Der Mann im Nebel |
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© Frank Bao Carter
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Was für eine dicke Brühe. Momodou Jobateh, in einer Steppe in Namibia, südlich von Windhoek aufgewachsen, in der Schafe und Ziegen die einzige Einnahmequelle sind und einherschreitend mit dem Klimawandel die Zukunft stirbt, kennt so einen dichten Nebel nicht. Ihm fröstelt. Er hält sich den Kragen seiner billigen Regenjacke mit einer Hand zu. An seinen schwarzen Locken, die an seinen Wangen aus der Kapuze herausgekrochen sind, rinnen Tautropfen herab. Jetzt, wo er von der Sitzgelegenheit an der Leine aufgestanden ist. Ganz weit oben am hohen Ufer. Schräg in seinem Rücken den alten Wehrturm der Stadtmauer. „Der Teufel muss dich geritten haben, an einem Tag wie diesen vor deine Tür zu treten“, schimpft er leise mit brüchiger Stimme vor sich hin. Irgendwie ist ihm nicht wohl. Er hat Angst. Ausgerechnet in dieser Waschküche will er sich mit einem wildfremden Mann treffen. Hat der das Wetter vorhergesehen, als er gestern im Chat Treffpunkt und Uhrzeit vorschlug? Unmöglich.
Plötzlich knallen Schritte in dem grauen Brei. Ein Mann mit noblen Lederschuhen nähert sich Momodou. Unter seinem enganliegenden Regenmantel spürt er, wie sich seine Nackenhaare aufrichten. „Hau endlich ab“, keift eine Stimme in seinem Hirn. Aber der junge Mann mit der schwarzen Haut ist wie gelähmt. Vor seinen Augen sieht er ein Schaf seiner Heimat, das mit neugierigen Augen vor einem Löwen steht. Erst als sich schemenhaft ein schwarzes Etwas mit großem Hut aus den bis auf den Boden hängenden Wolken schiebt, nimmt er die Beine in die Hand. Ein Engel ist das nicht.
Momodou rennt eine Etage tiefer Richtung Flusslauf. Die Schritte folgen. Ihm ist, als kämen sie auch auf dieser Ebene aus derselben Richtung. Norden. Wie kann das zugehen? Ist der Engel die hohe Mauer hinab geflogen? Egal, dem jungen Mann bleibt nichts Anderes übrig, als die Stufen zur dritten Etage zu nehmen. Fast auf Flusshöhe, hält er den Atem an. Keine Schuhe klackern mehr über Pflastersteine. Ist ihm die Flucht geglückt? Oder nimmt der Teufel mit seiner Nase Witterung auf.
Momodou wird in dieser Sekunde mit Schrecken bewusst, es ist wirklich ein schwarzer Engel, der sich an seine Fersen geheftet hat. Angestrengt spitzt er die Ohren.
Da – ganz sacht – aber unverkennbar. Jemand schleicht die steinernen Stufen zu ihm herunter. Wer nichts zu verbergen hätte, müsste sich nicht anpirschen.
Dem jungen Mann rutscht die Kapuze vom Kopf, als er gen Süden rennt. Sein schwarzes Wuschelhaar weht ihm um die Ohren. Von rechts hört er den Autolärm des Leibnizufers. Eine Straße, aufgebaut mit dem Schutt des zweiten Weltkrieges. Pragmatisch, wie die hannoverschen Staatsherren der Nachkriegsjahre waren, haben sie den linken Arm der Leine einfach zugeschüttet und die idyllische Leineinsel – genannt Klein Venedig - dem Erdboden gleich gemacht. Seitdem gibt es kein romantisches Fachwerk mehr mitten zwischen zwei Wasserläufen, ist ein touristischer Anziehungspunkt untergegangen, wie Rungholt im Sturm von den Wellen der Nordsee gefressen wurde.
Wo Autos sind, gibt es Hilfe. Dessen ist sich der junge Mann aus Namibia sicher. Er hetzt über die aus Sandsteinquadern gebaute einbögige Leintorbrücke, schlägt am Parkplatz einen Haken und rennt der Nase nach in das undurchdringliche Grau. Hinter ihm knallen die Lederschuhe. Tack. Tack. Tack. Sie kommen unaufhaltsam näher. Verflucht. Der Schwarze Engel holt auf.
Plötzlich pellen sich vor Momodou riesige, kugelige Gestalten aus dem Nichts. Die Hand aufs Herz gelegt, erstarrt er zu Stein.
