... für Leser und Schreiber.  

Der Klavierlehrer

169
169 Stimmen
   
© Delilah Leontine   
   
Im Autoradio lief noch einmal die Musik aus Phantom der Oper. Aufgeregt lasse ich die gesehene Vorstellung, eine Neuinszenierung des Klassikers, vor meinem inneren Auge Revue passieren.
„Du warst toll“, sage ich. Ich bemühe ich um einen ruhigen Ton, damit du mir meine Aufregung nicht anmerkst, doch die Worte sprudeln nur so aus mir heraus.
„Alles war toll. Das Stück, die Kostüme, Christine, das Phantom …“ Ich mache eine kurze Pause, weil ich nicht wie eines dieser typisch jungen Hühner gackern möchte, die du sonst um dich scharst und weil mir plötzlich die Worte fehlen. Doch als wüsstest du, was ich sagen möchte, nimmst du meine Hand, führst sie an deine Lippen und küsst sie. Und wieder durchfährt mich dieser Schauer, dieses angenehme Prickeln wenn du mich berührst. Mein aufgewühlt sein von der Vorstellung weicht einer anderen Art von Aufregung. Ich spüre, wie sich mein Puls beschleunigt und ich muss mich von dir abwenden um nicht völlig die Fassung zu verlieren. Ich konzentriere mich auf die Straße, zähle die Geschäfte an denen wir vorbei fahren.
„Dir hat es also gefallen?“ fragst du meine Hand noch immer festhaltend.
Mein Blick kehrt zu dir zurück, in dein Gesicht. Mutig wage ich es einen Blick in deine Augen zu riskieren und strahle dich an. „Oh ja, das hat es.“ Sage ich leise und noch bevor meine Stimme versagt werde ich wieder leise.
„Das freut mich.“ Du erwiderst meinen Blick und hältst ihn fest während du meine Hand erneut an deine Lippen führst und sie küsst.
Mein Puls beschleunigt sich erneut. In meinem Bauch macht sich an angenehmes Kribbeln breit und hüllt mich ein wie in Watte. Dann legst meine Hand zurück in meinen Schoß und konzentrierst dich wieder auf den Straßenverkehr um uns sicher nach Hause zu bringen. Um uns zu dir nach Hause zu bringen. In die Hölderlinstraße. In die Hölderlinstraße 28 um genau zu sein.
Du drehst die Musik einen Tick lauter und ich lasse mich tiefer in den Sitz sinken. Ich bin froh mich kurz sammeln zu können, unbeobachtet durchatmen zu können. Von der Musik lasse ich mich weglocken, lasse all die Häuser vorbei ziehen, lasse die Stadt hinter mir. Alles scheint so unwirklich.
Verstohlen betrachte ich dich von der Seite. Deine Hände liegen ruhig auf dem Lenker, dein Blick ruht auf der Straße und deine Atmung scheint normal zu gehen. Ich betrachte dein Gesicht, deine Haare, die vom Waschen noch seidig glänzen, betrachte deine Schläfen, die bereits leicht ergrauen, mein Blick wandert zu deinem Profil. An den Lachfalten um deine Augen herum bleibe ich erneut hängen. Du bemerkst meinen Blick und lächelst in dich herein während ich meinen Blick an dir hinunter gleiten lasse. Für heute Abend hast du dich für Bluejeans, Hemd und Sakko entschieden. Du siehst umwerfend aus darin. Du wirkst reif aber auch ein bisschen frech in deinem Outfit.

Als wir uns vor einem halben Jahr kennenlernten hätte ich nie an das hier gedacht. Meine Mitbewohnerin wollte unbedingt noch ausgehen an diesem Samstagabend. Ich hatte keine Lust. Ich wollte lieber zu Hause bleiben, ein schönes Buch lesen oder eine DVD schauen. Aber sie wollte unbedingt noch weg gehen, wollte unbedingt noch Männer kennenlernen. Sie hatte sich vor kurzem von ihrem Freund getrennt und brauchte etwas „Abwechslung“. Also ließ ich mich zu einem Caipirinha überreden und wir verbrachten diesen Abend im Sausalitos. Unser Kumpel und fast Mitbewohner war ebenfalls mit und während die beiden gerade ihrer Sucht vor der Tür frönten, stolperte Er plötzlich an meinen Tisch. Er parkte seinen Caipirinha auf dem Tisch und stellte sich als Ben vor.
„Ben wie Benjamin?“ fragte ich etwas lauter um die Musik zu überdröhnen.
„Nein“, lachte er. „Ben wie Ben. Deine Freundin hat gesagt an eurem Tisch sei noch Platz.“ Ich schaute erstaunt. Er sah nun wirklich nicht so aus, als passte er in Alicias Beuteschema. Woher kannte sie ihn denn? Ich wagte einen Blick und betrachtete Ben, als er sich suchend nach Alicia umschaute. Er schien Anfang 40 zu sein, also gute 15 Jahre älter als wir. Er war mittelgroß, hatte dunkelblondes Haar mit bereits ergrauten Schläfen und ein freundliches Gesicht.
„Und wie heißt du?“
„Lis.“
„Lis wie …“
„Elisabet“, beendete ich seinen Satz und grinste.
Es stellte sich heraus, dass Ben ein neuer Dozent an der Uni war. Der neue Klavierlehrer. Alicia hatte schon von ihm erzählt und auch davon, dass alle Studentinnen nun in seinen Kurs wollten. Auch sie wollte in seinen Musical-Kurs. Ich begann mich zu erinnern und beäugte Ben noch einmal kritisch. Wie ein Klavierlehrer sah er nun wirklich nicht aus. Er wirkte jung, trotz seines Alters, und spritzig, keinesfalls wie ein angestaubter, oberlehrerhaft wirkender Klavierlehrer.
Nein, Musik war nun wirklich nicht meins. Ich hörte zwar gern Musik, aber selbst ein Instrument spielen? Das war sicher nicht meins. Ich vergrub mich lieber hinter Büchern oder beobachtete Menschen heimlich. Seit einem halben Jahr nun arbeitete ich bei der Lokalzeitung. Beim Volontariat wird man nochmals durch alle Abteilungen geschickt, so wie damals als Praktikant. Im Moment war ich beim Feuilleton, Steven nahm mich zu jeder Lokalrunde mit. Er verfolgte die Diskussionen, ich beobachtete wie viele Zigaretten sie beispielsweise rauchten, oder wer mit wem heimlich flüsterte. So kam ich zu meiner eigenen kleinen Kolumne als Randnotiz im Feuilleton. Alicia hingegen liebte Musik. Sie wollte unbedingt Sängerin werden. Ihr Studium allerdings trieb sie nur mit mäßigem Erfolg voran.
„Willst du nicht mitkommen?“ Alicia rammte mir ihren Ellbogen in die Seite und holte mich unsanft in die Realität zurück.
„Wohin mitkommen?“ Ich hatte mich aus der Unterhaltung ausgeklinkt und daher den Anschluss verpasst.
„Herr Huthügel, also Ben möchte das Phantom der Oper neu inszenieren. Dazu gibt es eine Kursfahrt nach Hamburg. Ein Platz ist noch frei. Willst du nicht mitkommen?“ Alicia klang aufgeregt und wann immer sie so klang, konnte ich ihr wohl kaum einen Wunsch abschlagen.
„Aber ich bin doch gar keine Studentin mehr“, begann ich, wurde jedoch von Ben gleich wieder unterbrochen.
„Das macht nichts. Da ich die Fahrt organisiere und leite würde ich da schon einen Weg finden.“ Er lächelte mich entwaffnend an.
„Bitte, bitte, bitte“, bettelte Alicia und zog an meinem Arm. Hamburg wollte ich schon immer mal sehen überlegte ich und stimmt schließlich zu.
Freudig schlang Alicia ihre Arme um mich und küsste mich auf die Wange.
„Um dich anzumelden bräuchte ich nur noch deinen Namen und eine Emailadresse von dir.“ Damit schob mir Ben freundlich lächelnd eine Serviette und einen Kuli zu.

