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Eisflüstern

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© Frank Bao Carter   
   
Am Bahnhof von Emmerthal wartete die Fürstentochter Melinda mit zwei Pferden auf ihre Verabredung. Es war sehr kalt. Aus den Nüstern der Pferde dampfte der Atem. Melinda war in einem dicken, hellblauen Mantel mit einem dunkelblauen Kragen gehüllt. Die Knopfreihen waren mit goldenen Lilien geziert. Unter ihrem großen, weißen Hut quollen ihre dunkelrotschwarzen Korkenzieher-Locken hervor. Blau war die Feder, die diesen Hut schmückte.
Melinda zitterte.
Jedoch nicht vor Kälte.
Sie war aufgeregt.
Würde der hübsche Jüngling wirklich kommen? Dieser galante, hochattraktive Mann, den sie auf dem Mittelaltermarkt in Hameln kennen gelernt hatte. Dieser wortgewandte Mönch, wie sie ihn mit einem stillen Lächeln getauft hatte. Diese Augen, die in ihr Herz gedrungen waren. Diese Stimme, die sie keine Nacht mehr schlafen ließ. „Merander von Hameln“, murmelten ihre Lippen, als sie sich in ihrem Sattel nach vorne beugte und dem Rappen den Hals tätschelte.
Voller Freude folgten ihre Augen der roten S-Bahn, die von Hameln aus über die Weserbrücke näher kam. Dass er sogar reiten konnte, war ein zusätzlicher Bonbon. Ihr Herz hüpfte, als er den Bahnsteig entlang auf sie zu kam. Flink glitt sie vom Pferd. Die Zügel in der Hand haltend, wandte sie sich ihm mit einem frohen Lachen entgegen:
„Hallo, mein Eisprinz. Da bringst Du aber noch mal den Winter mit.“
„Ja, das Wetter spielt verrückt in diesen Tagen. Vier Tage ist es erst her, da hatte uns der Frühling in seinen Fängen.“
„Wo gestern noch die Krokusse die Wiesen zierten, thront heute der Schnee und Frost. Doch die Sonne steht kräftig am Himmel und lässt die Wälder, Wiesen und Büsche in einem funkelnden Gold erstrahlen.“
„Und Dein Strahlen steht dem in Nichts nach“, sprach der Ankömmling, als er der Harrende einen Handkuss gab.
Jetzt ärgerte sich Melinda. Der traditionelle, lange Handschuh hatte den direkten Kontakt seiner Lippen mit ihrer Haut verhindert. Wie gerne hätte sie dem Abdruck seiner Lippen auf ihrer Hand nachgespürt.
Sehnsuchtsvoll schaute sie in seine eisblauen Augen. Wieder lief ihr ein Schauer der Erregung über den Rücken. Was mochte der Tag wohl bringen?
Merander nahm ihre Hände in die seinen und blickte ihr tief in die fast schwarzen Augen. Er war versucht, ihr sofort einen feurigen Kuss auf ihre schönen, großen Lippen zu drücken. Jedoch der Anstand hielt ihn zurück.
Melinda setzte den linken Fuß in ihren Steigbügel. Schnell fasste Merander unter ihren rechten und schob sie hoch. Nötig wäre es nicht gewesen. Aber die Geste zählt.
Verliebt blickte die Fürstentochter von ihrem Ross herab. Die Feder ihres Hutes schwankte leicht im Wind.
Der Hamelner ging zu „seinem“ Pferd. Er tätschelte es kurz am Hals. Dann drückte er seine Stirn gegen die des Hengstes. Sie mussten sich erst einmal miteinander vertraut machen.
„Rasputin“, klärte die Hübsche auf. „Meiner heißt Dschingis-Khan.“
Langsam trabten sie aus dem Ort heraus.
Am Waldrand des Scharfenberges bot sich ihnen eine fantastische Aussicht. Unten das Tal der Emmer. Sie selber war ein schmales, graues Band im alles beherrschenden Weiß der Wiesen. Nur unterbrochen von einigen Rainen und Wiesenzäunen.
