frau erfahren hatte, so gelassen sein…
Andererseits war er selber auch immer gelassen gewesen, wenn er von der Untreue seiner Frau erfuhr. Auch ohne Drogen. Und das war oft geschehen. Aber er hatte es einfach verdrängt, er wollte das gar nicht wissen. Ging es dem Kaiser ebenso, wenn auch aus anderen Beweggründen?
„Du verzeihst also der Messalina?“, fragte er mutig.
Der Kaiser sah ihn ernst an. „Ich liebe sie, und daran wird sich nichts ändern. Sie ist noch so jung und so schön, sie hat einen alten Ehemann wie ich es bin und der zudem auch nie sehr ansehnlich war, nicht verdient. Ich weiß, dass ich ihr nicht das bieten kann, was ein junger Mann ihr bieten könnte. Und ich weiß, dass sie mich liebt. Auf ihre Weise…“ Claudius schaute nachdenklich vor sich hin, und sein Gesicht sah verklärt aus. „Ich werde sie zu mir kommen lassen.“
Marcus überlegte eine Weile, er musste das alles ein wenig sacken lassen, er liebte den Kaiser und hätte ihm eigentlich empfohlen, die Schlampe hinrichten zu lassen, zum Wohle des Reiches, aber wer war er, darüber richten zu dürfen?
„Gut!“, sagte er. „Dann sollte ich jetzt wohl in den Kerker gehen, um mit meiner Frau zu sprechen…“
Die beiden Männer umarmten sich, und Marcus wandte sich zögerlich zum Gehen. Er befand sich in einem furchtbaren Zwiespalt. Warum sollte er das eigentlich tun? Wieder meldete sich seine innere Stimme zu Wort: Du musst es tun! Es ist eine Sache der Pflicht, also vergiss deine unguten Gefühle und rette die Sidonia.
*~*~*
Vanadis erwacht. Ihr Kopf fühlt sich ungewohnt an, so unbeschwert wie lange nicht mehr.
Sie hat keine Sorgen, hat keine jemals gehabt, ihr Kopf ist leicht, sie fühlt sich glücklich wie noch nie zuvor. Sie hat den Thumelicus nicht geliebt, das scheint ihr jetzt ganz klar zu sein. Sie liebt einen anderen. Nein, das ist falsch, es kann nicht sein… Dann wäre sie ja verrückt, hätte alle ihre Grundsätze vergessen. Hat sie überhaupt Grundsätze? Alles verwischt sich um sie herum, natürlich ist es falsch, nicht nur falsch, sondern abartig. Der? Niemals! Das ist ein böser Traum, und alles kann nur falsch sein. Für einen kurzen Moment ist sie unglücklich, aber dann nicht mehr. Sie kann lieben, so fühlt sich das an, erst schön und dann quälend? Das braucht sie nicht. Dann verwirren sich ihre Gedanken wieder. Ihr Kopf ist so frei, keine Sorgen, keine Ängste sind darin, nur ein seltsames Verlangen, ein ungewohntes…
Sie schaut an sich herab, sie ist in ein rotes Gewand gekleidet, es schmiegt sich schwer und klebrig an ihren Körper. Was ist das? Trotz ihres glückseligen Zustands mag sie dieses Gewand nicht. Es hängt an ihr, vor allem an ihren Brüsten und ihrem Unterkörper. Es ist peinlich, wie es sich an sie drängt und ihr seltsame Gefühle verschafft. Lüsterne Gefühle. Der nasse Stoff reizt ihre Brustwarzen, und sie fängt an zu stöhnen, sie will mehr davon haben, drängt sich dem Gewand förmlich entgegen und reibt sich daran. Dieser Geruch…
Er riecht aufwühlend, riecht nach Tier und nach Mensch, nach Leben und nach Tod. Nach Blut, nach unbegrenzter Lust… Sie hält inne und fängt an zu wimmern, nein, sie will das nicht, es ist falsch, ist nicht gut.
Gerade als sie das denkt, spürt sie eine Berührung, jemand ertastet sie, erkundet ihre intimsten Zonen, und wieder muss sie stöhnen, und es geschieht aus Lust, nicht aus Verzweiflung. Falsch, falsch, alles ist falsch, sie will das nicht, dennoch muss sie weiterstöhnen, sehnt sich nach… Nach mehr, nach was?
