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Die Kinder von Brühl 18/Teil1 - Plumpsklo und Gänseblümchen/Episode 21/ Der Flüchtlingsjunge und das Kohlestückchen

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©  rosmarin   
   
Episode 21

Der Flüchtlingsjunge und das Kohlestückchen

„Seit die Amis in unser kleines Städtchen eingezogen sind, ist nichts mehr wie es war“, sagt Else.
„Da hast du recht.“ Richi guckt Else mit seinen großen traurigen Augen an. „Wie sollte es auch“, erwidert er. „der ersten Euphorie ist eine tiefe Depression gefolgt. Die Menschen sind verunsichert. Einerseits sind sie glücklich, dass der schreckliche Krieg endlich zu Ende ist. Andererseits fühlen sie sich von den Eroberern, den Siegern, gemaßregelt und unterdrückt. Die Wenigsten können erkennen, was dieser Krieg angerichtet hat. Wie viel Opfer er auf der ganzen Welt gefordert hat.“
„Das stimmt allerdings“, stimmt Else zu. „aber sie sind doch im guten Glauben ihrem Führer, dem Hitler, gefolgt. Wir doch auch. Der Hitler wollte doch nur das Beste für das deutsche Volk. Dafür waren wir gern bereit, Opfer zu bringen.“
„Sogar die eigenen Männer und Söhne“, sagt Richi böse. „Das ganze verbrecherische Ausmaß dieses unseligen Krieges wird sich erst in der Zukunft zeigen.“
Es ist schon Abend. Wir Kinder müssten längst im Bett sein. Else und Richi scheint das nicht zu interessieren. Wir sitzen alle zusammen an dem ovalen Holztisch. Die Lampe bleibt oben. Es gibt keinen Strom. In der Mitte des Tisches hat Else einen kleinen Kerzenstummel angezündet. „Streichhölzer wird es wohl bald auch nicht mehr geben“, lacht sie. „Aber zum Glück gibt es ja keinen Fliegeralarm mehr. Da brauchen wir die Fenster nicht mehr zu verdunkeln. Und es bleibt länger hell in der Stube.“
Eine Weile starren wir schweigend auf das mickrige Lichtlein.
„Ich habe Hunger“, sagt Jutta.
„Ich auch“, plappert Karlchen nach.
„Und mir knurrt auch der Magen“, sage ich.
„Es ist nichts da“, erwidert Else. „Essensmarken gibt es erst morgen wieder. Wir haben heute Mittag alles aufgegessen.“
„Ja“, sagt Richi, „wir müssen die Rationen besser einteilen. Es ist zwar sehr wenig, aber wir müssen etwas für den Abend aufheben.“
„Müssen wir wohl“, stimmt Else zu. „Und die Milch für Bertraud Johanna musste ich schon mit Wasser verdünnen.“

*
Gleich am ersten Tag ihrer Ankunft, also am 12. April 1945, haben die Amerikaner die Schule und das Rathaus besetzt. Der Unterricht fällt bist auf unbestimmte Zeit aus. Im Rathaus ist eine amerikanische Wachstation eingerichtet worden. Davor stehen die Soldaten. Sie halten ihre Gewehre im Anschlag und machen ganz ernste Gesichter. Überall ist ein chaotisches Durcheinander. Und abgesehen von den lauten Kommandorufen der Offiziere herrscht ein großes Schweigen. Die Menschen sind so entsetzt, dass sie nicht wissen, wie sie sich ausdrücken sollen. Also schweigen sie lieber. Oder flüstern hinter ihren vorgehaltenen Händen.

