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Böses Bärchen IX

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© Christian Dolle   
   
Böses Bärchen
Was wäre dir lieber?





„Was wäre dir lieber? Nichts mehr sehen zu können oder nichts mehr zu hören?“, fragte er unvermittelt. „Beides nicht“, antwortete ich unwirsch und sah dabei kaum vom Computer auf. Sein genervtes Brummen kam trotzdem bei mir an. „Für einen kreativ arbeitenden Menschen bist du manchmal erstaunlich unwillig, deine Fantasie zu gebrauchen“, meinte er.
Jetzt hatte er mich ohnehin aus der Konzentration gerissen und außerdem wollte ich das so nicht auf mir sitzen lassen. „Ich gebrauche meine Fantasie täglich. Nur eben nicht für so schwachsinnige Fragen.“ Die Antwort beeindruckte ihn nicht im Geringsten, geschweige denn, dass sie ihn davon abhielt, weiter zu bohren. „Also ich würde lieber aufs Hören verzichten“, stellte er fest. „Du hörst sowieso nie, wenn man dir was sagt.“
Dann ertappte ich mich jedoch dabei, wie ich tatsächlich über die Frage nachdachte. Nichts mehr hören können? Nie wieder Musik? Nicht die Stimmen von Menschen, die mir nahe sind? Gut, mit denen müsste ich mir dann schreiben. Ohne zu sehen könnte ich nicht mehr lesen. Auch keine Bücher. Und ich könnte die Welt um mich herum nur noch sehr eingeschränkt wahrnehmen. Letztlich war beides keine aussichtsreiche Option.
Erstaunlicherweise dachte ich ziemlich schnell nicht nur an die persönlichen, sondern auch an die beruflichen Einschränkungen. Ein blinder Journalist erschien mir ebenso unmöglich wie ein tauber. Oder? Und warum betrachtete ich die Frage aus diesem Blickwinkel? War ich inzwischen wirklich so erwachsen geworden, dass ich mich vor allem durch meinen Beruf definierte? Als ich noch ein Kind war, hatte ich das nie gewollt, sondern mir immer geschworen, dass die Persönlichkeit wichtiger ist als die gesellschaftliche Stellung.
„Wenn überhaupt, dann würde ich auch eher aufs Hören verzichten“, sagte ich schließlich und ließ meinen Blick aus dem Fenster in den blauen Himmel schweifen. Die Diskussion war damit natürlich noch nicht beendet. Er wurde jetzt erst richtig warm. „Wenn du mal ein Kind hast, hättest du lieber eines, das dumm ist, oder ein unsympathisches?“ Welch blöde Frage war das denn? Zumindest aber eine, mit der er mich nun endgültig meine Arbeit vergessen ließ. „Ob das Kind unsympathisch ist oder nicht, liegt ja nun mal zum großen Teil an meiner Erziehung. Also erübrigt sich die Frage.“
Er rollte mit den Augen um mir zu zeigen, dass ich mich mal wieder nicht an seine Spielregeln hielt, ob die nun unsinnig waren oder nicht. „Es geht aber darum, was wäre, wenn du es nicht ändern könntest. Also: dumm oder unsympathisch?“ Selbst wenn ich mich darauf einließ, lag die Antwort für mich klar auf der Hand. „Dann finde ich unsympathische Menschen weitaus schlimmer als dumme“, stellte ich fest und fügte hinzu: „Außerdem hätte ich auch lieber ein vorlautes Kind als ein stummes. Für Teddybären gilt das übrigens nicht.“
Mit dieser Ansage schaffte ich es tatsächlich, ihn sprachlos zu machen. Für ein paar Sekunden jedenfalls. „Und wenn du dir aussuchen kannst, ob du dich unsichtbar machen oder die Zeit anhalten kannst?“ Jetzt lief meine Fantasie augenblicklich auf Hochtouren und ich stellte mir vor, was mit beiden Fähigkeiten alles möglich wäre. Unsichtbar vieles mitzubekommen, was ich sonst nie erfahren würde, klang schon äußerst verlockend. Aber auch, die Zeit anzuhalten und einfach mal in aller Ruhe all das zu tun, was sonst aufgeschoben werden musste, war eine tolle Vorstellung. „Ich glaube, ich würde lieber die Zeit anhalten können“, sagte ich nach längerem Überlegen.
„Okay, warte, jetzt bin ich dran“, meinte ich dann. „Was wäre dir lieber? Immer von mir verwöhnt zu werden“, ich machte eine bedeutungsschwere Pause, „oder ein echter Bär sein?“ Wie aus der Pistole geschossen antwortete er: „Das Erste natürlich.“ Ich hakte nach: „Reizt das andere dich denn gar nicht?“ Er legte die Stirn in Falten. „Ein echter Bär sein? Nö, warum? Es muss ziemlich stressig sein, in der freien Natur zu leben, nachts zu frieren und sich sein Essen zu jagen. Da ist mir dein spärlich gefüllter Kühlschrank echt lieber. Vor allem, wenn du dann noch mein Sklave wirst und mir mein Essen vor den Fernseher bringst.“
„Vergiss es“, zischte ich und fragte mich, ob ich es irgendwann noch einmal erleben würde, von ihm eine ernsthafte Antwort zu erhalten. Stattdessen hatte er schon seine nächste Frage parat. „Lieber in die Zukunft reisen oder in die Vergangenheit?“ Auch hierüber dachte ich wieder länger nach. Beides klang im ersten Moment sicher verlockend, doch im Grunde wollte ich nicht wissen, was auf mich oder die Welt zukam. Entweder war es deprimierend oder aber es nahm dem Leben die Spannung. Noch gefährlicher erschien mir allerdings eine Reise in die Vergangenheit, mit der ich durch eine unbedachte Handlung die Gegenwart hätte ändern können. Ich hatte genug Sciencefiction gelesen, um zu erahnen, welche Folgen sowas haben konnte. „Dann doch lieber in die Zukunft“, sagte ich.
Es ging noch eine Weile so weiter und die Gedankenexperimente machten mir inzwischen richtig Spaß. Soviel also zu der Behauptung, ich hätte keine Fantasie. Dann leuchteten seine Augen plötzlich auf eine Weise auf, die mich hätte wachsam machen müssen. Diesen Blick kannte ich eigentlich nur zu gut und ich hätte wissen müssen, dass meine Antwort ebenso fatale Folgen haben könnte wie eine Zeitreise in die Vergangenheit.
„Auf was würdest du lieber verzichten, auf dein Wohnzimmer oder auf dein Schlafzimmer?“, fragte er. Zur Not könnte ich auf dem Schlafsofa im Wohnzimmer nächtigen, überlegte ich, immer nur im Schlafzimmer wohnen wollte ich hingegen nicht. Trotzdem ahnte ich, dass die Frage mehr beinhaltete. „Vergiss es“, sagte ich darum, „du bekommst kein eigenes Zimmer.“ Er reagierte schnell, so dass ich nicht sicher war, ob ich den wahren Grund durchschaut hatte oder nicht. „Das sind hypothetische Fragen“, belehrte er mich, „du verlierst ja auch nicht dein Augenlicht, wenn du drauf antwortest.“
„Also gut, dann aufs Schlafzimmer.“ Ein breites Lächeln zog sich nun über sein Gesicht und mich traf die Erkenntnis, dass meine Vorsicht leider doch angebracht gewesen war. „Puh, da bin ich aber froh. Ich hab' nämlich vorhin schon mal angefangen, deine Sachen zusammenzupacken und dann gedacht, ich frag' dich vorher lieber noch mal, ob es dir auch recht ist.“
 

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