Die Orte Hämelschenburg und Amelgatzen zogen an ihnen vorbei. Vereinzelte Rauchsäulen stoben aus Schornsteinen gen Himmel. Strahlend blau wölbte sich dieser über das Land.
Immer wieder hielten die beiden an, die Aussicht zu genießen. Pferd an Pferd standen sie und Melinda erklärte ihrem Besuch ihre Heimat. Merander hatte das Gefühl, selbst ihre Rösser waren erfreut über diese Pause. Das Laufen auf diesem glatten Schnee verlangte von ihnen viel Aufmerksamkeit.
Als das Tal immer enger und steiler wurde, stiegen sie ab, nahmen ihre Zügel in die Hand und erklommen die Hohe Stolle.
„Es ist eine Höhe, die kaum besucht wird. Das macht ihren Reiz für mich aus. Meine Schwester und ich reiten oft zu diesem Punkt. Warst Du schon einmal da droben, Merander?“
„Nein, noch nie. Ich hatte es oftmals vor, aber die bekannteren Höhen hatten jedes Mal gewonnen, wenn ich mich zu einer Wanderung aufgemacht hatte. Von daher bin ich sehr froh, dass Du mich heute dahin entführen willst.“
„Ich hoffe, Du wirst den Zauber dieses einfachen Platzes genau so erkennen, wie ich.“
„Dem bin ich sicher! An Deiner Seite zu sein ist schon Zauber genug.“
„Du schmeichelst mir, mein lieber Mönch aus dem Osten. Wollen wir sehen, was uns oben erwartet?“
Bei den letzten Worten hatte sie sehr niedlich geguckt. Merander ergriff ihre Hand. Als Dank warf die Schöne ihm einen erlösenden Blick zu. Die Zügel in der einen, den Partner in der anderen Hand stiegen sie kontinuierlich bergan. Unter dem Schnee lag tief das Laub des Herbstes. Hinter ihnen zeigten zwei braun-weiße Linien ihre Fährte.
Irgendwann hatten die vier endlich die Kuppe erreicht.
Ihnen bot sich ein Naturschauspiel der ganz besonderen Art.
Alle Bäume waren noch vollkommen vereist. Jeder einzelne Ast jedes Baumes. Manche nur mit einer sehr dünnen Eisschicht, an anderen hingen richtig große Eisgebilde. Es war das Ergebnis des Tauens und wieder Festfrierens des vor zwei Tagen gefallenen Schnees. Nur weil diese Tage total windstill gewesen waren, ist der Schnee nicht von den Zweigen geweht worden sondern hatte sich langsam in Eis umgewandelt. Wenn man gegen die Sonne blickte, funkelten und glitzerten die Bäume in einem Licht reinsten Goldes.
So etwas hatte Merander bisher nie gesehen. Dazu der strahlend blaue Himmel als Kontrast. „Das ist gigantisch“, stellte Melinda fest, ihren Hut an den Sattelknauf gehenkt, um besser sehen zu können, „kein Märchen könnte zauberhafter sein als diese Wirklichkeit. Mir ist, als wäre ich in einer völlig anderen Welt.“
Merander stellte sich hinter seine Begleiterin und umschlang sie mit seinen Armen, während er ihren Blick in die Wipfel folgte. Melinda legte ihren Kopf zurück. Sanft ruhte er an seiner Brust.
Hatte sie etwas gesagt? Ihm war, als hätte er das Flüstern ihres Herzens gehört. „Halt mich hier in Deinen starken Armen. Halte mich nachher beim Tee umschlungen. Lass die ganze Nacht Deine Hände nicht von meinem Bauch“, waren die Worte, die sich der Jüngling ausgemalt hatte.
Und wieder hörte er das Rieseln.
Von links vorne. Von rechts hinten. Von der Seite. Von überall her. Als würde der ganze Wald leise ihrer Liebe zustimmen.
„Hörst Du das Eisflüstern?“ Melinda drehte sich um und umschlang ihren Prinzen. „Sie raunen mir zu, ich müsse mich vor Dir in Acht nehmen? Was mögen Sie damit meinen?“
