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Der Erduhu

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© Thomas Schwarz   
   
Ein Uhu lebte in einer Höhle im Wald. Als Küken war er aus dem Nest gefallen. Seine Mutter und Geschwister trösteten ihn und erzählten ihm er wäre ein Erduhu, eine Seltenheit unter den Uhus und etwas besonderes. Das machte ihn sehr stolz und so dachte er nie darüber nach, fliegen zu lernen, denn Erduhus leben nun einmal auf der Erde. Er war überdies ein sehr belesener Uhu. Die Werke berühmter Dichter und Schriftsteller stapelten sich bei ihm bis unter die Höhlendecke. Während des Lesens lernte er die Bücher gleich auswendig, denn er sagte sich: Was man im Kopf hat, braucht man nicht mitzuschleppen. Er war also durchaus auch praktisch veranlagt, so dachte er.
Eines Tages, es war um die Mittagszeit, bebte die Erde. Der Uhu vertrat sich gerade vor seiner Höhle die Beine, denn er hatte den ganzen Vormittag gelesen und fühlte sich etwas steif. Das rettete ihm das Leben. Die ganze Höhle stürzte vor seinen Augen ein und Schutt und Geröll verschlossen den Eingang. „Oh je“, seufzte er und rieb sich ratlos mit einem Flügel am Schnabel, „was mache ich jetzt nur?“
Da half alles nichts, er musste sich eine neue Bleibe suchen. Traurig verließ er seinen gewohnten Wald, tapste unbeholfen durch Wiesen und Felder. Die Erde die vom Regen nass und schwer war, klebte an seinem Gefieder und den Füßen. „Ist das ein Elend“, seufzte er ein ums andere mal, „ist das unwürdig!“

Er traf auf eine Gruppe anderer Tiere die ihr Zuhause ebenfalls durch das Erdbeben verloren hatten. Die wanderten jetzt gemeinsam und eines half dem anderen. „Hast du Armer dir die Flügel gebrochen?“, fragte ihn der Specht mitfühlend. „Aber nein“, entgegnete ihm der Angesprochene und erklärte nicht uneitel, „ich bin ein Erduhu.“
„Ein bitte wer? Davon habe ich noch nie gehört.“
„Wir sind sehr selten. Es gibt nur wenige von uns“, antwortete er geschmeichelt, „Etwa einen auf jedem Kontinent.
„Na dann sei uns besonders willkommen“, riefen alles im Chor.

„Wir brauchen ein Nachtlager und etwas zu essen. Wer kümmert sich um was?“, fragte der Hase in die Runde. Kamerad Otter hob die Pfote und versprach Fische vom nahe gelegenen See zu holen. Biber und Wanderratte zogen gemeinsam los um Äste und Zweige zu sammeln, während Hase, Reh und Amsel weiche Gräser für ein gemütliches Nachtlager zupften. Der Bär hingegen sammelte leckere Beeren und erbat sich Honig von den Bienen. Die waren ausnahmsweise freundlich und verstanden die missliche Lage des Bären und seiner Freunde. Ihr könnt euch denken wie schwer es ihm selbst fiel. Schließlich hatte er einen Bärenmagen der immer knurrte und gleich gefüllt werden wollte und ein Bärenmagen ist nicht klein.
Schließlich war alles zusammengetragen. Die dicksten Äste wurden vom handwerklich begabten Specht ausgehöhlt, so dass die Kleinsten, unter ihnen Hamster und Maus, ein bequemes Lager für die Nacht bekamen. Während alles um ihn herum beschäftigt war, hockte der Erduhu etwas verloren in der Mitte, wurde gelegentlich an – und um gerempelt und unter verlegenen Entschuldigungen wieder auf die Beine gesellt. Während des Abendmahls schwatze und lärmte alles lustig durcheinander und es wurde auch geweint. Schließlich hatten alle ihre Heimat verloren. Zu vorgerückter Stunde ebbte der Lärm ab und der Erduhu sah seine Zeit gekommen, auch etwas beizutragen. „Ich kenne Geschichten die man zur Nacht erzählt.“ „Lass hören“, riefen alle. Man machte es sich gemütlich und lauschte und er begann also: „Es geschah einmal vor langer, langer, wirklich sehr langer Zeit, als ...“ „ Wie lange“?, unterbrach das Reh. „Oh, jetzt muss ich nachdenken“, der Erduhu legte beide Flügel um seinen Kopf und sinnierte, „also die Erde besteht aus ungefähr vier Milliarden Jahren, so beginnt die Geschichte meiner Berechnungen nach vor etwa fünftausendeinhundertneunundsechzig Jahren.“ Er rechnete noch mal nach und berichtigte: „ Wenn wir aber die Berichte der Weisen und Forscher der Vergangenheit zu Rate ziehen, dann tendiere ich doch eher zu ...“ Unerhörte Geräusche unterbrachen ihn. Man schnarchte laut, grunzte gelegentlich und pfiff leise. Der Schlaf hatte alle übermannt.
Beleidigt von dieser Geringschätzung zog sich der Erduhu auf seinen Schlafplatz zurück.