„Das sind bloß die Nanas“, hört er hinter sich eine warmherzige, männliche Stimme. „Kein Grund zur Panik. Sind Sie Mou, junger Mann?“
Momodou dreht sich langsam um. Der Mann hinter ihm kennt seinen Nickname. Demnach kann es kein Feind sein.
Unter seiner Hand fühlt er sein Herz schlagen. Lebensbedrohlich schnell. Aber was soll er machen? Weiter flüchten? Der Mann hinter ihm scheint ausdauernder zu sein. Zudem fühlt der dunkelhäutige Mann auf einmal eine Scham von seinen Füßen in seinen Körper gekrochen kommen. Wie Rauch, der sich aus einem brennenden Zimmer unter der Tür in den Flur zwängt. Albern kommt er sich vor, vor seinem Rendezvous wegzulaufen.
Aus dem Nebel schält sich ein großer Mann mit Hut. Etwas altmodisch angehaucht. Sein dunkelgrauer Wollmantel geht ihn bis auf die Schienbeine. Die obersten Knöpfe sind geöffnet. Momodou schaut irritiert auf das weiße Hemd mit TAB-Kragen, aus dem wie ein Eidechsenschwanz eine grau-schwarz gemusterte Krawatte wächst, welche auf Brusthöhe von einer zugeknöpften, schwarzen Stoffweste eingefangen wird.
Der Fliehende erinnert sich an einen Schwarz-Weiß-Film, den sie beim Sprachkurs gesehen haben. Anhalter Bahnhof in Berlin. Winter. Kalte Nacht. Die Dampflok pustet mit einem Zischen weißen Wasserdampf über den Bahnsteig. Aus den sich auflösenden Wolken erscheint ein Mann in Anzug mit Hut. Ein Kommissar. Ein Guter. Vor mehr als einhundert Jahren.
Momodou weiß nicht so Recht, ob vor ihm ebenfalle ein Guter steht. Ein Teil in ihm nimmt Gefahr wahr. Eine undefinierbare. Einfacher festzustellen hingegen ist das, was seine Augen sehen. Einen freundlichen, eleganten und attraktiven Mann, der im Knopfloch seines Mantels eine rote Rose trägt. Das Erkennungszeichen.
Der geheimnisvolle Nebelmann schreitet bedächtig auf den jungen Mann mit dem Wuschelhaar zu. Fast, als müsste er jegliche hektische Bewegung vermeiden, weil sonst der Gesuchte wie ein scheuer Kormoran von seinem in Ufernähe aus dem Wasser herauslugenden Felsen auffliegen könnte.
„Ich bin es. Frederik von der Haar. Hab keine Angst.“ Zärtlich streicht der viel ältere dem jungen Mann eine nasse Haarsträhne aus der Stirn. Sein neuer Schützling erinnert ihn an einen in die Enge getriebenen Hasen.
„Du siehst tausend Mal schöner aus als auf dem Foto, Mou.“ Die Hand des Anzugmannes streicht von der Stirn über die Wange des unentschlossen dastehenden Mannes mit der dunklen Hautfarbe. Zart streicht sein Daumen Sekunden später über die breiten Lippen Momodou Jobatehs. „Gehen wir zu mir, ich hab einen Lammbraten im Ofen.“
*
„Unterarme wurden in eins abgetrennt, beim Oberschenkel verkeilte sich die Schlagwaffe im Knochen, es bedurfte mehrerer Hiebe.“ Der Pathologe Dr. Braun griff in seinen Nacken, zog sich das Halsband des hellgrünen Kittels über den Kopf und ging eilig zu seinem Schreibtisch. Seine Lesebrille baumelt in altmodischer Art an einer goldenen Kette vor seinem Brustbein. „Diese Verletzungen alle sind postmortal. Wenn Sie, Herr Kommissar, mit einem Messer die Wundränder ausstreichen würden, werden sie die Spuren des postmortalen Blutaustritts wegwischen können.“
Kommissar Cem Sahin zupft am Knoten seiner ordentlich gebundenen Krawatte. Anstalten, ein Skalpell zu ergreifen, unternimmt er nicht. „Wollen Sie mir noch mehr erzählen, Doktor Braun?“
Mit versteinertem Gesicht fixiert der junge Kommissar mit dem pechschwarzen Haar den Torso. Muskulös ohne Bauchansatz; wohl ein junger Mann. Goldbraune Haut, vielleicht aus Latein-Amerika oder dem arabischen Raum. Ohne rechtes Bein, ohne Unterarme und . . .