Etwa eine Woche später, ich hatte mich beim Radfahren gerade ausgepowert und war froh die Wohnung für mich allein zu haben, machte ich es mir auf dem Balkon gemütlich, holte den Laptop freute mich ungestört im Netz surfen zu können. Alicia war mit Martin unterwegs. Das hieß es würde spät werden und sicherlich feucht fröhlich bei den beiden.
Ich entschied mich für meine Lieblings DVD, als mein Handy vibrierte. Eine neue Nachricht in meinem Posteingang:

Hallo,
es ist Samstagabend und Caipirinha-Zeit. ;-)
lg Ben mit dem frech parkenden Caipi ;-)

Ich musste schmunzeln. Alicia hatte wohl doch geplaudert. Oder woher wusste Ben von der Sache mit dem „frech parkenden Caipi“?
Es folgte ein lustiges Geplänkel und „Fachsimpeln“ über Caipis und die Bedienung im Sausalitos.
In den folgenden Tagen und Wochen erhielt ich immer wieder Emails von Ben. Sie drehten sich jedoch meist um Caipirinhas und ihre Zubereitungsweise. Obwohl mir Ben weder etwas von sich verriet noch Fragen an mich stellte, wurde ich neugierig. Ich freute mich auf das abendliche Geplänkel und die gegenseitigen Frotzeleien mit ihm. Das war einfach und leicht. Er stellte keine Anforderungen und ich konnte wunderbar vom Stress in der Redaktion abschalten, bis mich drei Wochen später folgende Mail von Ben erreichte.

Bin in Würzburg. Kommst du?
Würde mich freuen
Ben

Diesen „ernsten“ Ton in seinen Mails war ich nicht gewöhnt. Dementsprechend konnte ich ihn auch nicht ernst nehmen.

Was soll ich denn in Würzburg?
Lg

Mich besuchen beispielsweise …
Und mit mir einen Caipi trinken gehen …

Nein, ich konnte Ben nicht ernst nehmen mit seiner Bitte. Frotzeleien waren eine Sache. Was sollte ich in Würzburg? Was sollte ich bei ihm in Würzburg? Was machte er überhaupt in Würzburg?

Was machst du in Würzburg?

Unikram. Kommst du?

Nein. Natürlich nicht.

:-(

Warum trinkst du nichts mit all den Hasis und Bambis?

Hasis und Bambis?

Na deine Studentinnen, die mit den großen Rehaugen,
die dich in deinen Kursen anschmachten. ;-)

Ich möchte in deine Augen schauen beim Caipi trinken. ;-)

Plötzlich zuckte es in mir. Ich las seine letzte Nachricht wieder und wieder. Sie verursachte Bauchkribbeln. Das konnte und das durfte nicht sein. Ben war verheiratet und mindestens 15 Jahre älter als ich. Ich war durcheinander. Da blinkte die Kontrollleiste für neu eingegangene Nachrichten erneut auf.

Kommst du?

Ich kann nicht Ben.
Ich muss arbeiten.
Das ist mir zu kurzfristig jetzt nach Würzburg zu fahren. Geh doch einer deiner Studentinnen, die haben schöne große Rehaugen.

Ich möchte kein Bambi bei mir sitzen haben.
Ich möchte dich.

Aber wir kennen uns doch kaum. Was willst du mit mir?

Dich kennenlernen.
Macht man das nicht so?

Ich war verdutzt. War das jetzt eine Laune von Ben oder wollte er mich wirklich kennenlernen? In meinem Bauch kribbelte es. Aber er war doch verheiratet? War er doch? Oder nicht? Ich konnte mich nicht mehr erinnern was Alicia von ihm erzählt hat.

Es tut mir leid Ben, ich kann nicht nach Würzburg kommen. Außerdem muss ich los. Ich wollte gerade noch eine Runde mit dem Rad drehen.

Schade. :-(

Ich schaltete den Computer aus und schwang mich aufs Rad. Ich musste den Kopf frei kriegen. Ich musste Ben aus dem Kopf kriegen. Ben und seine seltsamen Mails.
In den kommenden zwei Tagen hörte ich nichts mehr von Ben. Das war ungewöhnlich. Nicht mal eine Caipi-Mail von ihm. Also schrieb ich ihm.

Hallo Ben,
alles in Ordnung bei dir? Oder bist du in der Caipi-Bar versackt mit den Bambis.
Lg Lis

Hallo Lis,
nein ich bin nicht versackt. Ich wollte keine Bambis treffen. Ganz im Gegenteil, ich muss mich vor ihnen verstecken. ;-)
Ben

;-) Ich hoffe du hast ein paar gute Verstecke gefunden. … Ich dachte schon du bist sauer.

Nein, sauer war ich nicht. … aber ein bisschen enttäuscht, weil du nicht gekommen bist.

Was wolltest du denn von mir in Würzburg?

Mit dir reden.

Mit mir reden?
Worüber wolltest du mit mir reden?

Über …

Über …?

Ist doch egal. Ich wollte einfach mit dir reden.

Ich spürte das Ben traurig war und ich fühlte mich hilflos. In meinem Bauch zuckte es und ich musste unbedingt meine Fassung wieder gewinnen. Was hieß denn er wollte mit mir reden?

Über was wolltest du mit mir reden? Wir kennen uns doch kaum.

Eben. Da fällt das reden manchmal leichter.

Und über was wolltest du reden?

Über dies und über das.

Was ist denn dies und das?

Das spielt jetzt keine Rolle mehr. … Ich wollte mit dir einen Caipi trinken und die Bedienung in Würzburg testen. ;-)

Die Bedienung testen? *entsetzt guckt*

;-)

Wieso hast du eigentlich nicht mit deiner Frau getestet?

Da läufts nicht so gut. :-(

Na das hatte mir noch gefehlt. Ein Ben der Liebeskummer und Eheprobleme hat und ausgerechnet mit mir darüber reden möchte. Ein bisschen geschmeichelt fühlte ich mich dann doch. Dass er ausgerechnet mit mir seine Sorgen teilen möchte.

Tut mir leid, dass ich nicht kommen konnte.

Dann kommst du beim nächsten Mal? *hoff*

Wie meinst du das?

Ich bin in drei Wochen wieder beruflich unterwegs. Diesmal muss ich nach Heidelberg. Trinken wir dort einen Caipi? ;-)

In Heidelberg?

In Heidelberg.

Da kenne ich allerdings kaum Kneipen, obwohl ich mal dort gewohnt hab. Aber ich kenne eine gute Pizzeria.

Du hast mal in Heidelberg gewohnt? Dann kennst du dich aus in der Stadt?

Ja hab ich. Für sechs Monate ungefähr. Alles in der Stadt kenne ich natürlich nicht. Aber ein paar schöne Fleckchen hat‘s schon.

Zeigst du mir deine Pizzeria?