Dass ich gleich zum Wolf mutiere und Dich auf der Stelle fresse, wenn Du Deinen Busen weiterhin so schön an meine Brust drückst.
„Ich glaube, die wollen Dir einen Bären aufbinden. Ich bin fromm wie ein Lamm.“
„Sprach der Wolf, als er sich ein Schaffell übergeworfen hatte, um sich besser an seine Leckerbissen heranschleichen zu können.“
Diese vorwitzige Göre. Das war ja nicht zum Aushalten. Konnte sie gar Gedanken lesen? Merander hob mit seinen Fingerspitzen ihr Kinn an: „Mir flüstert das Eis zu, dass Du einen wunderschönen Mund hast. Und gar lecker schmecken sollst.“
„Böser Wolf. Das Eis hat unrecht. Mein Mund schmeckt sauer und bitter zugleich. Du wirst keinen Gefallen finden.“
„Zierte sich das kleine Mädchen und verbrannte innerlich vor Gier.“
„Wenn Du mir nicht glauben willst, probiere es aus.“
Es war der süßeste Kuss, den Merander je bekommen hatte. Er konnte gar nicht mehr lassen von ihren Lippen. Die Arme der Fürstentochter umschlangen ihn so fest, wie sie nur konnte. Sie wollte ihren Wolf nicht mehr von ihrem Mund zurück weichen lassen. Als hätte Merander so etwas vorhaben können.
Erst als nach fünfzehn Minuten die Pferde unruhig wurden, ließen sie voneinander ab.
Draußen war die Welt noch gleich. Innen war alles anders.
Zufrieden und erlöst hörten die beiden dem weiteren Eisflüstern zu. Diese zarten Geräusche entstanden, wenn unzählige kleine Eiskristalle abbrachen und zur Erde fielen. Aufgewärmt von der Sonne platzen sie auf und wurden von der ganz leichten Brise erfasst. Wie ein Schleier rieselten sie zum Boden. Es gab kleine Eisflächen, die abbrachen. Es gab große. Dementsprechend gab es sehr leises und etwas lauteres Rascheln. Und überall diese Eiswolken. Wohin sie ihren Kopf auch wandten. Es war wie in einem Wunder.
„Die Natur hält immer wieder eine Überraschung bereit. So vergessen wir nicht, wie schön das Leben ist“, sinnierte der Hamelner.
„Als könnte ich das in Deiner Gegenwart vergessen. Für Nichts auf der Welt wollte ich jetzt an einem anderen Ort oder in Begleitung eines anderen Menschen sein. Ich habe etwas Glühwein und belegte Brötchen mit. Lass uns zu den Jägerstand gehen und eine Vesper einnehmen.“
Nahe des Jägerstandes war eine sumpfige Fläche. Frisches, hohes, grünes Gras war zwischen dem Schnee zu erkennen. Dort banden sie ihre Rappen an.
Erst als die Sonne wieder schwächer wurde, kamen die beiden Verliebten am Schloss Hämelschenburg an. Bis zum späten Abend saßen die beiden bei Tee in Melindas Zimmer und quatschten. Diesen Eindruck hatte zumindest die jüngere Schwester der Fürstentochter. Doch sowie ihre vorwitzige Nase wieder aus der Tür verschwunden war, lagen sich die beiden Verliebten in den Armen und schmusten, bis ihre Lippen wund wurden.
In der letzten S-Bahn nach Hameln musste Merander noch einmal an die Worte der alten Wahrsagerin denken. Eine Fürstentochter wirst Du treffen. So ganz anders, als Du sie Dir vorstellen magst.
Als er auf dem Mittelaltermarkt das Zelt der alten Frau verlassen hatte, hatte er ihr kein Wort geglaubt. Ab heute sah er diese Dinge mit anderen Augen.

* * *

Ich schreibe so viel Ernstes, Trauriges, Schauriges und Nachdenkliches. Es war unbedingt mal wieder Zeit, etwas Romantisches, Lockeres und Liebevolles vorzustellen.
 

http://www.webstories.cc 29.03.2024 - 03:35:11