„Ganz anders verhält es sich am Hals.“ Mit einem Handtuch in den Händen kommt der Pathologe zurück. Nur mit der Fingerspitze weist er auf das zerfranste Gewebe: „Hier sehen Sie die flächenhafte Einblutung in das Subkutangewebe der Haut. Auch als Wundrand bezeichnet. Das flüssige Blut ist demnach in das Gewebe getreten, ein eindeutiger Beweis, dass zu diesem Zeitpunkt der Kreislauf des Opfers noch funktionierte. Diese geronnenen Masse lässt sich nicht einfach mit einem Messer wegwischen.“
„Wollen Sie sagen . . .“ Groß schauen braune Augen den Rechtsmediziner an.
„Dem Mann wurde bei lebendigem Leibe der Kopf abgetrennt. Anscheinend mit einer Säge, was die aufgerissenen Schnittränder erklären könnte. . . . Die anderen Amputationen hingegen wurden an der Leiche vorgenommen. Etwa eine Stunde nach dem Eintritt des Todes. . . . Zudem hat der junge Mann kurz vor seinem Tod noch Geschlechtsverkehr gehabt. Rektal. Die Spuren sind eindeutig.“
„Haben wir eine DNA, Doktor?“
„Befund ist gerade gekommen, deshalb bin ich zu meinem Schreibtisch gegangen. Die DNA ist männlich. Ob vom Mörder, ist ihr Fachgebiet, Kommissar Sahin.“ Ohne Umschweife legt der Mediziner ein grünes Laken über den Torso und schiebt ihn in eine Kühlkammer.
Der Kriminalist Cem Sahin verlässt nachdenklich den Raum. Wo und wann werden die anderen Leichenteile auftauchen? Auf der Mülldeponie in Altwarmbüchen, zu der die Polizei in den Morgenstunden dieses nebeligen Tages gerufen wurde, war nur der Rumpf. Selbst Leichenspürhunde fanden keinen weiteren Körperteil. Wer hat so viel Hass gehabt, diesen jungen Mann qualvoll zu ermorden?
Noch im Flur liest der smarte Kommissar den vorläufigen Bericht des Rechtsmediziners: Letzte Speise war Lammfleisch. Viel Zeit zum Verdauen wurde dem Opfer nicht mehr gewährt. Nach der homoerotischen Betätigung muss es zu einer Fesselung gekommen sein. Das belegen Hämatome an Brust Arm und Bauch. Allem Anschein nach wurde das Opfer mit breiten Lederriemen auf einem Bett oder einem Tisch gefesselt. Dort begann es sich in seinem Todeskampf aufzubäumen. Anders sind die Blutergüsse nicht zu erklären. Das bedeutet, als die Säge angesetzt wurde, war es bei vollem Bewusstsein. Wieso aber in der Zeit zwischen Beischlaf und Ermordung nicht? Betäubungsmittel konnten im Toten nicht nachgewiesen werden.
„Was für eine Bestie jage ich?“ Der schwarzhaarige Mann im adretten Anzug stoppt die schwere Haustür mit einer nach hinten gestellten Hand. Tief saugt er die nebelige Luft des Tages ein. Dem Verwesungsprozess nach soll das Opfer vor cirka einer Woche gestorben sein. Warum jetzt erst sein Fund? Wo war es zwischengelagert?
*
Der schöne Tung Hoàng schläft selig. Nach dem Akt. Seine Brille liegt auf dem Nachttisch. Frederik von der Haar gleitet mit seinen Augen über die glatte, weiche Haut. Keine Haare auf der Brust, keine Muskelpakete – einfach ein zarter, junger Mann, der in seiner Erschöpfung glücklich aussieht.
Glück.
Wie aus dem Nichts sind die Bilder da: Der große Bruder. Die Scham und die Pein. Die Nachbarin Edeltraut. Die Schläge, die Schreie, weil er die Kinder . . .
Und wieder kommt seine Tour. Frederik von der Haar kann nichts daran ändern. Der schöne nackte Pupenjunge – eben noch haben beide sich geliebt, warum nur reizt sein Geliebter ihn jetzt so? Ist das Dankbarkeit?