Ben ließ nicht locker. Jeden Tag fand er eine neue Ausrede, eine neue Begründung warum ich ihn in Heidelberg besuchen sollte. Schließlich willigte ich ein. Allerdings bereute ich meinen Entscheidung als ich im Zug saß. Ich war aufgeregt. Meinem Magen war schlecht und meine Hände waren schwitzig. Ben und ich hatten uns in den letzten Wochen zwar regelmäßig geschrieben. Allerdings mehr aus Unsinn heraus. Wir hatten kaum eine ernsthafte Unterhaltung geführt und nun wollte ich mich zum Pizza essen mit ihm treffen?! Ich hatte keine Ahnung worüber ich mit ihm reden sollte. Wir konnten schließlich nicht während des gesamten Treffens über die Zubereitung eines alkoholischen Getränks reden. Zu mehr hatten wir es in unseren Emails auch nicht gebracht. Eigentlich war es völlig idiotisch zu ihm zu fahren. Aber ein bisschen neugierig war ich schon auf Ben. Und als der Zug endlich im Bahnhof einrollte, drohten meine Knie endgültig ihren Dienst zu versagen. Mit zitternden Knien stieg aus dem Zug aus und suchte in der wartenden Menge nach Ben. Da stand er. Um mich herum schien die Zeit stehen zu bleiben. Ich sah nichts anderes mehr. Ich sah nur noch ihn. Verdutzt schaute er mich an, den Mund voll Bretzel.
„Hallo Herr Klavierlehrer“, grinste ich ihn an.
Entschuldigend zeigte er auf seine Bretzel. „Ich dachte ich hätte noch ein paar Minuten, aber dein Zug kam früher.“ Lächelnd schaute er mir ins Gesicht und zum ersten Mal sah ich dass er grüne Augen hatte. Freundliche, grüne Augen. Meine Knie wurden noch weicher.
Schelmisch grinsend zog er mich in seinen Arm.
„Hallo Caipi-Freundin“, flüsterte er in mein Ohr. Mich durchfuhr es, als ich seinen Mund so nah an meinem Ohr wahrnahm.
Unbeholfen erwiderte ich seine Umarmung.
„Bist du verlegen?“ fragte er nicht ohne einen leisen Spott in der Stimme.
Ich rang um meine Fassung. „Verlegen? Wieso sollte ich verlegen sein, Herr Klavierlehrer.“
Statt zu antworten grinste er in sich hinein. Dann verstaute er die Bretzel in seiner Tasche und wir machten uns auf den Weg zur Pizzeria.
„Ein Klavierlehrer mit Handtasche“, spottete ich und bahnte mir einen Weg durch die Fußgängerzone.
„Oh, die Journalistin von Welt kennt keine Klavierlehrer mit Handtasche“, spottete er zurück.
Ich lachte schaute zu ihm. Sein Lächeln fesselte mich. Sein Gesicht sah warmherzig und schön aus. Die Lachfalten um seine Augen herum ließen darauf schließen, dass er gern lachte. Überhaupt sah Ben ganz gut aus. Wenn ich Musik studieren würde, würde ich mich wohl auch in seinen Kurs einschreiben.
Den Weg zur Pizzeria verbrachten wir mit gegenseitigen Spötteleien und Hänseleien. Ich musste mich konzentrieren ordentliche Schritte zu machen und einen Fuß vor den anderen zu setzen, damit ich vor Aufregung nicht stolperte. Ich ärgerte mich ein wenig über mich selbst, dass ich kein vernünftiges Gespräch zustande brachte und ihn nur ärgern konnte. Eigentlich wollte ich Ben gar nicht ärgern. Aber alle halbwegs sinnvollen Fragen die ich mir auf der Fahrt ausgedacht hatte waren plötzlich verschwunden. In meinem Kopf herrschte gähnende Leere. Ich kam mir dumm vor. Und ich wollte auf gar keinen Fall, dass Ben das merkt.
Es war Ben, der die Stimmung beim Essen änderte. Er fragte mich, was mich bewogen hat Journalistin zu werden. Diese Fragestellung lies zunächst erstmal keinen Spott zu. Ben beobachtete mich. Mein Puls reagierte und mein Kopf war schon wieder leer. Ich wiederholte seine Frage um Zeit zu gewinnen und um mich zu konzentrieren.
Wir schafften es tatsächlich eine kurzweilige Unterhaltung über unser beider Berufe zu führen. Ben beobachtete mich, während ich nicht wusste wohin ich schauen sollte. Ich war dankbar über die gegenüberliegende Fensterreihe der Geschäfte. Die konnte ich zählen. Es waren siebzehn Fenster insgesamt. Das Zählen verschaffte mir Sicherheit. Als Journalistin keine Fragen stellen zu können war etwas Ungewohntes für mich. Ich hoffe nur Ben stempelte mich nicht als eines dieser Bambis aus seinem Kurs ab.
„Und, wie viele Bambis hast du mit deiner Musik schon rumgekriegt?“ fragte ich und lehnte mich entspannt in meinen Sitz zurück. Ich versuchte locker und unverkrampft auszusehen. Ben schluckte schwer.
„Ich hab noch kein einziges rehäugiges Wesen mit meiner Musik rumgekriegt wie du es nennst.“ Er machte eine kleine Pause und schaute mich wieder an. „Eigentlich bin ich ganz schüchtern.“ gab er leise zu.
„Du und schüchtern?!“ Ich musste prusten vor lachen, während Ben grinste.
„Ich bin wirklich schüchtern! Ich bekomme auch nicht gern einen Korb! Dich zu einem alkoholischen Getränk einzuladen, hat mich viel Überwindung gekostet.“
Jetzt war ich irritiert. Ben sah gut aus. Wieso sollte er einen Korb bekommen. Ihm lagen die Frauen doch zu Füßen. Zumindest in meinen Vorstellungen.
„Die Pizza war lecker. Wie wäre es jetzt noch mit einem Caipi? Schließlich haben wir uns doch deswegen getroffen, oder?!“ fragte er schelmisch.
Ich nickte und nachdem er bezahlt hatte machten wir uns erneut auf den Weg durch die Stadt. Da ich allerdings keine Ahnung hatte, wo hier eine vernünftige Kneipe war, irrten wir eine Weile planlos durch die Stadt. Aber mit jeder Minute entspannte ich mich mehr. Ich genoss es, wenn Ben beim Laufen wie zufällig gegen mich stieß und mich berührte. Ich konnte es auch genießen, als er mich plötzlich am Arm hielt, mir sein Handy und die darauf neuste App mit Wegbeschreibung zeigte. Sein Gesicht war dem meinem ganz nah, seine Augen strahlten mich an.
Wir fanden eine Kneipe, bestellten Caipirinhas und verbrachten einen Nachmittag wie zwei alte Freunde. Jeder Tropfen Alkohol der meine Kehle hinunter ran machte mich mutiger. Ben rückte dichter an mich heran, flüsterte mir ins Ohr und brachte mich zum Lachen.
„Wir sollten Bruderschaft trinken“, schlug Ben vor und hob sein Glas. Ich tat selbiges, wir tranken Bruderschaft und küssten uns rechts und links auf die Wange. Mich durchzuckte es. Wie warm und weich sich seine Lippen auf meiner Wange anfühlten. Ich bekam einen roten Kopf und wusste nicht wohin ich schauen sollte.
„Siehst du, jetzt war ich mutig“, flüstere er mir zu.
„Was ist eigentlich mit dir und deiner Frau? Was läuft den bei euch schlecht?“ versuchte ich ganz beiläufig ein Gespräch zu beginnen.
„Nein Lis, nicht heute. Nicht an einem so schönen Nachmittag“, entgegnete er und für einen kurzen Moment verfinsterte sich sein Gesicht. Ben nahm sein Glas, stand auf und rückte zu mir auf die kleine Bank direkt neben mich. So viele Berührungspunkte mit ihm machten mich nun doch wieder nervös. Ich nahm einen Schluck aus meinem Glas und hoffte auf die beruhigende Wirkung des Alkohols.
„Wieso bist du Single?“ fragte Ben. „Gefallen dir Männer nicht?“ Seine Frage klang scharf. Es war keine beiläufig gestellte Frage um ein Gespräch in Gang zu halten. Er wollte es wirklich wissen. Dann lehnte er sich an mich und deutete mit dem Kopf auf ein Männerpärchen am gegenüberliegenden Tisch.
Ich schaute ihn entrüstet an.
„Wenn du dich nicht traust, kann ich auch für dich fragen gehen“, grinste er und erhob sich.
„Bloß nicht!“ zischte ich und zog ihn am Arm wieder zu mir hinunter.
Ben grinste und mir wurde bewusst, dass ich es diesmal war, die ihn berührt hat, fast so, als hätte er es genau darauf angelegt.
Ben orderte zwei neue Gläser und schob dem Kellner unsere leeren Gläser zu. „Oder möchtest du was anderes? Ich lad dich ein, du darfst dir alles bestellen!“ Schnell schob er mir die Karte zu.
„Für den Anfang ist das gut“, nickte ich dem Kellner zu. „Aber was ist wenn ich nachher eine ganze Flasche Champagner möchte?“ wandte ich mich wieder an Ben, denn Champagner war das teuerste was ich auf Anhieb gefunden habe.
„Heute darfst du bestimmen. Heute darfst du alles mit mir machen was du willst!“ entgegnete er fröhlich.
Mutig vom Alkohol fragte ich: „Wirklich alles?“
„Alles!“
Während der Kellner zwei neuer Gläser mit Caipirinha brachte, drehte Ben sein Gesicht zu mir und flüsterte: „Ich habe hier ganz in der Nähe ein Hotelzimmer. Wenn du willst …“ Er sah verwegen aus.
Ich war froh, dass etwas Neues auf dem Tisch stand. Das konnte ich in die Hand nehmen, Zeit gewinnen und – was viel wichtiger war – ich konnte mich daran festhalten.
„Ganz sicher gehe ich nicht auf ein Hotelzimmer mit dir!“ Ich versuchte ernst auszuschauen um meinen Worten Nachdruck zu verleihen.
Ben hingegen zuckte die Schultern. „Ich wollte nochmal mutig sein!“ Damit stand er auf und setzte sich wieder auf den Platz links von mir.
Es entstand ein kurzes unbehagliches Schweigen und ich hielt mich an meinem Glas fest. Ben beobachtete mich. Dann nahm er meine Hand vom Glas und hielt sie fest in seiner. Mit dem Daumen liebkoste er den Ring an meiner rechten Hand.
„Der sieht schön aus an dir.“ Er schaute mir in die Augen und hielt meinen Blick fest. „Schön dass du da bist. Wirklich, ich freu mich dass du wegen mir den weiten Weg gekommen bist.“
Sämtliches Unbehagen verschwand. Es gab nur noch Ben und mich. Es war als würde die Zeit stillstehen. Aber die Zeit blieb nicht stehen. Im Gegenteil, sie verging viel zu schnell. Ich musste zurück zum Bahnhof. Ben fragte noch einmal ob ich nicht bei ihm übernachten wolle. Ich lehnte ein zweites Mal ab. Dann bat er mich wenigstens einen Zug später nach Hause zu fahren, doch wir fanden keine Verbindung mehr für den aktuellen Tag und Ben musste ich mich zum Bahnhof bringen.
Ben ließ es sich nicht nehmen sich für den Weg zum Bahnhof bei mir einzuhaken. „Wir haben beide Alkohol getrunken und sollten aufeinander achtgeben“, sagte er, hob den Finger und tat als würde er fürchterlich wanken. Ich lachte und so setzten wir Arm in Arm unseren Weg zum Bahnhof fort.
An den Treppenaufgängen des Bahnhofgebäudes blieb Ben stehen, schaute mir in die Augen und zog mich dann langsam in seine Arme.
„Ich hab ein Whirlpool in meinem Hotelzimmer. Den könnten wir gemeinsam ausprobieren“, flüsterte er.
Ich löste mich aus seiner Umarmung, hielt aber seine Hände fest. „Wirklich nicht Ben.“
„Schade.“ In gespielter Traurigkeit zog er mich wieder an sich. Ich genoss seine Umarmung, seine Nähe, emotional und körperlich, ich versuchte mir seinen Duft und seine Stimme genau einzuprägen, damit ich sie auf der Zugfahrt immer wieder hervor holen und erleben konnte.
„Danke für deinen Besuch Lis. Es war ein wunderbarer Nachmittag mit dir.“
Ich wand mich aus seiner Umarmung, küsste ihn unbeholfen auf Wange und verschwand dann in das Gebäude. Ich bin mir sicher Ben schaute mir nach, aber ich konnte mich nicht noch einmal umdrehen, sonst wäre ich wohl schwach geworden.
Erst zu Hause angekommen schaltete ich mein Handy wieder an. Mich erwarteten 38 neue Nachrichten von Ben. In allen wünschte er mir einen guten Heimweg und eine gute Nacht. In manchen bedankte er sich nochmals für den schönen Nachmittag und in ganz wenigen erklärte er sein Verhalten und entschuldigte sich, falls er zu weit gegangen sei.
Nach dieser Begegnung schrieben wir uns weiter Emails und chatteten am Abend. Unsere Gespräche veränderten sich allerdings. Die Späße wurden weniger, die Inhalte dafür ernsthafter.
Dann stand schon bald die Kursfahrt an.