Vor dem Loh haben die Amis ein Feldlager eingerichtet. Und vor der Lohgaststätte stehen vierundzwanzig Panzer. Drohend richten sie ihre Rohre auf die Stadt.
Was würden wohl die sieben Lohjungfrauen dazu sagen? Na, immerhin sind die Kanonen nicht gegen das Wäldchen gerichtet. Und geschossen haben die Amis damit auch nicht auf uns. Es war richtig, dass wir uns mit den weißen Bettlaken ergeben haben. So ist kein Schuss gefallen. Aber dass die Amis sich hier so aufführen, ist auch nicht gerade lustig.
Wie oft sind wir Kinder hierher gewandert. Und wie oft haben wir versucht, sieben Mal hintereinander zu niesen. Denn wenn es gelingt, erscheinen die sieben Lohjungfrauen und erfüllen uns jeden Wunsch. Aber nicht mehr als sieben. So jedenfalls sagt die Sage. Die sieben Lohjungfrauen sollen wunderschön sein. Mit langen blonden Haaren und blauen Augen. Gehüllt in fließende, lange, weiße Gewänder. Gesehen haben wir sie nie. Nur in unseren Träumen. Da huschen sie durch den dichten Laubwald. Wie Irrlichter in der Nacht. Sie beschützen die Bäume. Die Menschen. Und die Tiere. Leider haben wir es bisher nicht geschafft, sieben Mal hintereinander zu niesen. Und jetzt stehen die Panzer vor dem Wäldchen. Hauptsache, die Soldaten gehen nicht in das Wäldchen hinein. Dort haben wir nämlich eine alte, verfallene Hütte entdeckt. Sie ist so unter dichtem Gestrüpp versteckt, dass sie, außer uns Kindern, bestimmt niemand findet. Nur manchmal kommen einige Rehe und oder auch Füchse vorbei, die an ihr herumschnuppern. Und einige Vögel haben ihre Nester auf das löchrige Dach gebaut. Diese Hütte ist so anziehend und geheimnisvoll, dass wir soft wir können, dorthin wandern. Wir sitzen dann gemütlich vor einem alten Ofen ohne Feuer auf der Erde und erzählen uns Gruselgeschichten. Die Hütte hat keine Tür mehr. Und durch die zwei Fenster ohne Scheiben pfeift meistens ein frischer Wind.

*

Der alte Bürgermeister hat jetzt nichts mehr zu sagen. Er muss die Befehle des Stadtkommandanten ausführen. Kino und Schwimmbad sind verboten. Es herrscht Ausgangs - und Stromsperre ab achtzehn Uhr. Jeder Bürger bekommt eine Essensration auf Essensmarken. Dafür stehen die Menschen vor dem Rathaus Schlange. Sie sehen ängstlich und abgemagert aus. Die Frauen haben ihre ältesten Sachen an. Und die Kopftücher haben sie tief ins Gesicht gezogen.
„Wir wollen ja wohl nicht von den schnuckeligen Amikerlchen vergewaltigt werden“, hat Frau Schmids zu Else gesagt. „Das sind doch auch nur Männer.“
Else hat nichts dazu gesagt. Doch am Abend hat sie aus der alten Truhe vor dem Schlafzimmer, über der ein alter, fast blinder Spiegel hängt, ein langes, graues Kleid geholt. Bestimmt ist das noch eins von der Urgroßmutter. Um die immer so ein Geheimnis gemacht wird. Immer, wenn Else mir das Geheimnis anvertrauen wollte, ist ja etwas dazwischen gekommen. Otto und Berta haben sie schon als dreizehnjähriges Mädchen nach Buttstädt zu den Urgroßeltern geschickt. Weil die schon alt und nicht mehr ganz auf der Höhe waren. Also musste Else ihnen helfen. „Und dann habe ich die Großmutter eines Tages auf dem Dachboden gefunden. Sie war tot“, hat Else mal gesagt. Weiter ist sie nicht gekommen mit ihrer Erzählung. Danach hat sie mich mit meiner Fragerei immer abgewimmelt.

Else hat das alte Kleid angezogen und sich vor dem Spiegel von allen Seiten betrachtet.
„Na“, hat sie gelacht, „sehe ich nicht aus wie die schönste Vogelscheuche aller schönen Vogelscheuchen?“