Der Mann mit dem weißen Hemd, dem akkurat gescheitelten und gewachsten Haar, dem kurzen Schnauzer, der nicht die ganze Oberlippe ziert, lediglich ein wenig weiter über die großen Nasenflügel hinausreicht und dessen linkes Auge etwas kleiner als das rechte wirkt, weil es stärker zusammengekniffen ist; dieser Mann legt jetzt seine großen Hände um den schlanken Hals des Jünglings. Schnell drückt er zu. Noch schneller hat er sich beim Schlafenden in dem Adamsapfel verbissen.
Tung Hoàng schrickt auf, trommelt mit seinen Fäusten gegen den Schädel des Unbarmherzigen, versucht dessen Klammergriff zu öffnen, schiebt seine Ellenbogen zwischen beide Körper und stemmt mit aller Kraft, beginnt mit seinen Knien gegen den Rücken des kräftigen Mannes zu treten. Vergeblich. Er kann sich nicht befreien.
Aus Panik will er schneller atmen. Es zischt nur leise. Kaum mehr kriegt er Luft in seine Lungen. Dazu der Schmerz der würgenden Hände, die irre Angst, die Zähne könnten den Kehlkopf durchtrennen. Als würde ein Wolf ihn zerreißen.
Nach einer Minute wird er benommen. Sein Widerstand stirbt. Überall ist Nebel. Dicht. Grau. Undurchdringlich. In seiner Nässe verliert sich der junge Vietnamese.
Frederik von der Haar zittert am ganzen Leib. Schweiß rinnt ihm über das Gesicht. Einen Menschen umzubringen, macht wirklich keinen Spaß. Es ist harte Arbeit. Und wofür?
Die Bilder. Der Bruder. Die Scham. Die Kinder. Die Schläge. Vergessen! Vergessen! Es soll nicht sein. Zudrücken. Beißen. Vergessen. Bis der Leib erschlafft.
Den Ohnmächtigen trägt der starke Mann in seinen Werkraum. Auf einem Tisch aus Stahl legt er ihn ab. Routiniert werden Lederriemen über Brust und Bauch fest gezurrt, der Kopf in einer selbstgebauten Presse fixiert. Er darf sich auf keinem Fall bewegen. Für die Strafe. Für das Reinwaschen der Schuld. Für das Vergessen. Vorbildlich hängt er sich eine große, lederne Schürze um.
Frederik von der Haar greift zu einer Säge. Am Ende des Halses setzt er an. Unterhalb der frischen, roten Würgemale seiner Hände.
Tung Hoàng erwacht. Brüllt animalisch. Blut spritzt. Blut. Blut. Blut. Die Schreie gehen unter in ein Gurgeln, die Augen brechen, die Säge ratscht durch die Wirbelsäule.
Frederik von der Haar gibt dem abgetrennten Kopf einen Kuss. Salomé und Johannes. Nur ist sein Tung kein Täufer, er ist Rohware. Wertvolle.
Zufrieden mit sich und der Welt geht der Mann mit Schnauzer in sein Wohnzimmer. Auf der Couch genehmigt er sich ein Mittagsschläfchen. Nach dem Aufwachen brüht er sich als erstes einen starken Kaffee. Frisch gestärkt geht er zurück in seine Schlachterei.
Anders als bei den ersten beiden Männern weidet der Schlächter sein Opfer aus. Die Innereien würzen die Wurst. Abgewaschen wandern sie in den Fleischwolf. Mit den Armen und den Unterbeinen. Nachdem das Fleisch mit einem scharfen Messer vom Knochen getrennt ist. Aus den Oberschenkeln werden Steaks geschnitten. Dieses Zubrot lässt sich der arbeitslose Bankangestellte nicht nehmen. Mit romantisch verklärten Blick denkt er an seine Kindheit zurück, wo er dem Onkel beim Schlachten der Schweine attestieren musste. Damals in Idensen. Einem kleinen Nest bei Wunstorf.
Zwei Abnehmer hat er. Eine Gastwirtin, ein paar Häuser weiter . . . ein Fleischverkäufer an einer belebten Straße, durch die noch eine Straßenbahn fährt.
Der Konkurrenzkampf ist hart in Zeiten der Globalisierung, wo große Ketten die kleinen Selbstständigen verdrängt, die arbeitende Bevölkerung immer weniger verdient, um noch häufig ein Restaurant aufsuchen zu können.