„Wie versprochen, eine Jungfrau!“, sie hört verschwommene Stimmen und auch Gelächter. „Da wird sich Bacchus aber freuen.“ Wer ist Bacchus und warum würde er sich freuen? Ach der, der Gott des Weines mit seinen seltsamen Anhängern. Wo hat sie das noch mal gehört? Da war doch was… Eine schreckliche Frau, sie hasst diese Frau.
Man trägt sie fort, und obwohl sie Angst hat, verspürt sie immer noch dieses Verlangen, sich fallen zu lassen, sich nehmen zu lassen, von wem auch immer. Sich dem Leben hinzugeben, der Lust…
Nein, falsch, falsch ist das. Und nun ist sie gefesselt, war sie vorher auch schon gefesselt? Sie zerrt an den Stricken, die geben nicht nach.
Musik erklingt, melodische Flöten, dumpfes Getrommel, welches ihren Herzschlag beeinflusst. Welche Stricke? Nein, sie ist frei, so frei…
Sie sieht andere junge Frauen in eine Art Teich springen, sie sind nackt, sie tragen Fackeln in ihren Händen, und auf wunderbare Weise brennen die Fackeln weiter im Wasser. Es ist wie ein Zauber.
Noch mehr Trommeln setzen ein, sie schwingen mit ihrem Herzschlag, diktieren ihn, sie fühlt, wie Hände sie erkunden, hört undeutliche Worte: Sie ist schön, sie ist jung, sie ist perfekt, sie ist Jungfrau. Bacchus wird sich freuen. Was für ein wunderschönes Opfer.
Ja, das ist sie, wunderschön! Sie ist jung, sie lebt, sie hat Gefühle ganz intensiver Art, sie keucht auf, während die Trommeln ihren Herzschlag bestimmen. Sie fühlt eine Bewegung, fühlt wie sie aufgerichtet wird, das Trommeln wird noch lauter, das nasse Gewand schmiegt sich an ihren Körper, es ist nicht mehr unangenehm, es reizt ihre Brüste, reizt ihre intimste Weiblichkeit…. Bis sie es nicht mehr aushalten kann. Komm und nimm mich, hört sie eine Stimme schreien.
Jemand nähert sich ihr, sie kann ihn undeutlich erkennen, er ist behaart, und er trägt Hörner auf dem Kopf.
Oh Göttin, oh Göttin, stöhnt sie vor sich hin, während sie an ihren Fesseln zehrt, doch sie will sich nicht von ihnen befreien, nein, sie will dem Gott näher sein. Zitternd windet sie sich in ihren Fesseln.
Doch dann schleicht sich etwas in ihr Verlangen, ein Zweifel, wo ist sie, will sie das wirklich? Sie kämpft gegen sich selber, und sie stöhnt laut auf. Sie will diesen Gott nicht, nein, schreit sie, nein.
Warum hört sie nicht, was sie schreit, haben sie ihr die Ohren verbunden? Nein, nein, nein, schreit sie, obwohl ihr Körper in Flammen steht, sie zerrt an ihren Fesseln, doch die geben nicht nach, nein, nein, nein schreit sie… bis sie schließlich entkräftet in sich zusammensackt und versucht, die Welt um sich herum auszuschließen, sie nicht mehr wahrzunehmen, genauso wie sie es auf dem Sklavenmarkt getan hat, damals als sie von der Caenis gekauft wurde…
Ihr Herzschlag verlangsamt sich, ihr Atem wird flacher, Kein Laut dringt mehr zu ihr durch, ihr Körper fühlt sich zuerst taub an, und kurz darauf fühlt sie ihn gar nicht mehr. Ist es so, wenn man tot ist? Besser tot, als diesen Teufel zu erdulden… als ihr eigenes Verlangen zu spüren… und diese verdammte Liebe, denn alles ist falsch, falsch, falsch…
Sie muss sich an anderem festhalten.