Die Männer in der Schlange sehen allerdings nicht schnuckelig aus. Sie sind alt und haben einen krummen Rücken. Else macht sich auch krumm. In ihrem grauen Vogelscheuchenkleid. Aschenputtel hat sich ja auch in einem grauen Kleid versteckt. Und doch hat sie der Königssohn zur Frau genommen.
Meistens stelle ich mich mit Else in der Schlange an. Wenn wir dran sind, bekommen wir die Essensmarken. Damit können wir dann ein Brot, fünf Eier, ein Stück Margarine, ein Pfund Mehl, zwei Kilo Kartoffeln und ein Pfund Grieß und für Bertraud Johanna Milch einkaufen. Das muss für eine Woche reichen. Manchmal bekomme ich von dem Soldaten an der Kasse ein Stück Schokolade zugesteckt. Das ist etwas ganz Besonderes. Schokolade hatte ich noch nie gegessen. Jutta und Karlchen und Bertraud Johanna natürlich auch nicht. Jeder darf dann ein winziges Stückchen abbeißen. Und alle sind glücklich.

Fahrräder, Fotoapparate, Radios, Waffen, signierte Kunstgegenstände, Bilder, Silber und Goldschmuck, Bestecke und vieles Andere mussten abgegeben werden. Das liegt nun in wildem Durcheinander auf dem Marktplatz. Fast bis zur Kirche. Und die Leute starren stumm da hin.

„Die Soldaten stürmen jeden Haushalt“, hat Frau Schmids zu Else gesagt. Sie gucken, ob es was zu holen gibt. Sogar nach versteckten Männern suchen die. Bestimmt nach Nazis. Ein Glück, dass meiner verschwunden ist, bevor die gekommen sind.“
„Ja“, hat Else erwidert, „hätten die ihn erwischt, wäre er bestimmt sofort standrechtlich erschossen worden.“
Die Amis haben nichts gefunden. Es sind sowieso nur noch ganz alte Männer im Ort. Und die Zwangsarbeiter. Die dürfen hier sein. Und die Kommunisten auch. Die Widerstandskämpfer.
„Die Bilder bekommen sie nicht“, hat Else mir zugeflüstert, als dann die Soldaten in Schmids Haus waren, „schnell versteck sie im Klo.“
„Klar.“
Ich bin schnell in den Verschlag gelaufen, habe die Weltkugel und den Braunen Feldhasen von der Wand genommen und sie im Plumpsklo versteckt. Unter der letzten Schicht Kacke. Bestimmt die von Richi. Darüber habe ich einige Zeitungsvierecke gelegt. Und tatsächlich haben die Soldaten nicht im Plumpsklo nachgeschaut. Kaum waren sie aus dem Haus, hat Else die Bilder aus dem Klo geholt und gesäubert. "Die hättest du aber auch sorgfältiger einwickeln können", hat sie mich gerügt.
Naja. Aber um die zwei alten klapprigen Fahrräder ist es doch schade. Wie sollen wir denn nun nach Ziegelroda kommen. Wir haben schon einige Zeit nichts mehr von Opa und Oma und Wally gehört. Hoffentlich haben die sich auch ergeben. Wenn etwas passiert wäre, hätten sie uns bestimmt ein Telegramm geschickt. Das heißt, wenn die Stromleitungen noch in Ordnung sind.
Hier gibt es auch meistens keinen Strom. Aber das ist nicht so schlimm. Wir kochen das Essen in der Grude. Schlimmer wäre es, wenn es keine Kohlen und keinen Koks mehr gäbe. Aber die Güterzüge mit den Kohlen kommen noch immer am Bahnhof an.
Seit einiger Zeit fahren auch ununterbrochen die Personenzüge von Großheringen nach Erfurt. Und dann weiter nach Suhl. Hier in Buttstädt haben die Züge meistens eine halbe Stunde Aufenthalt. Sie sind mit Soldaten vollgestopft. Mit Heimkehrern. Und mit Flüchtlingen aus Ost - und Westpreußen oder aus dem Sudetenland.
„Sie suchen hier im Osten eine neue Heimat“, hat Else gesagt, „weil sie vor den Russen fliehen mussten. Sie haben nur noch ihr nacktes Leben. Wir müssen ihnen helfen.“