Frederik von der Haar nimmt dieses Zubrot gerne mit. Spät in der Nacht hat er die leicht verwertbaren Körperteile portioniert. Jetzt umwickelt er den Kopf des Toten mit einer großen Decke. Tung muss nicht mehr zusehen, was mit seinem Leib passiert; der Schlächter hat sich lang genug an den Würge- und Bissmalen berauscht, jetzt müssen Spuren verwischt werden. Klock. Klock. Klock.
Mit einem großen Hammer zertrümmert der Schlächter den Schädel. Die Schlaggeräusche kriechen dumpf vom Tisch durch den Raum zur Tür. Wie abgekühltes Teer, das sich langsam in die Schlaglöcher der Straßen ausbreitet. Im Frühjahr, um die Spuren des Frostes zu beseitigen. Und so, wie niemand den Straßenarbeitern groß Beachtung schenkt, sorgt sich keiner um die leisen Hammerschläge mitten in der Nacht. In einem Fünfzigerjahrehaus in der „Roten Reihe“.
Rumpf und Kopf des Vietnamesens packt der Schlächter in einen großen und reißfesten Plastiksack. Steinplatten zum Beschweren hat er schon unter der Leintorbrücke verstaut. Als Mann mit Hut schleppt er die Reste seiner Tat durch den Nebel. Die Lösung mit der Müllkippe in Altwarmbüchen hat sich im Nachhinein als unglücklich erwiesen. Den Weg des Entsorgens über die Toilette erachtet er als extrem zwiespältig. Hier kann er in der modernen Zeit nicht seinem Vorbild folgen. Ebenso ist ihm das Verschachern der Kleidung auf dem Flohmarkt zu heiß. Schweren Herzens entsorgt er diese in einer kleinen Kleidersammlungsbox.
*
Es ist Mittag. Die Wolken hängen wieder einmal bis auf den Fluss hinab. Cem Sahin schreitet nachdenklich das Hohe Ufer ab. Drei Vermisstenfälle liegen vor. Jede Woche eine. Was für ein schrecklicher Oktober. Lediglich einer ist geklärt. Zufrieden stellt das den jungen Kommissar keinesfalls. Es handelt sich um einen jungen Mann aus Venezuela: Nevio Ruiz Hernández, zwanzig Jahre jung, frisch in Deutschland eingewandert, arbeitslos, ohne Meldeadresse und mittlerweile auch ohne Kopf, Unterarme und einem Bein.
Sieben Tage später verschwand der Namibier Momodou Jobateh, eine weitere Woche später wurde der Vietnamese Tung Hoàng vom Erdboden verschluckt. Dem Kommissar schwant nichts Gutes. Doch wie der sehr dichte Nebel verhindert, das andere Ufer zu erkennen, verlieren sich alle Spuren der Polizei in einer Waschküche. Wer oder was treibt in Hannover sein Unwesen?
Die einzigen Gemeinsamkeiten, die die drei Männer außer dem Verschwundensein haben, sind die regelmäßige Teilnahme in der Facebookgruppe „Starthilfe ins neue Leben“ sowie die Tatsache, Verlierer der Globalisierung zu sein. Momodou Jabateh musste wegen der durch die Industriestaaten verursachten Klimaerwärmung auswandern. Nevio Ruiz Hernández venezuelische Regierung korrumpiert mit russischen und chinesischen Wirtschaftsgiganten und baut im Gegenzug alle sozialpolitischen Errungenschaften ab, um die großzügig verteilten Darlehen zu tilgen; im Einparteienstaat Vietnam wird die Presse zensiert und das Volk stark überwacht – Grund genug, auszuwandern.
Gedankenversunken steigt der Kriminalist mit dem schwarzen Haar und dem angenehmen Teint im Gesicht die Stufen bis zur untersten Promenade herunter. Fast auf Höhe des Flusses überrascht er ein paar Gassenjungen, die Kiesel auf dem Wasser tanzen lassen. Herzergreifend singen ihre hohen Stimmen ein Lied:
Warte, warte nur ein Weilchen,
bald kommt Haarmann auch zu dir,
mit dem kleinen Hackebeilchen,
macht er Hackefleisch aus dir.
Die Ernsthaftigkeit, mit der die Kinder das Lied vortragen sowie das Wort Hackebeil lassen den Polizisten im Anzug Stift und Notizblock greifen. In fliegender Eile ist der Liedtext notiert.