Die Vergangenheit durchstreift ihren Kopf. Bilder tauchen auf: Ihre Mutter streichelt und küsst sie, als sie noch ganz klein ist, und sie erzählt ihr Geschichten. Dass sie einst aus der Bretagne kam. Sie erzählt über einen Römer, ihre Mutter liebte ihn so sehr, dass sie ihm nach Asciburgium in die römische Garnison folgte und die Ehe mit ihm einging, doch dann starb ihr Geliebter, getötet bei einem Angriff der benachbarten Germanen. Ab jetzt ist ihre Mutter einsam und verlassen, aber sie hat ein Kind von ihrem Mann, ein kleines Mädchen, das sie Vanadis nennt. Das ist Tradition in ihrer Familie. Der Name bedeutet „die Glänzende“ und hat mit Herdfeuern, Ackerbau, Erdverbundenheit und Wohlstand zu tun. Sie liebt ihr Kind, es ist zwar schwer als alleinstehende Mutter in einer Garnison, aber sie werden überleben. Gallien, so heißt das Land, ist unter römischer Herrschaft, und ihre Mutter hat nun keinen Beschützer mehr, sie will auch keinen, sie kommt gut alleine zurecht in diesem Feldlager mit den rauen Kerlen, es handelt sich um römische Soldaten, welche die Grenze zu Germanien schützen. Der große Fluss Rhein ist Teil dieser Grenze und nicht weit entfernt. Ihre Mutter ist eine Heilerin, sie kennt sich mit vielen Krankheiten aus und kann auch Verwundeten helfen. Manchmal steht sie den anderen Frauen beim Kinderkriegen bei. Egal ob es sich um biedere Ehefrauen handelt oder um die zahlreichen Prostituierten, die im Lager ihren Verdienst bestreiten.
All das sieht die kleine Vanadis, sie lächelt in ihrer Trance, ihre Mutter ist so klug und so gut, und sie bringt ihr Sachen bei, die sie spielerisch lernt, das Abschalten des Geistes in Notsituationen, gewisse Heilmethoden - und ein Selbstbewusstsein, das ihr sagt: Du musst die Menschen immer so behandeln, wie du selber behandelt werden willst.
Ach Mutter, ich liebe dich so sehr.
Mein Kind, dann halte dich an mir fest. Wenn es dir schlecht geht, denke an mich, denke an meine Liebe zu dir und dass ich dich immer beschützen werde. Das wird dir helfen, meine liebe Tochter.
Die Zeiten sind unruhig, die römische Herrschaft nicht gefestigt, feindliche Stämme unternehmen Raubzüge, Feuer, Schreie, Mutter, wo bist du? Das Kind Vanadis ist allein, ihre Mutter ist tot, dennoch lebt sie in ihr weiter. Doch nun wird sie verschleppt von einer wilden Horde, es geht über den breiten Fluss in Richtung Sonnenaufgang. Vanadis weint, sie weint um ihre Mutter, dennoch weiß sie, dass ihre Mutter sie nie verlassen wird.
Die anstrengende Reise endet, Vanadis ist so betäubt, dass sie zuerst nicht wahrnimmt, wo sie sich befindet. Aber es ist ein guter Ort, dort in den unwirtlichen Wäldern Germaniens. Dort liebt man sie und nimmt sie nach kurzer Zeit als Tochter an. Das Wetter ist meistens kühl und nass im Sommer, und die Winter sind furchtbar kalt. Das Vieh ist in diesen schrecklichen Wintern kaum zu ernähren, kurz vor dem Verhungern der Dorfbevölkerung wird es geschlachtet. Aber manchmal sind die Sommer wunderbar, vor allem die Wolken, fast nie herrscht ein durchgehend blauer Himmel, immer sind Wolken da, manchmal feingestreift, manchmal graugeballt, aber immer sind sie schön… Ihre Adoptiveltern lieben sie, und sie liebt sie auch. Natürlich nicht so wie ihre Mutter, die manchmal mit ihr redet. Ich hab dich lieb, und das wird immer so sein, sagt sie.
Dieser Ort wird ihre neue Heimat. Und sie erinnert sich an den dichten Wald und an die Lichtung darin, die mitten im Sonnenschein liegt, wenn die Sonne einmal richtig scheint, an die zarten Schatten, die von den Bäumen darauf geworfen werden, an den kleinen Tümpel, in dem die Jugend badet. Ganz unschuldig. Die Chatten verheiraten sich spät, vorher müssen sie sich erst erproben im Kampf. Es sind schöne Jahre, die sie dort verbringt, doch dann kommt wieder ein Überfall. Ihre Adoptiveltern werden getötet, sie selber verschleppt, bis sie schließlich nach einer langen qualvollen Reise in Rom auf dem Sklavenmarkt landet, man hat sie nicht geschändet, wollte ihren Wert als Jungfrau erhalten. Was hat das für einen Wert? Was gilt in Rom so etwas…
Vanadis spürt, dass ihre Mutter sich langsam entfernt, es ist soweit, die wahre Welt wird bald wieder zu sehen und zu spüren sein. Noch kann sie ihren Trancezustand aufrecht erhalten, aber wie lange noch?
Sie hat Angst, furchtbare Angst.
 

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