Die Studentinnen waren anstrengend. Alle schwärmten sie von Ben. Im Zugabteil flüsterten sie, dass ihn seine Frau verlassen hätte und er sich nun mit jungen Studis tröstet. Alicia warf mir einen Blick zu, sie wusste dass Ben und ich die Abende häufig gemeinsam mit chatten verbrachten. Dazu schwieg sie allerdings und ich erzählte nichts von Ben, was sie nicht auch an der Uni erfahren würde. Ben hat mir von seiner Frau Isabell erzählt und davon, dass sie sich getrennt haben vor wenigen Wochen. Noch viel später hat er mir erzählt, dass er dazu in Würzburg war, um die letzten Dinge einer Trennung zu besprechen. Danach habe er sich einsam und allein gefühlt. Daher seine Frage und sein Drängen ihn dort zu besuchen.
In Hamburg hatte Ben viel zu tun. Ich erwischte ihn kaum allein. Bevor wir uns abends das Musical anschauten gab es vormittags noch ein „Seminar“ für alle Teilnehmenden. Ben erklärte nochmals worauf die Studis während der Inszenierung achten sollten, dass sie an ihre Notizen denken und ansonsten Spaß haben sollten. Dann schickte er sie alle weg, damit sie Hamburg erkunden konnten.
Noch während ich mit Alicia und den anderen Studis das Foyer des Hostels verließ, vibrierte mein Handy.

Ich habe ein Café entdeckt ganz für uns allein, da dürften sicher vor rehäugigen Bambis sein. ;-)
Floßgasse 8, 14:00 Uhr
Ich freu mich auf dich!
Ben :*

In meinem Bauch kribbelte es. Ein küssender Smiley. Sowas hatte Ben noch nie geschickt. Ob das eine neue Mutprobe war, die er sich selbst auferlegt hatte? Wie damals in Heidelberg? Wie auch immer, Ben freute sich also auf mich. Und wie ich mich auf ihn freute. Alicia kam zu mir zurück. „Ich geh dann mal mit den anderen die Stadt unsicher machen.“ Sie grinste mich an. „Hab viel Spaß mit dem Klavierlehrer“, flüsterte sie in mein Ohr, während sie mich umarmte und dann mit den anderen verschwand.
Ich ging aufs Zimmer, duschte und überlegte was ich wohl am besten anziehen sollte. Ich entschied mich für das neue Kleid. Es war schulterfrei, knielang, rot, hatte schwarzen Punkte und einen Gürtel unterhalb der der Brust. Dazu das schwarze Bolero-Jäckchen, falls es mich doch frösteln sollte. Dann machte ich mich auf den Weg in die Stadt. In hatte noch eine gute Stunde Zeit und trödelte durch die volle Stadt. Ich genoss die Sonne, beobachtete die Menschen um mich herum und bummelte durch die Gassen.
Plötzlich hielt mir jemand von hinten die Augen zu und sofort wurden meine Knie weich. „Hallo, schön dich zu sehen“, strahlte er mich an. Seine grünen Augen glänzten und sein Lächeln entblößte seine tadellos gepflegten Zahnreihen. „Komm mit, ich weiß einen Ort, an dem wir ungestört sind.“ Und schon zog er mich in ein Café, durchquerte es und wir landeten in einem ruhigen, aber gepflegten Hinterhof. Wir bestellten Kaffee und Chai-Latte und plötzlich war mein Kopf wieder leer.
„Freust du dich auf heute Abend?“ fragte er und ich war froh ein Gesprächsthema zu haben.
„Natürlich freu ich mich.“
„Versprich mir heute Abend genau hinzuhören.“
Ich sah ihn verdutzt an.
„Lis, du sollst genau hinhören, die Musik hören und dich von ihr mitnehmen lassen. Machst du das?“
Ich nickte.
„Gut! Dann kommen wir jetzt zum schönen Teil des Nachmittags.“ Ben strahlte mich wieder an. Er beobachtete mich ganz genau und ich fühlte mich wieder unsicher. Da nahm er meine Hand und verschränkte sie mit der seinen.
„Du siehst toll aus in deinem Kleid. Das steht dir. Das könntest du ruhig öfter tragen!“
Ich wurde rot. Ben kicherte, ließ mich aber nicht aus den Augen und ließ auch meine Hand nicht los.
„Wir wollten an unserem Mut arbeiten. Erinnerst du dich?“
Wieder nickte ich.
„Dann küss mich.“
Ich schaute ihn erstaunt an. Aber er schien das wirklich ernst zu meinen, denn er hob die Augenbrauen.
Ich beugte mich zu ihm hinüber. Die halbe Strecke kam er mir mit seinem Gesicht entgegen. Ich blickte ihm noch einmal in die Augen, dann schloss ich meine Augen und machte mich darauf gefasst seine Lippen auf meinen zu spüren. Und tausende Flügelschläge von Schmetterlingen. Seine Lippen waren wunderbar warm und weich. Schon spürte ich Bens Hände in meinem Nacken, die mein Gesicht an seinem hielten. Wir küssten uns und für mich schien die Zeit stehen zu bleiben. Ich vergaß alles um mich herum. Es gab nur noch Ben und mich und diesen Kuss.
Ben wurde fordernder. Seine Zunge berührte meine Lippen und ich öffnete sie ein winziges Stück. Aber weit genug, damit sich unsere Zungen berühren und miteinander ein aufregendes Spiel spielen konnten. Dann löste sich Ben von meinen Lippen und schaute mich an.
„Wow! Davon will ich mehr!“ sagte er und küsste mich erneut. Zuerst zaghaft, dann doch leidenschaftlicher und fordernder.
Diesmal fuhr auch ich mit meinen Händen durch seine Haare und hielt mich daran fest, während ich ihn küsste.
Ich verlor jegliches Gefühl für Raum und Zeit.