*

Nachdem ich mit Trude eine halbe Stunde Treiben gespielt habe, muss ich nach Hause. Wir essen immer pünktlich zwölf Uhr. Da kommt Richard von der Arbeit. Er hat nur eine Stunde Zeit.
„Schluss jetzt“, sage ich zu Trude und behalte den Ball in meinen Armen.
„Och“, mault sie, „ich wollte dir gerade ein Geheimnis anvertrauen, weil du ja meine beste Freundin bist.“
„Was ist es denn?“, frage ich neugierig. Geheimnisse sind immer gut. Besonders, wenn man sie von anderen erfährt.
„Das sage ich erst“, sagt Trude, „wenn du mir sagst, wann ihr wieder ins Loh geht.“
„Aber da stehen doch die Panzer“, sage ich, „da können doch meine Geschwister nicht mit. Die kriegen doch Angst.“
„Ich habe keine Angst“, sagt Trude. „Wir können doch alleine hingehen.“
„Toll wäre es schon“, erwidere ich. „Da könnten wir mal sehen, was die Amis so treiben. Die können doch nicht den ganzen Tag stramm stehen oder in ihren Panzern hocken.“
„Bestimmt nicht“, freut sich Trude. „Gehen wir nun hin?“
„Klar“, sage ich.
„Und wann?“
„Mal sehen, wann ich Zeit habe. Oder ich sage einfach nicht Bescheid. Sonst darf ich sowieso nicht.“
„Ehrenwort?“
„Ehrenwort. Und nun das Geheimnis.“
Trude kommt ganz nah an mich heran. Dann flüstert sie in mein Ohr: „Meine Schwester hat einen Ami als Freund.“
„Woher denn?“, frage ich.
„Na von Stars“, sagt Trude. „Da ist doch Sonntags immer Bums.“
„Bums?“, staune ich.
„Ja, Tanz“, sagt Trude. „Und meine Mutter angelt sich da auch einen Ami. Dafür bekommen sie Zigaretten, Kaffee und Schokolade.“ Trude rollt kichernd ihre Augen. "Und Seidenstrümpfe", fügt sie hinzu. "Sogar mit Naht."
„Oh“, sage ich beeindruckt. „Meine Mutter zieht immer so ein schrecklich graues Kleid an. Bestimmt von meiner Urgroßmutter. Damit sie nicht von einem schnuckeligen Amikerlchen vergewaltigt wird. Und Seidenstrümpfe hat sie auch nicht. Sie geht nie zum Tanz. Das ist ja auch Sünde.“
„Sünde ist das nicht“, widerspricht Trude. „Das ist Vergnügen. Und man bekommt so schöne Sachen.“
„Da können wir ja auch mal hin“, schlage ich vor.
„Du bist aber dumm.“ Trude stemmt ihre Arme empört in die Hüften. „Da dürfen doch nur Erwachsene hin.“
„Aber wir könnten doch durch die Fenster gucken“. gebe ich nicht auf, „die gehen doch fast bis zur Erde. Und da könnten wir ja deiner Schwester und deiner Mutter und den Amis wenigstens beim Bums zusehen.“
„Aber das ist doch immer Abends“, wendet Trude ein. „Da darfst du sowieso nicht raus. Und wenn der Strom ausfällt, sehen wir auch nichts.“
„Schade“, sage ich, „aber vielleicht schaffe ich es doch mal.“
„Vielleicht, wenn deine Mutter schläft“, sagt Trude. „Aber erst gehen wir zum Loh.“
„Na gut“, bin ich einverstanden.

Trude hüpft zufrieden die paar Meter zu ihrem Haus. Neben ihrem winzigen Haus steht das Haus von Frau Hörnig. Frau Hörnigs Haus ist noch winziger und hat nur drei Fenster. Aus dem im ersten Stock schaut den ganzen Tag ihr Kopf mit den grauen Haaren. Frau Hörnig beobachtet, was so in der Straße passiert. Sie weiß alles. Und sie kennt jeden. Und jeder kennt sie. Ihr Mann und ihre zwei Söhne sind vor Moskaus Toren gefallen.
„Sie hat es nie verwunden“, hat Else gesagt. „Sie schaut aus dem Fenster, weil sie denkt, dass ihr Mann und die Söhne jeden Moment zurück kommen, obwohl die Namen der Gefallenen und Vermissten ja im Rathaus ausgehängt sind.“

