... für Leser und Schreiber.  

Glück

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© Daniel Freedom   
   
Da war er wieder der eine Gedanke - dieses eine Wort – es wollte mich nicht in Ruhe lassen. Drehte immer wieder einsam und beständig seine Bahnen in meinem Kopf…
Die Sonne schien golden vom Himmel. In der Wiese spielten die Kinder Fangen und ich betrachtete sie von meinem Stuhl aus. Vor mir ein Buch, der Laptop, ein Glas Wasser und über mir der Schatten spendende Sonnenschirm. Es war heiß aber die beiden kannten keine Gnade. Runde um Runde zogen sie durch das Grün und die Farbkleckse der Blumen. Sie lachten und lachten und hörten nicht auf…

Damals saßen wir zu viert im Garten. Vor einer Ewigkeit, vor so langer Zeit obwohl es erst sechs Wochen her war. Wann hatten sie zuletzt so unbeschwert gespielt. Es war ein wunderschöner Anblick.
„Schatz, bring uns doch bitte noch ein Glas Wein.“ Ihre Stimme hatte diesen seltsamen Glanz. Er war mir an diesem Abend schon einige Male aufgefallen aber der Wein lenkte mich davon ab.
„Schlafen die Beiden?“
„Tief und fest“.
Ich schenkte uns den Wein ein und setzte mich zu ihr. Es war einer dieser wenigen Momente der Ruhe und Gelassenheit, die man eigentlich viel zu wenig hat. Ich schnappte mir ihre Hand. Händchen haltend saßen wir schweigend im Garten und genossen für ein paar Augenblicke das Leben.

Das schrille Jaulen der Rauchmelder riss uns aus der Gelassenheit. Die Weingläser kippten um als wir beide aufsprangen. Wie Bluttropfen verteilte sich der Wein auf dem Tisch und dem Boden. Ein Bild, das mich auch heute noch aus meinen Schlaf reißt.

Ich rannte zum Haus und spürte sie direkt hinter mir. In der Küche und im Erdgeschoss war alles in Ordnung. Ich hetzte die Treppen hinauf und der Rauch hüllte mich ein. Er nahm mir sofort die Luft zum Atmen und von einem Moment auf den anderen war die Sicht auf null reduziert. Ich zog mir das T-Shirt über Nase und Mund und ließ mich auf Hände und Knie nieder. Ich kroch auf das Zimmer des Kleinen zu. Hinter mir hörte ich Anja nach den beiden rufen. Keine Antwort. Nur das schreckliche Heulen der Rauchmelder in meinem Kopf, der fast explodieren wollte. Ich hatte es bis zur Tür von Tommi geschafft, drückte sie auf und kroch weiter zu seinem Bett. Der Rauch wurde weniger. Ich konnte mich stellen und sah ihn auf seinem Bett sitzen und hörte das Röcheln. „Bring ihn raus!“ schoss es mir durch den Kopf. Ich schnappte sein Lieblings-Barcelona-Trikot und hielt es ihm vor den Mund, nahm ihn auf den Arm, versuchte durchzuatmen und ging zurück zum Flur und weiter zur Treppe.

Im Garten angekommen fielen wir beide zu Boden. Frische Luft! „Atme!“, schrie ich ihn an. „Atme!“. Seine Augen weiteten sich vor Angst aber er gehorchte. Pfeifend sog er die Luft ein. Ich musste zurück - zurück in den Rauch. Anja und Lea waren noch da drin. „Ich komme sofort wieder. Atme ruhig, versuche ruhig und entspannt zu atmen. Ich komme wieder “. Ich rannte los. Der Rauch kam langsam aber sicher die Treppe herunter gekrochen. Ich schrie dem Nebel und Rauch zwei Namen entgegen und kroch auf allen Vieren die Treppe hoch. Mein Hals brannte unerträglich und die Augen tränten. Ich konnte weder sehen noch atmen. Dann erfassten meine tastenden Hände einen Körper. Lea! Ich zog sie zu mir. Wo war Anja? Ich versuchte ihren Namen zu schreien aber es kam nur ein kaum hörbares Krächzen aus meinem Mund. In mir wollte etwas zerreißen. Ich schrie stumm vor Wut und Verzweiflung. Und diese Wut gab mir Kraft.
Mit Lea auf dem Arm stieg ich die verdammten Stufen runter und stolperte wieder in den Garten. Tommi sah mich mit tränenden Augen an. Er atmete wieder etwas besser. Das war gut. Aber Lea und Anja. Wieder wollte ich schreien aber dieses Mal nur noch aus Verzweiflung. Sie atmete nicht. Ihre Hände lagen leblos und kalt in meinen. Ich versuchte sie wiederzubeleben – ihr meinen Atem zu schenken – aber da war keiner. Nur Husten, Röcheln und Tränen.