Hamburg verging viel zu schnell. Die Zeit mit Ben verging viel zu schnell. In Hamburg hatten wir nach der Musical-Vorstellung nur noch einen gemeinsamen Spaziergang an der Alster. Direkt nach der Vorstellung. Ben fand einen Vorwand die Studis abzuwimmeln und stahl sich mit mir davon. Wir rannten, bis uns die Kehlen brannten und wir uns sicher waren, dass uns keine Bambis gefolgt sind. Auf einer kleinen Brücke blieben wir stehen und rangen nach Luft, während wir uns vor Lachen die Bäuche hielten.
„Ganz schön kindisch vor deinen Studenten wegzulaufen“, sagte ich.
„Stimmt, aber du willst mich doch sicher nicht mit den Bambis hier teilen, oder?“ Sein Grinsen sah spitzbübisch aus. Ben kam auf mich zu, nahm mich in den Arm, drückte mich mit an das Brückengeländer und küsste mich. Und da war er wieder. Der Funkenschlag in meinem Bauch. Ich schmiegte mich an ihn und versuchte alles in mich einzusaugen, versuchte Ben in meinem Kopf abzuspeichern.
Ben nahm meine Hand und spazierte schweigend mit mir an der Alster entlang. Ich genoss es. Ich wollte nicht an meine Unzulänglichkeiten denken, an sein Seminar oder gar an seine Frau. Ich wollte einfach nur Ben genießen. Bis er plötzlich unsere einvernehmliche Stille unterbrach.
„Es tut mir leid, dass wir uns verstecken müssen.“
Ich schaute fragend zu ihm.
„Du bist eine tolle Frau Lis. Ich schäme mich nicht mit dir. Ganz im Gegenteil. Du machst mich jung. Bei dir fühle ich mich jung, spritzig und voller Elan. Du inspirierst mich.“
Ich strahlte Ben an. So ein Kompliment hatte ich noch nie gehört. Er nimmt mich tatsächlich als Frau wahr und nicht als einen jungen Hüpfer.
„Aber“, begann Ben erneut. „Aber ich habe mit meiner Frau gerade eine Beziehungspause eingelegt. Wir wollten Abstand von einander, schauen, was dann aus uns wird.“
Aua, das schmerzte. Ich wand den Blick ab von Ben. Den Schmerz sollte er nicht sehen. Aber Ben nahm mein Gesicht in seine Hände und zwang mich ihn anzuschauen.
„Aber mir dir ist alles so leicht. Du belebst mich Lis, du forderst mich und ich kann kaum von dir ablassen.“ Den letzten Teil flüsterte er fast und macht mir damit wieder weiche Knie.
„Wohin soll das alles führen Ben?“ fragte ich
„Ich weiß nicht wohin es führt Lis. Aber ich brauche dich. Und ich will dich.“
Für den Anfang reichte mir das. Ich gab mich Ben erneut hin und küsste ihn, so, als wolle ich seine Sorgen wegküssen. Mich hat noch nie ein Mann gebraucht oder gar gewollt. Auch ich brauchte Ben. Er machte mir Mut und gab mir neues Selbstbewusstsein. Ja, ich wollte gebraucht werden. Von ihm gebraucht werden.
„Ist es okay, wenn wir das nicht …“ Ben druckste herum. „Na wenn wir das nicht an die große Glocke hängen?!“
Beseelt von der Vorstellung, dass Ben ausgerechnet mich will, nickte ich zustimmend und presste mich an Bens Körper, als wollte ich meine Entscheidung noch deutlicher machen.

Ich dachte an Alicia, während ich den Einkauf die Treppen zu unserer Wohnung hochschleppte.
„Na wie ist der Klavierlehrer?“ hatte sie gefragt. „Ist er im Bett auch so heiß wie in an der Uni?“ Alicia nahm nie ein Blatt vor dem Mund. Ungeniert fragte sie mich nach Ben aus.
„Wir schlafen nicht miteinander“, hatte ich geantwortet. Ben und ich verbrachten viel Zeit miteinander, wir redeten, wir gingen essen, wir berührten uns, hielten uns an den Händen und küssten uns. Aber Sex hatten wir keinen. Wir waren ja auch nie ungestört. Keiner von uns lebte allein. Ben wohnte mit Isabell in einer Zwangs-WG, bis sie was Eigenes gefunden hat, ja und ich?! Ich lebte mit Alicia zusammen. Es war mir peinlich und unangenehm sie zu bitten uns einen sturmfreien Abend zu gewähren. Je mehr Zeit ich mit Ben verbrachte, desto süchtiger wurde ich nach ihm. Wenn Ben einen Abend hier verbrächte, würde ich sicher noch mehr Zeit mit ihm wollen.
„Was macht ihr denn den ganzen Tag?“ hakte Alicia nach.
„Alicia!“ entgegnete ich empört.
„Ach ja, ich weiß. Ihr seid nur ‚Freunde‘.“ Das ‚Freunde‘ betonte sie mit einem besonderen Spott. Aber wenigstens musste ich ihr darauf keine Antwort mehr geben.
Während ich die letzten Stufen zur Wohnung nahm, vibrierte mein Handy in der Tasche. Ich hatte keine Hand frei. Egal, dann musste die Nachricht eben warten. Ich schloss die Tür auf und brachte die Einkäufe in die Küche. Dann traf mich der Schlag. Die Küche und auch der Rest der Wohnung sah aus wie ein Schlachtfeld. In der Küche stapelte sich das schmutzige Geschirr und im Flur lagen überall verteilt Alicias Klamotten herum. Oh man, das sah ganz nach WG Party aus. Ich hatte meine Eltern besucht und Alicia hatte zwei Tage sturmfrei. Die hat sie wohl ausgenutzt. Am Kühlschrank klebte ein Post-it von ihr.

Sorry für die Unordnung.
Ich machs wieder gut.
Kuss A.

Ich schnaufte tief durch und erinnerte mich an die Nachricht auf meinem Handy. In diesem Chaos hier hatte ich sie fast vergessen.


Na, wieder zurück im Lande?

Bin gerade zur Tür rein, dann hat mich das Chaos erschlagen. Alicia und Martin hatten wohl eine ausgedehnte WG Party. Die Überreste haben sie mir freundlicherweise da gelassen. :-(

Wie wär‘s, wenn ich dich entführe?

:-) Klingt gut.
Wohin willst du mich entführen?

Überraschung. Du brauchst nur Jacke und Haargummi!

Jacke und Haargummi??? Was ist das denn für eine Entführung?

;-) Es wird dir gefallen. In 45 Minuten hole ich dich ab!
Ich freu mich. Tausend :*

Ben schaffte es mit einer solchen Lockerheit mich auf andere Gedanken zu bringen. Also gut, 45 Minuten um mich umzuziehen und vielleicht das gröbste Chaos zu beseitigen. Die Teller und Töpfe verschwanden im Geschirrspüler. Ich verschwand in meinem Zimmer, legte Luxuslärm ein und ließ mich vom Regen der nach oben fällt mit Ausgelassenheit und Mut anstecken. Letzte Woche hab ich bei Hunkemöller neue Unterwäsche erstanden. Rosé mit schwarzer Spitze. Natürlich dachte ich beim Anziehen wieder an Ben. Wer weiß was er vorhat. Aber ich will gewappnet sein. Dann zog ich ein schwarzes T-Shirt aus dem Schrank. Es versteckte und kaschierte überflüssige Pfunde. Außerdem ließ es durch den Schnitt immer eine Schulter frei. Ich glaube Ben mochte das. Ich grinste verwegen und tanzte durchs Zimmer. Fehlte nur noch eine passende Hose. Ich stöberte durch Alicias Zimmer und schnappte mir ihre neue Hose. Sie wollte das Chaos ohnehin wieder gut machen. Das ist ihre Chance dachte ich mir. Ich schlüpfte ich die Hose und begutachtete mich im Spiegel. Perfekt. Nicht zu aufdringlich oder aufreizend aber auch nicht zu bieder fand ich. Dann klingelte es auch schon an der Tür. Ich schnappte mir Jacke, Handy und Schlüssel und eilte die Treppen hinunter, Ben entgegen.