Ich sehe den Richi oben am Kleffer in den Brühl einbiegen und laufe schnell nach Hause. Der Tisch ist schon gedeckt. Die Kartoffeln dampfen im Topf. Neben dem Kartoffeltopf steht eine kleine Schüssel mit Quark. Und daneben eine größere mit Löwenzahn und Gänseblümchen von unserem Wiesenfleckchen.
„Richi kommt!“, rufe ich.
In diesem Moment schließt Richi die Tür auf. Dann legt er den großen Eisenschlüssel wieder auf die Ablage und schließt die Tür. Mit seinen Arbeitsschuhen und den schmutzigen Dreherklamotten setzt er sich auf seinen Platz. Else spricht das Dankgebet. Wir senken die Köpfe und falten die Hände. Nach dem Gebet verteilt Else das Essen auf die Teller. Für jeden gibt es zwei Kartoffeln und einen Klecks Quark. Salat kann sich jeder nehmen soviel er will. Bertraud Johanna sitzt auf Elses Schoß. Sie bekommt nur eine Kartoffel. Die zerquetscht Else mit ihrer Gabel. Dann nimmt sie den kleinen Löffel und füttert sie. Zum Schluss bekommt sie noch eine Tasse Milch. Wir anderen trinken Wasser aus der Leitung. Mir ist das recht. Ich trinke ja sowieso keine Milch.
„In einer Stunde kommt ein Güterzug mit Kohlen“, sagt Richi zu Else. „Da fallen ja immer eine ganze Menge runter. Und da können die Kinder ja mit dem Handwagen hin und welche aufsammeln. Wir müssen jetzt schon für den Winter vorsorgen.“
„Wichtiger wäre jetzt Koks“, sagt Else. „Wenn der alle ist, gibt es nichts Warmes zu essen.“

