... für Leser und Schreiber.  

hilflos ausgeliefert

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© Christian Dolle   
   
Sie war ihm hilflos ausgeliefert, saß zitternd vor ihm und die Angst loderte wie ein flackerndes Kaminfeuer in ihren Augen. Beinahe hätte er Mitleid mit ihr bekommen, denn sie wirkte so lebensfroh, so voll von ansteckender Fröhlichkeit, die jetzt allerdings wie weggeblasen war. Ihre Hände krallten sich in die Lehnen des Stuhls, auf dem sie saß, verkrampften sich. Ihr ganzer Körper war wie zu Stein erstarrt, fast als glaubte sie, sich dadurch für ihn unsichtbar zu machen. Trotzdem gab es kein Entrinnen für sie, ihr Schicksal war besiegelt, und egal, was sie tun würde, es ließ sich nicht mehr abwenden. Er würde tun, was er tun musste, ganz gleich, ob sie ihn jetzt auch aus flehenden tiefblauen Augen ansah.
Kein Wort kam über ihre Lippen, und doch baten ihre Augen, diese Augen, die wie Fenster in ihre ängstliche Seele waren, um Gnade. Er wusste, er durfte nicht in diese Augen sehen, weil er sonst schwach werden würde, weil sie sonst sein Herz erweichen würde, und das konnte er nicht zulassen. Es war sein Job, er hatte einen Auftrag angenommen, und er war schon immer für seine Zuverlässigkeit bekannt gewesen. Bei ihm gab es keine Kompromisse, er sah sich selbst als etwas wie einen Künstler, und bisher hatte er noch jeden Auftrag zu Ende gebracht. Bei ihr würde er nicht damit anfangen, von seinen Prinzipien abzuweichen, ganz gleich, wie sehr sie ihn auch mit ihren mitleidigen Blicken aufzusaugen drohte.
Schnell wandte er sich ab und machte sich daran, alles vorzubereiten. Ihr mussten diese Minuten endlos vorkommen, aber auch das ließ sich nicht ändern. Er war kein Pfuscher, was er anpackte, machte er gründlich, denn schließlich musste hinterher alles perfekt aussehen und er wollte keine hässlichen Spuren zurücklassen. Ihre Finger krallten sich noch immer in die Polsterung der Armlehne, so dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Auch ihr Gesicht hatte diese Farbe angenommen, ein erstarrtes Weiß, keine vornehme Blässe, sondern der Ausdruck eines Menschen, der wusste, dass längst alles zu spät war. Bis auf ihre versteinerte Mine verriet sie jedoch in keiner Weise, was in ihr vorging, sie bewegte sich nicht, starrte nur stumm vor sich hin, und wäre da nicht ihr Zittern gewesen, hätte man sie für eine Statue halten können.
Normalerweise schrien sie, schoss es ihm durch den Kopf, veranstalteten ein Mordsgezeter, wehrten sich aus Leibeskräften, in der festen Hoffnung, sie könnten damit etwas bewirken und dem, was ihnen drohte, entgehen. Natürlich konnten sie nicht, im Gegenteil, wenn sie sich zur Wehr setzten machte das alles nur noch schlimmer. Sie schien das zu wissen. Schien instinktiv zu spüren, dass sie ihm nicht entkommen würde und dass alles zwecklos war. Dafür, dass sie recht zierlich, verletzlich und unschuldig wirkte, hielt sie sich erstaunlich gut, dachte er, besser als manche, die er für widerstandsfähiger gehalten hatte. Sympathie kam in ihm auf, sie tat ihm leid, nur zu gerne hätte er ihr alles erspart. Leider war das, selbst wenn er gewollt hätte, nicht möglich. Er hatte sein Geld bekommen, hatte den Auftrag angenommen, und er würde sein Gesicht verlieren, wenn er es jetzt nicht zu Ende brachte.
Das einzige, was er tun konnte, war, es schnell hinter sich zu bringen, damit sie nicht lange leiden musste. Und je eher er anfing, desto schneller würde es vorbei sein. Die letzten Vorbereitungen waren getroffen, alles war bereit, er konnte beginnen. Sie schien instinktiv zu spüren, dass es jetzt soweit war, und nun kullerten Tränen aus ihren Augen über ihre Wangen. Ein leises Schluchzen entrang sich ihrer Kehle, und sie warf ihm einen letzten ergebenen Blick zu. Dann schaute sie auf seine Hand, schluckte hörbar. Ein Lichtstrahl spiegelte sich in dem glänzenden Metall und fuhr wie ein Omen über ihr Gesicht und ihren Hals.
Das war zu viel. Jetzt war es um ihre Selbstbeherrschung geschehen und sie stieß einen gellenden Schrei aus. Er zuckte zusammen, hielt einen Augenblick inne und hoffte, sie würde sich wieder beruhigen. Wenn sie jetzt Theater machte, würde das alles nur unnötig herauszögern, und das würde es für sie beide nicht leichter machen. Aber sie dachte nicht daran, sich zu beruhigen, sondern brüllte weiter, schrie wie am Spieß, was bei ihm langsam Wut aufsteigen ließ. Eben noch hatte er sie für ihre Tapferkeit bewundert, und jetzt benahm sie sich genau wie alle anderen, machte Theater und ließ somit alles Mitleid in ihm von einer Sekunde auf die andere verschwinden.
Nun wollte er es nur noch schnellstmöglich hinter sich bringen und er fragte sich, wieso er sich wider besseren Wissens immer wieder der Illusion hingab, es könne auch ohne dieses Gezeter und damit schmerzloser für alle Beteiligten ablaufen. All ihre stoische Ruhe war jetzt von ihr abgefallen, sie heulte, winselte und brüllte, tobte wie eine Furie auf ihrem Stuhl herum und strampelte mit den Beinen. Er versuchte sie zu beruhigen, indem er sie an der Schulter zurück in den Sitz drückte, aber sie nutzte seine Überraschung aus, wand sich blitzschnell aus seinem Griff und biss ihm mit aller Kraft in die Hand.
Er ließ sich dadurch nicht weiter stören, das war ihm schon oft genug passiert, Berufsrisiko nannte man das wohl. Aber er war jetzt wütend, war richtig sauer, und seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Von jetzt an würde es keine Gnade mehr geben, ganz egal, wie sehr sie sich auch wehrte, er würde seine Arbeit erledigen und dann endlich Feierabend machen.
In diesem Augenblick schwang die Tür auf, sie drehte sich im gleichen Moment zu der hereinkommenden Gestalt wie er und ihr Gebrüll nahm noch an Lautstärke und Intensität zu. Es war ihre Mutter, die da in der Tür stand, sie eilte herbei, schloss ihre kleine, fünfjährige Tochter in die Arme und erklärte dann beruhigend: „Aber Schatz, du musst doch nicht weinen. Du warst doch schon öfter beim Friseur und weißt, dass Haare schneiden nicht wehtut...“


Die Geschichte gibt es auch auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=SoPbV9KPuAg
 

http://www.webstories.cc 29.03.2024 - 14:41:16