Ben lehnte lässig grinsend an einem älteren Mazda mx 5 Cabrio.
Ich stockte. „Das ist nicht im Ernst dein Auto?!“ fragte ich mit einem spöttischen Unterton. „Das ist doch ne Aufreisserkarre!“
„Vielleicht hab ich das nötig!“ neckte mich Ben und schloss mich in seine Arme. „Darf ich bitten Frau Journalistin?!“ Er entließ mich aus seinen Armen und hielt mir die Tür auf, damit ich einsteigen konnte.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du als Klavierlehrer es so nötig hast Frauen mit so einer Karre aufzureißen. Ich mein du bist weit über die vierzig, hast einen soliden Beruf und hast doch eigentlich langweilige und eingestaubte Klamotten zu tragen.“ Ben lachte über meinen Spott.
„Haben wir noch mehr Vorurteile und Klischees Frau Journalistin? Nur damit ich nichts falsch mache oder gar etwas vergesse.“ Ben lachte. „Im Übrigen liegt die 40 noch weit vor mir!“
Alle meine Aufregung verflog und ich lies mich in den Sitz sinken, während Ben den Wagen startete und uns in den nachmittäglichen Berufsverkehr lenkte.
„Wie war es bei deinen Eltern?“ begann er und wir verbrachten die nächsten Minuten mit alltäglicher Plauderei. Er erzählte von Isabell und davon, dass sie wohl einen Neuen hat. Einen Spanier. Nun will sie auswandern. Allerdings nicht ohne vorher noch eine kräftige Summe von Ben zu fordern. Die Hälfe des Hauses soll er ihr ausbezahlen. Ich stockte. Da ging es um beträchtliche Summen.
„Wie geht es dir damit, dass sie einen anderen hat?“ fragte ich.
„Gut. Mir geht’s richtig gut damit.“
Ich beäugte Ben argwöhnisch.
„Wirklich. Es befreit mich.“ Er lächelte mich an. „Außerdem habe ich dich, Lis.“
Wie ich seine Worte genoss und in mich aufsog. Auch ich lächelte selig.
Erst jetzt bemerkte ich, dass er das Auto aus der Stadt heraus lenkte Richtung Landstraße. „Wohin fahren wir?“ fragte ich.
„Lass dich überraschen. Ich bin mir sicher, es wird dir gefallen.“ Ben nahm meine Hand, drückte sie kurz und konzentrierte sich dann wieder auf den Straßenverkehr.
Ich lehnte mich entspannt zurück und ließ mir den Fahrwind durch die Haare wehen. Ich wollte den Wind spüren, nicht nur in den Haaren. Ich streckte den Arm über die Karosserie lies den Fahrtwind durch meine geöffnete Hand gleiten. Ben beobachtete mich. Aber jetzt war es mir egal. Ich liebte dieses Spiel. Meine Finger passten sich dem Windkanal an und ließen den Wind hindurch strömen. Ben grinste. Ich fühlte mich ertappt und nahm meinen Arm schnell wieder ins Auto.
Stattdessen stöberte ich durch sein Handschuhfach. Ich erwartete Unmengen an klassischen CDs. Aber auch hier überraschte er mich. Fragend hielt ich eine CD von Avicii in die Höhe, begleitet von einem leicht verstörten „So was hörst du?“
Ben lachte. „Sorry, dass das nicht in dein Klischee passt.“ Er nahm mir die CD aus der Hand und legte sie in den CD Player. Dann drehte er die Lautstärke auf und wir hörten Fade into Darkness.
„Ich hätte nur nicht gedacht, dass du das hörst“, brüllte ich über die Lautstärke zu ihm hinüber. Ben konzentrierte sich auf die Musik, sein Kopf wackelte im Takt der Musik, seine Finger schlugen den Takt auf dem Lenker. Ich lachte.
Dann drehte Ben die Musik ein bisschen leiser. „Du hältst mich wirklich für eingestaubt oder?“ fragte er.
„Naja, du bist viel älter als ich“, gab ich kleinlaut zu und Ben lachte und warf dabei den Kopf in den Nacken.
„Hat Frau Journalistin ein Problem mit unserem Alter?“ neckte er mich. „Darf man ab 35 nur noch Klassik oder Volksmusik hören?“
„So meinte ich das auch nicht.“
„Bevor es dich erschreckt, ich geh manchmal noch tanzen. Ich meine so richtig in Clubs und Diskotheken.“
Ich streckte ihm die Zunge raus.
„In zwei Wochen ist Hed Kandi Party im Cocoon Club in Frankfurt. Wollen wir hingehen?“
„Was ist denn eine Hed Kandi Party?“
„Hed Kandi, das ist tolle Musik und tolle Kostüme und viele wunderschöne Frauen“, schwärmte Ben.
Ich warf ihm einen verwirrten Blick zu.
„Den Rest muss Frau Journalistin schon allein heraus finden“, grinste er und ich kramte mein Handy aus der Tasche um zu googeln. Die Bilder erstaunten mich. Die Party-Kostüme erinnerten an Karneval in Rio und sahen wirklich ästhetisch aus. Nein, das hätte ich nicht gedacht von Ben, dass der sensible Klavierlehrer so feiern kann?!
„Und, gehen wir hin?“
Ich nickte. „Sehr gern. Aber ich war noch nie auf einer Hed Kandi Party. Was ziehe ich denn an?“ In meiner Aufregung plauderte ich alle Gedanken laut aus, die ich sonst eher für mich behalten hätte. Ben lachte.
„Ich bin mir sicher, du wirst was finden.“ Ben grinste in sich hinein. Dann wurde er wieder ernst und zeigte auf mein Handy. „Was hörst du denn sonst?“
„Luxuslärm!“ antwortete ich schnell
„Spiels mir vor!“ Ben kramte ein Kabel hervor, mit dem ich Iphone und Radio miteinander verbinden konnte und wenig später dröhnten die ersten Bässe und Takte meines aktuellen Lieblingsliedes aus dem Radio.
Wieder klopfte Ben die Takte auf seinem Lenker mit und ich lies mich wieder vom Regen der nach oben fällt mit Ausgelassenheit anstecken. Dann streckte Ben seinen Arm aus dem Fenster und ließ den Wind durch seine Finger gleiten. Ich tat es ihm nach und ließ mich von der Musik und dem Wind hinweg tragen.
„Ja, so könnte es immer sein meine Liebe!“ sagte Ben als er den Wagen auf einem kleinen Parkplatz hielt. Er hauchte mir einen Kuss auf die Finger und schaute mir in den Augen. Mir ging es durch Mark und Bein.
„Den Rest müssen wir zu Fuß zurücklegen!“ Damit schwang er sich aus dem Auto und ich folgte ihm.
Er folgte einem kleinen Pfad, welcher in ein größeres Waldstück führte. Nach einigen Minuten Pfad wurde der Weg breiter und wir erreichten eine kleine Brücke. Sie verband zwei riesige Felsen miteinander, die aus dem Wasser ragten. Es sah aus wie eine Schlucht mit einem See. Die Aussicht von der Brücke in den gegenüberliegenden Wald und dem tiefergelegenen See war traumhaft. Ich konnte mich kaum satt sehen.
„Wow!“ entglitt es mir ohne nachzudenken.
Ben lehnte sich neben mich an das Brückengeländer. „Das denke ich mir auch jedes Mal, wenn ich hier hinunter schaue.“
Mein Blick glitt nach unten. Unter uns tummelten sich Schwimmer im Wasser. Aber da die Sonne bald unterging waren nur noch wenige Menschen am See.
„Oh Ben, lass uns zum See gehen, bitte!“ bettelte ich und Ben folgte meiner Bitte.
Das Wasser des Sees war noch aufgewärmt von der Hitze des Tages, dennoch fröstelte es mich leicht, als leise Wellen gegen meine Füße schwappten. Ben und ich wanderten Hand in Hand am Ufer des Sees entlang. Wir brauchten nicht viel reden. Wir waren einander genug. Dieser Moment war uns genug.
Plötzlich blieb ich stehen. „Lass uns schwimmen gehen, Ben.“
„Du bist ja witzig. Ohne Schwimmsachen oder was?“ lachte er mich an.
„Sei kein Feigling!“ Damit zog ich mir das T-Shirt über den Kopf und öffnete meine Hose um sie ebenfalls auszuziehen.
Bens Augen weiteten sich. „Oh!“
Ich stand in Unterwäsche vor ihm. Die Ausgabe bei Hunkemöller hatte sich also gelohnt grinste ich in mich hinein. „Wer erster am Felsen ist!“ rief ich ihm zu, rannte ins Wasser und sprang hinein um meinen Vorsprung weiter auszubauen.
Das ließ Ben sich nicht nochmal sagen. Er knöpfte sein Hemd aus, entledigte sich der Hose, Schuhe und Socken und folgte mir ins Wasser.
Wenn ich gewinnen wollte, musste ich schneller schwimmen und meinen Blick von Ben und seinem Körper reißen. Ben tauchte ins Wasser ein. Offensichtlich fröstelte es ihn. „Du bis ja verrückt!“ rief er mir zu und schwamm mit kräftigen Zügen in meine Richtung.
Ich gluckste vor lachen und konnte mich kaum noch aufs Schwimmen konzentrieren, da packten mich zwei Hände an der Hüfte. Ben zog mich dicht an sich heran, hielt mich fest mit seinen Armen und küsste mich. Ich schlang die Arme um seinen Nacken und meine Beine um seine Hüfte. Dann erwiderte ich seinen Kuss. Ich öffnete die Lippen ein wenig und gewährte seiner Zunge Einlass.