*

Wir holen den Handwagen aus dem Ziegenstall ohne Ziegen und holpern den Berg hinauf zur Rastenbergerstraße bis zum Bahnhof. Es ist noch kein Kohlenzug da. Aber die Bahnhofshalle ist voller Menschen.
„Ihr bleibt mit dem Handwagen hier“, sage ich zu Jutta und Karlchen. „Ich gehe mal in die Halle, gucken, woher die vielen Leute kommen.“
„Ich will auch mit“, mault Jutta.
„Das geht nicht“, sage ich, „wer soll denn auf den Handwagen aufpassen?“
„Na Karlchen.“
„Der ist noch zu klein. Also, wartet hier. Ich bin gleich zurück“, sage ich. „Außerdem sind hier überall die Amisoldaten. Die passen auf, dass euch nichts passiert.“
Ich schlüpfe schnell an den zwei Wachsoldaten vorbei in die Halle. Es ist fast kein Durchkommen. Rings um mich herum ist ein ungewohntes Stimmengewirr mit fremden Akzent. Einige Leute stehen in Grüppchen herum und lesen die Plakate an den Wänden. Meistens sind es Vermissten - und Suchanzeigen. Aber auch Hinweise und Wegschilder zum Rathaus.
Die Hitlerbilder sind verschwunden. Die Fahnen mit dem Hakenkreuz auch. Und auch die Spruchbänder mit der Aufschrift: Wir werden siegen.
Logo. Wir haben ja nicht gesiegt. Da hatte Richi und seine Kommunisten also doch recht.
Neugierig gucke ich Richtung Ausgang. Einige Menschen laufen ziellos hin und her. Andere sitzen auf dem Boden und warten. In der Nähe der Tür hat sich eine größere Gruppe zusammengefunden. Jüngere Frauen und einige Kinder. Eine Frau ist schwanger. Sie ist etwas untersetzt. Sie trägt ein schwarzes langes Kleid. Darunter wölbt sich ihr großer Bauch. Ihre dunklen Haare hat sie unter einem grauen Kopftuch versteckt. Sie sieht sehr erschöpft aus. Vor ihrer Brust hält sie ein kleines Mädchen. Ungefähr so alt wie Bertraud Johanna. Neben der Frau steht ein Mädchen mit langen dunkelbraunen Zöpfen. Und hinter ihr zwei Jungen. Beide sind ziemlich niedlich. Beide haben lockiges dunkles Haar und braune Augen. Wenn ich jetzt durch die Halle gehen will, um zu sehen, ob der Güterzug mit den Kohlen kommt, muss ich an ihnen vorbei. Aber sie stehen direkt vor dem Ausgang.
„He du, mach mal Platz“, sage ich zu dem größeren Jungen.“
„Warum denn“, fragt der patzig und guckt mich frech an.
„Darum“, sage ich.
„Das gilt nicht.“ Der Junge versperrt mir noch mehr den Weg.
„Lass mich durch Dummkopf“, werde ich wütend.
„Erst, wenn du sagst, wie du heißt, du Göre“, wird der Junge noch frecher.
„Rosi“, gebe ich nach. „Und du?“
„Walter“, sagt Walter. „Und was willst du auf dem Bahnsteig?“
„Nachsehen, ob ein Güterzug mit Kohlen kommt“, erwidere ich.
„Dann komme ich mit.“ Walter streckt seinen Arm aus. Ich gehe drunter weg. Er trottet hinter mir her.
„Es kommt keiner“, sage ich enttäuscht.
„Vielleicht später“, sagt Walter und guckt wie ich in Richtung Großheringen.
„Was machst du überhaupt hier?“, frage ich Walter.
„Wir sind auf der Durchreise“, sagt er. „Und wir warten auf den nächsten Transport. Wir sind schon drei Tage unterwegs. Aber wir sollen weiter. In den Thüringer Wald.“
„Und wo kommt ihr her?“, bin ich neugierig.
„Na aus Lissau. Aus Ostpreußen. Polen.“
„Seid ihr geflüchtet?“, frage ich. „Vor den Russen?“
„Klar“, sagt Walter traurig, „wir mussten alle weg. Und meine Mama bekommt im Juni ein Baby. Bis dahin müssen wir eine Bleibe gefunden haben.“
„Dann seid ihr die Flüchtlinge“, stelle ich fest. „Meine Mama sagt, wir müssen denen helfen.“
„Ja, aber wir müssen weiter.“ Walter dreht sich um und sagt: „Dort das sind meine Geschwister und meine Tanten mit ihren Kindern. Wir bleiben alle zusammen.“
„Und wo ist dein Vater?“
„Das wissen wir nicht.“
„Wir wissen auch nicht, wo unserer ist“, sage ich. In diesem Moment sehen wir den Güterzug heranächzen. „Ich muss raus!“, rufe ich. „Zu den Schranken. Die Kohlen auflesen.“
Ich renne los. Walter hinter mir her. Draußen warten Jutta und Karlchen schon ungeduldig. Walter setzt sie in den Handwagen. Wir nehmen die Deichsel und holpern zu den Schranken. Kaum sind wir angekommen, gehen sie in die Höhe. Der Weg nach Rastenberg ist frei. Vom Kohlenzug sehen wir noch die Schlusslichter. Der letzte Waggon schleudert ein bisschen hin und her. Einige Kohlen liegen neben den Schienen. Schnell werfen wir sie in den Handwagen.
„Viele sind es ja nicht“, sagt Walter. „Aber es kommen ja bestimmt noch mehr Kohlezüge.“
„Jeden Tag“, sagt Jutta. „Kommst du mit zu uns?“
„Nein.“ Walter guckt mich ganz ernst an. „Ich muss jetzt zurück. Aber ich habe was für dich.“
„Für mich?“
„Ja. Zeig deine Hand.“
Ich halte meine Hand auf. Walter legt ein Kohlestückchen hinein. „Das ist ein Andenken an unsere Begegnung“, sagt er. „Hebe es gut auf. Vielleicht bringt es Glück. Und vielleicht sehen wir uns irgendwann mal wieder.“
Walter lacht und rennt zurück zum Bahnhof.
Wir holpern zurück zu Brühl 18.

Das Kohlestückchen lege ich zu meinen anderen Schätzen. Steinen, Kugeln, Perlen und anderen Krimskrams in ein Kästchen. Das verstecke ich in meinem Strohsack.

***


Ende Teil 1
 

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