Zurück im Präsidium fragt er die älteren, in Hannover aufgewachsenen Kollegen nach dem Hintergrund dieses Liedes. Zeitgleich flattert eine Zeugenaussage auf seinen Schreibtisch: In der Calenberger Neustadt wird des Nachts häufig ein Mann mit Hut gesehen. Manchmal in Begleitung junger Männer, mitunter mit einem großen Rucksack. Drittens melden die IT-Spezialisten Erfolg: Alle drei Vermissten hatten in der besagten Facebookgruppe Kontakt zu einem Frederik von der Haar. Im Moment sind sie dran, den Nicknamen zu knacken.
Fritz Haarmann. Im vollen Namen Friedrich. Frederik. Bingo.
„Ich fresse einen Besen, wenn dieser Frederik nicht der Mann mit Hut ist. Wir benötigen eine Liste aller allein lebender Männer in der Calenberger Neustadt. Zwischen Dreißig und Fünfzig. Konzentriert euch besonders auf die Rote Reihe.“ Kommissar Sahin schnalzt mit der Zunge. Seine lederbesohlten Schuhe schlagen Löcher in die Luft des Besprechungszimmers. Als er sein Rumtigern stoppt, atmen die Kolleginnen und Kollegen erleichtert auf.
„Wenn ich eure Mitteilungen vom Schlächter von Hannover zusammenfasse, nutzte dieser die Folgen der Wirtschaftskrise und Inflation Anfang der zwanziger Jahre aus. Viele Menschen waren entwurzelt, gaben für ein Brot das Letzte her, was sie besaßen: Ihren Körper. Dass der werte Haarmann im doppelten Sinn davon Gebrauch machen würde, ahnten sie nicht. Es passt alles zusammen.“ Der junge Mann mit der dunkleren Gesichtsfarbe gießt sich ein Mineralwasser ein. Kühl strömt es in seinen Magen. Erfrischend.
Mit einem aufmunternden Klatschen spornt er die Belegschaft an, sich an die Rechner und Telefone zu setzen.
*
Murat Haddad steht nach dem Geschlechtsverkehr am geöffneten Fenster. Seine Gefühlswelt ist zerrissen wie ein riesiger Sonnenschirm nach einem Sandsturm. Um nicht an die Erniedrigung zu denken, starrt er hinaus in die Nacht. In den undurchdringlichen Nebel. Plötzlich spürt er das Grauen im Rücken. Mutig stellt er sich der Gefahr.
Frederik von der Haar hat seine Hände schon ausgestreckt, um sie um den schlanken Hals des jungen Mannes zu legen. Geistesgegenwärtig greift dieser einen Stuhl und wirft ihn dem Unhold entgegen. Der reife Mann taumelt rückwärts.
Murat Haddad reißt seine Kleidung vom Boden, stürmt ins Treppenhaus. Hektisch zieht er sich an. Etwas Zeit hat er, sein Jäger ist ebenfalls nackt. Und bei weitem nicht mehr so schnell wie ein Zwanzigjähriger.
Auf der Straße schlägt er die Richtung zur Calenberger Straße ein. Eine breite Trasse, hell und von Taxen benutzt. Vielleicht kommt eine in dieser späten Nacht vorbei, ihn aufzugabeln.
Hinter ihm klacken lederne Schuhe auf dem Asphalt. Dieser Frederik will seinen Geliebten nicht einfach laufen lassen. Murat verdoppelt seine Anstrengung. In der Rampenstraße am Küchengarten liegt seine Wohnung. Seine Freunde werden ihn in Schutz nehmen, Frederik weiß nichts von seinem Zuhause. Es gibt nur ein Problem, dieser Mann mit Hut ist schnell. Zu schnell für Murat. Er holt auf und kein Taxi weit und breit in Sicht. Wie auch, in dieser grauen, nieselfeuchten Brühe.
Heftige Seitenstiche wollen den Flüchtenden irritieren. Die Todesangst hilft ihm, sie zu ignorieren. Er hetzt bis zum Ende der Calenberger Straße, flitzt über die Fußgängerbrücke, stürmt die Treppen aus Beton hoch, hinein in das Ihmezentrum, seine letzte Hoffnung.
Dieses Hochhausghetto, Inbegriff urbanen Lebens in den Siebzigern des letzten Jahrhunderts, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit anno Domini 2019. Leerstand. Bauruine. Verwahrlost und . . . dunkel.