Zwei Wochen später klingelte Ben an der Tür. Pünktlich, dachte ich mir mit Blick auf die Uhr und betätigte den Türsummer. Alicia wusste dass wir in den Cocoon Club wollten, das heißt ich musste sie einweihen, damit sie mir bei der Wahl des Outfits und beim Schminken half. Danach hat sie freundlicherweise die Wohnung verlassen, damit Ben und ich in Ruhe kochen konnten. Kochen, das war meine Bedingung nachdem Ben schon die Karten besorgt hatte. Ich wollte mich bei ihm bedanken und lud ihn zum Essen ein. Penne mit Pesto.
„Hallo schöne Frau“, begrüßte mich Ben als er die Wohnungstür erreichte.
„Schmeichler“, entgegnete ich. „Komm herein. Das Essen dauert noch ein bisschen. Du kannst es dir bequem machen und dich umschauen wenn du möchtest“ und verschwand damit in die Küche. Ben beäugte unsere Wohnung kritisch.
„Das erinnert mich an meine erste Bude als Student. Nur sah es bei mir nie so ordentlich aus“, bemerkte er und folgte mir in die Küche.
Da ich bis gerade eben an einem neuen Artikel gearbeitet hatte, stand der Laptop noch auf dem Tisch.
„An was schreibst du gerade?“ fragte Ben.
Ich stellte das Nudelwasser auf den Herd und gesellte mich zu Ben.
„Steven will, dass ich etwas über ein paar Frauenrechtsorganisationen schreibe. Sowas wie ‚Terre de Femme‘.“
„Und?“
„Naja, ist nur so mäßig spannend. Emanzipation halt. Aber mich brachte es zu der Frage, ob diese Welle der Emanzipation etwas mit der Scheidungsrate zu tun haben könnte, oder damit dass Beziehungen heute scheinbar schneller in die Brüche gehen.“
„Das klingt spannend. Und welche Ideen hast du dazu?“ Ben durchquerte die Küche ohne den Blick von mir zu wenden und klaute sich eine Cocktailtomate aus dem Vorrat. Ich setzte mich frech auf den Küchentisch und ließ die Beine baumeln.
„Viele Frauen wollen eben auch ihren Mann stehen und Karriere machen. Aber eigentlich wollen sie von ihrem Partner als Frau wahrgenommen werden.“
Ben schob seine Augenbrauen zusammen und schaute mich an.
„Ja, sie wollen wissen, ob ihr Partner sie tatsächlich begehrt und attraktiv findet.“
Dann war es still in der Küche. Das Nudelwasser blubberte und Ben fixierte mich mit seinen Augen während er auf mich zu schritt. Ich hatte das Gefühl es blitzte und funkte zwischen uns.
Plötzlich war er mir ganz nah. Er schob meine Beine auseinander, stellte sich dazwischen, presste mich an seinen Schoss und küsste mich. Sein Kuss war drängend und fordernd.
„Ich begehre dich, Lis!“ flüsterte er mir kehlig ins Ohr.
Das überkochende Nudelwasser zischte auf dem Herd und ich löste mich von Ben.
Er hätte meine Fragen nicht besser beantworten und meine Zweifel, ob ich ihm genüge, nicht besser aus dem Weg räumen können. Alles, wo Ben mich berührte hatte brannte. Zum Glück brauchten mich die Nudeln jetzt dringender und ich konnte meine Fassung wieder erlangen.


Nur noch sechs Wochen bis zur Uraufführung des neu inszenierten Stücks Phantom der Oper. Ben war furchtbar im Stress und uns blieben fast nur noch die Mittagspausen, in denen wir gemeinsam aßen. Aber heute war es anders.

Ich muss unser Essen heute Mittag leider absagen. :(
Ich muss Isabell treffen.

Was will sie denn,
ich dachte ihr seid getrennt.

Dass sind wir auch Liebes. :*
Isabell will etwas mit mir besprechen.

Aha.

Ich erkläre es dir heute Abend. Sei mir nicht böse. :*

Heute Abend?

Es gibt was zu feiern.
Ich dachte wir könnten Essen gehen. Ich lad dich ein. :-)

Na gut. :-)
Dann heute Abend.
Aber du musst mich nicht zum Essen einladen.

Das weiß ich.
Aber ich würde es gern. ;-)
Holst du mich gegen 18 Uhr von der Uni ab?
PS: Zieh dir was Schickes an. ;-)
PPS: Ich vermiss dich. :*

Zieh du dich warm an. ;-)
Kuss

Beflügelt von der Aussicht mal wieder einen Abend mit Ben zu verbringen stolperte ich gegen 18:00 Uhr in den Musiksaal der Uni. Die Haare hatte ich zum Zopf geflochten, der locker über die Schulter hing. Ich hatte mir ein schwarzes, schulterfreies Kleid ausgesucht mit kurzärmeligem Blazer. Dazu einfache Ballerinas, die das ganze etwas auflockerten. Wer weiß wohin Ben mich heute ausführen wollte. Ich fühlte mich leicht und befreit. Mir war ein bisschen nach frech und aufmüpfig sein. So schob ich mir noch schnell einen Lolli in den Mund, bevor ich die Tür zum Musikraum öffnete.
Es waren nur noch wenige Studenten anwesend. Ben stand hinter dem Flügel und ließ einen der Studenten ein Musikstück immer und immer wieder wiederholen. Ben sah angestrengt und konzentriert aus. Er deutete an, dass er noch ein paar Minuten braucht, bis wir los konnten. So setzte ich mich auf einen freien Stuhl hinter dem Klavier und beobachtete Ben.
Er drehte seinem Studenten den Rücken zu beim Spielen und betrachtete mich. Seiner Reaktion nach zu urteilen gefiel ihm mein Outfit und ich grinste in mich hinein. Frech und auffällig lutschte ich an meinem Lolli und Bens Blick verfinsterte sich. Ich zog den Lolli aus dem Mund und ließ meine Zunge daran spielen. Ben kniff die Augen zusammen. Sein Brustkorb hob und senkte sich etwas schneller.
Ich spitzte die Lippen und ließ die Zuckerware langsam darüber gleiten. Ich musste mich wirklich anstrengen um nicht zu lachen, um diesen Moment nicht zu zerstören.
Unverwandt drehte Ben sich um. „Ich glaube für heute machen wir besser Schluss Robin! Außerdem hab ich noch einen Termin mit der Presse.“ Er deutete auf mich und beendete die Probe.
Robin drehte sich zu mir und ich winkte. Die Zuckerware hatte ich natürlich verschwinden lassen.
Ich war also Bens Pressetermin. Ich grinste in mich hinein. Ben holte seine Tasche und wir verließen den Raum.
„Du Biest!“ raunte er mir zu, als wir die Tür hinter uns zufallen ließen.
„Der Pressetermin war aber auch nicht schlecht!“ beglückwünschte ich ihn während wir zu seinem Wagen gingen.
„Wohin gehen wir?“ fragte ich.
„Ins Royals and Rice?“
„Wunderbar!“ Damit ließ ich mich in den Sitz plumpsen. Allerdings hatte ich nicht bedacht, dass mein Rock in Bens Auto höher rutschte und mehr Bein frei gab als gewollt.
Mit wachen Augen beobachtete er mich, wie ich verzweifelt versuchte meinen Rock locker lässig herunter zu ziehen. Bens breites Grinsen entging mir dabei nicht. Er versuchte es nicht mal zu verstecken. Also gab ich die Zupferei auf und spielte wieder mit dem Lolli in meinem Mund.
Ben starrte mich an.
„Wollen wir dann nicht mal los Herr Huthügel?! Sie wollen doch die Presse nicht warten lassen?!“
Ben knurrte. „Du Biest! Na warte!“ Dann küsste er mich. Er drückte mich in den Sitz hinein und ließ seine Hand über meine Beine gleiten. Meine Haut brannte. Mein Puls beschleunigte und mein Atem ging schnell. Viel zu schnell.
„Contenance Frau Koch!“ Ben grinste als er von mir abließ und den Wagen startete. Meine Wangen glühten und ich war froh um den Fahrtwind.