Zwei starke Hände legten sich auf meine Schultern und zogen mich zurück. In meinen Kopf mischte sich in dieses schreckliche Piepsen ein neues Geräusch. Ein Martinshorn und durch die Tränen schimmerte ein blaues Licht. „Anja“ schoss es wie ein Blitz durch all dieses Durcheinander. Ich stand auf und schleppte mich wieder zum Haus. Der Rauch war noch dichter geworden. Ich schnappte mir in der Küche ein nasses Geschirrtuch und band es mir vor Mund und Nase. „Los!“, schrie ich mich selbst an. Dieses Mal musste ich die Treppe ertasten, sehen konnte ich sie nicht mehr. Ich kroch Stufe für Stufe nach oben und nach einer Ewigkeit griffen meine Hände in Schuhe. Anja! Noch einmal schoss ein wenig Energie durch meinen Körper. Ich zog an den Füßen, dann an den Beinen, dem Bauch und hatte schließlich ihren Kopf in den Händen. Sehen konnte ich nichts. Ich stellte mich auf, zog sie hoch, griff unter ihre Achseln und machte den ersten Schritt nach unten. Noch einen, dann noch einen und… Und die Welt fing an sich zu drehen und obwohl ich es nicht sehen konnte – spürte ich es. Dieses Taumeln, das Drehen wie ein Strudel, das Absacken, das Loslassen, das Fallen…

„Papa, Papa!“ die Worte rissen mich aus meinen Gedanken. „Wir haben Durst“, sagte Lea und sah mich mit ihren grünen Augen an. Ich lächelte, strich ihr durch die Haare und stand auf. „Wie wäre es mit Eistee ihr zwei?“ Ein gemeinsames jubelndes „Ja“ war die Antwort der beiden.
Sie warteten am Tisch und dann tranken wir gemeinsam unseren kühlen Eistee. Ich liebte die beiden über alles und in diesem Moment waren wir uns ganz nah. Nur einer fehlte noch und dieser Gedanke, dieser eine Gedanke wurde zu einem leisen Klingelton auf dem Laptop. „Eure Mama!“ sagte ich und öffnete mit einem Klick Skype und ihr wunderschönes Lächeln erschien auf dem Bildschirm und die Abendsonne schien plötzlich ein wenig heller.

Wir redeten lange und länger. Die Kinder hatten viel zu erzählen. Am Wochenende würden wir sie aus der Reha abholen und wir würden endlich wieder komplett sein.
Später tauchte auch noch Rainer auf. Mein Freund und Nachbar, der meiner kleinen Lea das Leben gerettet hatte. Doch nicht nur er hatte unser Glück erst möglich gemacht. Auch die Feuerwehrmänner, die mich und Anja gerettet hatten waren Teil dieses Glückes.

An diesem Abend saß ich noch ein wenig alleine in unserem kleinen Garten. Alleine mit meinen Gedanken an Anja und dem Glück das wir hatten. Der Schwelbrand hatte nicht so viel Schaden angerichtet wie befürchtet aber die Renovierung im Obergeschoss würde noch ein paar Wochen dauern und so lange schliefen wir zusammen auf der Couch im Wohnzimmer. Wir drei und bald wieder wir vier. Zusammen - zusammen in Glück.
 

http://www.webstories.cc 28.03.2024 - 22:31:52