Murat schlägt einen Haken nach rechts, hebt ein Bein eines großen Stahlzaunes aus dem Betonfuß, schlüpft hindurch, schließt die Lücke, schmeißt sich in die Dunkelheit eines ehemaligen Geschäftes. Hinter einem Mauervorsprung presst er sich mit dem Rücken an die Wand und atmet tief durch. Atmet. Atmet. Atmet.
Schuhe knallen vorbei. Ihr Hall kehrt von den unzähligen Ecken und Hausvorsprüngen zu ihm zurück. Entfernt sich der Wahnsinnige wirklich? Hört er die realen Schritte oder ein Echo? Das Herauszufinden steht Murat nicht der Sinn. Es hat Angst, rührt sich nicht. Ist schon froh darüber, nicht mehr laut zu schnaufen.
Minuten vergehen. Es wird still. Kein Vogel. Kein Auto. Keine Schritte. Der Nebel hat alle Geräusche gefressen. Und mit ihnen den Mann mit Hut.
Leise schiebt sich Murat aus seinem Versteck. Kein Mucks macht der Absperrzaun, als er von Neuem die Stange aus dem Beton hebt. Leise schleicht er im Schatten der Hauswand in nördliche Richtung. Alle paar Meter bleibt er stehen, lauscht. Nichts ist zu hören. Außer der heftige Schlag seines Herzens.
Die Dunkelheit ist Leid und Segen zugleich. Hoffentlich kann er das Letztere auf seine Seite ziehen. Den Schutz. Das Entkommen.
An der Stelle, wo die Passage sich zu einem Platz weitet, wird es ein letztes Mal brenzlig. Früher gab es hier Boutiquen und Cafés; jetzt Bauschutt, mit Graffitis angemalte Bretterzäune und . . . Nebel.
Angestrengt späht der schmächtige Mann, der vor dem Bürgerkrieg geflohen ist, um in den zerbombten Städten seines Heimatlandes nicht sein junges Leben zu verlieren, in die graue Suppe. Nirgends ein Schatten, es gibt kein Geräusch. Nun denn.
Murat rennt über den Platz, biegt um eine Ecke, die Treppe nach unten ist schon in Sicht. Zu der Straße, wo gerade ein Nachtbus hält und ein paar junge Männer ausspeit. Die Rettung.
Vor Freude bleibt der Fliehende einen Moment lang stehen. Ein letztes Mal tief Atem holen für den Endspurt. Da legt sich von hinten eine Hand auf seinen Mund, zieht sich etwas Kaltes über seine Kehle.
*
Hartwig Bähr. Kommissar Sahin ist entzückt. Vom älteren Bruder sexuell missbraucht, ins Internat gesteckt, nach der Reifeprüfung zurück nach Idensen, von der Nachbarin zu erotischen Dienstleistungen gezwungen, mehrere Male, bis er sich selber an jüngere Kinder seines Dorfes vergangen hat. Aufenthalt im Landeskrankenhaus in Wunstorf – der Irrenanstalt. Jetzt wohnhaft in der Roten Reihe.
Das erste Telefonat führt der attraktive Kriminalist mit dem Leiter des Sondereinsatzkommandos, das nächste mit dem Verkehrsamt. Sie werden am Schnellen Graben für zwei Tage das Wehr zur Leine schließen und alles Wasser in die Ihme umleiten. So kann das Wasser der Leine ablaufen. Im trockengelegten Flussbett in der Altstadt hofft der Kriminalpolizist die verschwundenen Leichenteile zu finden. Wie 1924, als über dreihundert menschliche Knochenreste aus der Leine gefischt wurden.
Die behelmten Männer in Schutzweste schlagen mit dem Rammbock die Tür ein. Frederik von der Haar alias Hartwig Bähr sitzt in der Küche. Ungestört trinkt er seinen Kaffee weiter, als die Eindringlinge auf ihn zustürzen. An der Küchentür schlackert eine lederne Schürze hin und her. Sie ist blutverschmiert.
Anmerkung:
Friedrich Haarmann bestritt bis zum Tage seiner Hinrichtung, dass er die Leichen zu Wurst verarbeitet hätte. Anderseits konnte er keine nachprüfbare Quelle angeben, woher das von ihm vertriebene Fleisch stammte. Ein gewisser Schlachterkarl, den er als Fleischlieferanten benannte, konnte nie ermittelt werden. Bekannt ist aber, dass Fritz Haarmanns Nachbarin ein Restaurant besaß und von ihm Fleisch bezog. |
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11.12.2024 - 09:28:22 |
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