„Erduhu, es tut uns so leid, dass wir deinen Geschichten nicht mehr zuhören konnten“, entschuldigten sich Wanderratte und Specht bei dem Gekränkten am nächsten Morgen und versprachen, „wir werden heute nicht all zu lange unterwegs sein. Heute Abend wirst du genügend Zeit haben deine Geschichten zu erzählen.“ In der Tat wanderte die Gesellschaft nur über vier Wiesen und durchquerte ein halbes Maisfeld. Die hohen Maistauden trugen reife Kolben und schützten die Wandergemeinschaft vor Feinden.
Diesmal gab es also Maiskolben für alle. Einvernehmlich und vergnügt pickte, schmatzte und nagte alles genüsslich an den reifen Früchten. Mit vollem Bauch nickte einer nach dem anderen ein. Auch der Erduhu machte ein Nickerchen um abends wach zu sein und seine Geschichten erzählen zu können.

„Wach auf du Langschläfer!“. Ein Stoß in die Seite weckte den Erduhu. Verwundert sah er sich um. Die Sonne schien ins Maisfeld und die Gruppe schickte sich an gemeinsam aufzubrechen. „Sofort!“, rief er, „ich bin gleich soweit, ich fange mit der Geschichte vom Drachen und den ...“ „Freund Uhu, es ist Morgen und wir müssen weiter“, lachte die Gesellschaft. Wir müssen heute über den Berg, das wird eine anstrengende Wanderung von einigen Tagen. Wieder beleidigt und etwas beschämt, trottete er still in der Gemeinschaft mit. Als sie an den Fuß des Berges kamen, enthüllte sich das Drama. Der Anstieg war für den Erduhu unmöglich zu bewältigen. Den armen Genossen zurücklassen wollte keiner. Da war guter Rat teuer. Man setzte sich ins Gras und beriet sich. Währenddessen flogen blaue, weiße und gelbe Schmetterlinge und Falter lustig zwischen der Gesellschaft über die Wiese. Da hatten Specht und Hase eine Idee. „Wie wäre es, wenn andere dir ihre Flügel leihen würden? So könntest du über den Berg schweben. Wir wollen die Schmetterlinge bitten. Sie wandten sich an die bunte Schar. „Das kostet zwei Tagesrationen Nektar“, forderten sie, „schmiert euren Gesellen damit ein, von oben bis unten, dann werden wir ihn über den Berg fliegen.“ Gesagt, getan. Unter leisem Stöhnen schwärmte alles aus und sammelte die Blüten ein, welche ihnen die Schmetterlinge zeigten. Bald schon musste man auf die Nachbarwiesen ausweichen. Ganze drei Tage vergingen bis genügend Blüten zusammengetragen waren und weit und breit alle Lieblingsblüten der Schmetterlinge von den Wiesen abgeerntet waren. Damit rieb die Gesellschaft den Erduhu von oben bis unten ein. Dann setzen sich hunderte der schönen Falter auf den Uhu, hielten sich fest und während sie den Nektar an ihm saugten und genossen, unternahmen sie enorme Anstrengungen mit ihren leuchtenden Flügeln den unbeholfenen Erduhu in die Luft zu heben. Die Gesellschaft klatschte aufmunternd. Tatsächlich schleppten sie die besondere Fracht etliche Meter weit und Specht, Bär und der Rest der Gruppe folgten, um den Anstieg auf den Berg zu beginnen. Doch plötzlich machte es „Platsch“ und er Erduhu steckte kopfüber in einem Erdloch. „Wie konnte das passieren“, rief alles und stürzte dem gefallenen Uhu zu Hilfe. „Kein Nektar mehr“, riefen die Schmetterlinge, „wir brauchen mehr Nektar.“ Damit flogen sie weg und kehrten nicht mehr zurück.