Das Royals and Rice war ein neues Szenelokal etwas außerhalb der Stadt am See. Die Einrichtung war gemütlich und das Licht eher schummrig. Fast schon ein Schicki-Micki-Lokal.
Ben stellte sich kurz vor und schon führte uns die Bedienung an einen der gemütlicheren Tische im dunkleren Teil des Lokals.
Ohne mich zu fragen bestellte Ben zwei Hugos und ich wartete gespannt, dass er mir den Grund der Feierlichkeiten verraten würde.
Ben erzählte von seinem Treffen mit Isabell und die Bedienung stellte lautlos zwei Gläser auf den Tisch.
„Isabell hat eine Wohnung gefunden!“
„Na wunderbar!“
„In vier Wochen zieht sie aus.“
„Und das Haus?“
„Das haben wir noch nicht abschließend geklärt. Wahrscheinlich müssen das unsere Anwälte klären. Aber ich behalte das Haus ganz sicher.“ Ben lächelte.
„Na dann! Auf dich und deine neue Zukunft!“ Ich nahm mein Glas, hielt es Ben hin und wir stießen an. Ben nahm einen größeren Schluck, während ich langsam und in kleinen Schlucken an meinem Strohhalm saugte.
„Weißt du was das heißt?“ raunte er mir zu.
„Nein“, antwortete ich mit gespielter Unwissenheit und spielte weiterhin mit meinem Strohhalm.
„Lis!“ fuhr er mich an und versuchte seine Stimme tief und dunkel klingen zu lassen.
Ich hielt meinen Kopf gesenkt, hob aber meinen Blick zu ihm, den Strohhalm noch immer im Mund. Ich versuchte unschuldig auszusehen. Bens Augen weiteten sich. Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. Er nestelte an seinem Glas bevor er sich zu mir beugte.
„Ich will dass du bei mir bleibst.“
„Aber ich bin doch bei dir“, entgegnete ich unschuldig.
„Ich will dass du die ganze Nacht bei mir bleibst.“
Ich wurde rot und nervös.
„Ich will dich sehen. Ich will sehen wie du reagierst, wenn ich dich berühre.“ Bens Stimme klang dunkel und kehlig. Jedes Wort, das er mir zuflüsterte, ließ Blitze durch meinen Bauch schießen.
„Wenn meine Lippen dein Schlüsselbein berühren“, fuhr er leise fort und mir schoss noch mehr Blut in die Wangen. „Wenn meine Hände dich berühren. Überall berühren!“
Oh Gott. Ben musste aufhören. Wir waren im Restaurant. Ich konnte nicht einfach über den Tisch klettern, mich auf seinen Schoß presse und ihn küssen wie wahnsinnig.
„Haben sie schon gewählt?“ fragte die Bedienung und rettete zumindest mich vor weiterem Kopfkino. Ich schnappte mir die Karte und blätterte sie schnell durch. Ben knurrte und tat selbiges.

Hamburg schwebte vor meinem inneren Auge vorbei. Ebenso all die anderen Momente mit dir. Nun sitze ich hier bei dir im Auto und wir sind auf dem Weg zu dir nach Hause. Heute Abend werden wir wohl einige Grenzen überschreiten.
Hölderlinstraße. Hölderlinstraße 28. Du parkst das Auto vor der Garage, machst den Motor aus, steigst aus und beeilst dich mir die Tür zu öffnen.
„Komm schöne Frau.“ Deine Stimme klingt aufgeregt. Aufgeregt und kehlig. Mir läuft ein angenehmer Schauer über den Rücken.
Ich lege meine Hand in deine und lasse mich von dir führen. Ich folge dir ins Haus.
Du hältst meine Hand noch immer und führst mich in dein Zimmer. Dein Spielzimmer. Obwohl ich nicht ganz so viel für Musik empfinde wie du, bin ich fasziniert von dem Flügel. Sanft streiche ich mit den Fingern darüber. Ich setze mich auf die Bank und berühre vorsichtig die Tasten.
Mit einem Lächeln und einem „bin gleich wieder da“ verlässt du das Zimmer.
Ich lasse mich gefangen nehmen von deinem Flügel und fange an zu träumen. Dies ist also der Ort deiner Inspiration, dein Ort des Glücks. Hier spielst du, hier lebst du. Andächtig streiche ich über den Flügel.
„Diese Faszination übt er bis heute auch auf mich aus.“
Ich hatte nicht bemerkt, dass du das Zimmer wieder betreten hast. Ich werde rot und ziehe meine Hand schnell zurück.
„Nein. Warte. Versteck dich nicht.“ Du stellst den Wein auf den Flügel und gießt uns jeweils ein Glas Rotwein ein und reichst mir eines.
„Ich finde es schön wenn du so bist. Bitte versteck dich nicht vor mir. Niemals!“ Das letzte Wort flüsterst du und ich lass mich nur allzu gern fallen bei dir.
Deine Hände streichen über meinen Nacken. Du löst die Haarnadeln und meine Haare fallen locker über meine Schulter.
„Du bist so schön, Lis.“
„Du auch.“ stammle ich.
Du küsst mich und mir bleibt die Luft weg. Ich werde weich in deinen Händen. Dann setzt du dich zu mir auf die Bank, legst meine Finger auf die Tasten und deine Hände direkt oben drüber. Du stimmst Für Elise an. Du hast gut zugehört. Das war eines der wenigen Klavierstücke, die mir wirklich gefallen.
Dann spielst du Für Elise und zwar nur für mich. Ich schließe die Augen und lasse mich von deiner Musik hinfort ziehen. Ich tauche ein in das Spiel. Vor meinem geistigen Auge erscheinen Kinder auf einer großen Blumenwiese. Sie tragen alle Kränze in den Haaren und tanzen einen Reigen. Davon lasse ich mich nur allzu gern anstecken. Ich lächle. Selbst als der letzte Ton verstummt, lächle ich noch immer.
„Ich hab noch was für dich. Hör genau zu“, flüsterst du um die Stimmung nicht kaputt zu machen.
Die ersten Takte auf dem Flügel klingen ähnlich wie Elise. Aber es ist ein anderes Lied. Dann singst du mir die erste Liedzeile vor.
„Versteck mich wo du mich nicht findest, damit auch du mich mal vermisst. Hab mich seit Wochen nicht gemeldet und frag mich ständig wo du bist.“
„Philipp Poisel?“ frage ich und du nickst ohne deinen Gesang zu unterbrechen.
„Ich will nur, dass du weißt, ich hab dich immer noch lieb, und dass es am Ende auch keine andere gibt, die mich so vollendet, die mich so bewegt.“
Mir schießen die Tränen in die Augen. Das bewegt mich, berührt mich. Genau das habe ich mir immer gewünscht. Die Eine für dich zu sein, die Eine, die du brauchst wie die Luft zum Atmen, die Eine, die dich bewegt.
Du nimmst mein Gesicht in deine Hände, streichst mir die Tränen von der Wange, küsst sie weg. Heute will ich mich meiner Tränen nicht schämen. Heute darfst du sie sehen. Heute gehören sie dir. Heute gehöre ich dir.
Ich küsse dich. Ich bin fordernd, leidenschaftlich. Ich will dich. Heute Abend gibt es nur dich und mich.
 

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