„Was machen wir jetzt?“, fragte die Maus. Da rief der Bär:
"Ich hab eine Idee." Er trottete davon und folgte seiner Nase. Die hatte ihn nämlich noch nie im Stich gelassen. Sie führte ihn zu einem Baum in dem ein Bienenvolk lebte. Damit kannte er sich aus. Gerade waren sie alle unterwegs um Blütenpollen zu sammeln. Er fuhr unbekümmert mit seiner mächtigen Tatze ins innere des Baumstammes und sammelte den Honig ein. Damit kehrte er zurück zur Gruppe und schlug vor: „Hört zu, auch Bienen haben Flügel und wenn wir den Erduhu mit diesem Honig einreiben, werden sie ihn bestimmt ganz über den Berg tragen.“ „Bienen sind berühmt für ihren Fleiß“, pflichtete ihm der Erduhu begeistert bei. „Das habe ich nämlich auch in einem Buch gelesen. Du bist ein kluger Bär.“ Sofort machten sich alle ans Werk. Nachdem sie fertig waren, wuschen sie sich an einem nahe gelegenen Bach die klebrigen Pfoten, Flügel und Schnäbel und ließen den Erduhu in der Sonne zurück. Nach kurzer Zeit vernahmen sie ein Brausen und Summen in der Luft das rasch lauter wurde und näher kam.
Sie eilten zurück zum Erduhu, um den eintreffenden Bienen zu erklären wohin sie ihn tragen sollten. Doch die waren böse und erbost: „Dort ist der Dieb, dort ist er“!, riefen sie und umschwirrten den verdutzt nach oben schauenden Erduhu. „Wie kannst du es wagen unseren Honig zu stehlen?“und sie stürzten sich auf ihn. Wütend stach alles auf ihn ein. Der Gepeinigte schüttelte sich so gut es ging, denn sein Federkleid war ganz verklebt durch den Honig, den ihm die Bienen wieder abnahmen . Er schrie und schüttelte sich, hüpfte herum und litt ganz erbärmlich. Unbeholfen spreizte er seine Flügel und flatterte unbeholfen über den Boden. Die Gesellschaft konnte nur tatenlos zuschauen. Bei aller Hilfsbereitschaft mochte sich doch niemand mit einem wütenden, bestohlenen Bienenvolk anlegen. Plötzlich geschah etwas wundersames. Der Erduhu stieg in die Luft und flog, erst unsicher, doch zusehends wurden die Bewegungen seiner Flügel gleichmäßiger und trugen ihn höher und höher und immer weiter fort bis er als winziger Punkt am Horizont verschwand.

Mit offenem Schnabel und Mund starrten sich Specht Hase, Reh, Bär und die anderen der Gesellschaft empört an: „Na so was, das war ja gar kein Erduhu!
Der flog unterdessen zwei Stunden am Stück bis die letzte Biene von ihm abließ und fand auf dem Wipfel einer Tanne eine Ruhestätte. Überwältigt vom Schmerz und verwundert darüber, dass seine Flügel ihn wirklich durch den Himmel trugen, schlief er erschöpft ein, nicht ohne sich vorher wehmütig daran zu erinnern, dass es jetzt noch weniger Erduhus auf dieser Welt gab.
 

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