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Mission Titanic - Kapitel 17

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© Francis Dille   
   
Kapitel 17 – Künstliche Intelligenz

Nachdem die Matrosen alle anwesende Personen vom Poopdeck verwiesen hatten, kehrten zwei Jugendliche wieder heimlich zurück. Der dunkelhaarige Bursche ließ sich auf eine der zahlreichen Sitzbänke nieder, schmunzelte frech und holte eine Zigarre aus der Brusttasche seines Sakkos heraus. Anhand seiner adretten Kleidung, weil er einen dunkelblauen Herrenanzug mit Krawatte trug, war er eindeutig ein Erste-Klasse Passagier. Er zitterte aufgrund der Kälte, während er sich die Zigarre anzündete. Dem zweiten Jugendlichen hingegen, schien die Eiseskälte offenbar nichts auszumachen, denn er war nur mit einem weißen Arbeiterhemd, Hosenträger, einer Schirmmütze und sogar nur mit kurzer Hose bekleidet.
„Die haben wir jetzt aber ganz schön ausgetrickst“, prustete der Dunkelhaarige. Er paffte an seiner Zigarre und reichte dem gleichaltrigen Burschen die Hand. „Ich heiße Jack Thayer. Heute Nacht ist es aber ganz schön kalt. Sag mal, frierst du etwa nicht? Wie heißt du eigentlich?“
„Aaron O’Neill. Wieso sollte ich frieren? Es ist doch nur ein bisschen frisch“, meinte Aaron schulterzuckend, wobei er etwas angeberisch klang.
„Naja. Ich habe schon gehört, dass ihr Iren allesamt harte Burschen seid. Liegt wohl daran, dass es bei euch sowieso ständig frostig ist. Das habe ich jedenfalls irgendwann im Schulunterricht aufgeschnappt. Immer nur Regen und ständig kühl. Brrr … Selbst im Sommer. Genau weiß ich es aber nicht, ich war bis jetzt noch nie in Irland gewesen. Aber dass du kurze Hosen trägst …“, sagte Jack und schüttelte zitternd mit dem Kopf. „Bei uns in Amerika tragen nur die kleinen Kinder kurze Hosen“, kicherte er.
Aaron betrachtete seine nackten Unterschenkel und lächelte, bis seine Schneidezahnlücke hervorschien.
„Wirklich nur die Kinder? Verstehe ich nicht. Kurze Hosen sind doch viel praktischer und vor allem gemütlicher, als dein pikfeiner Herrenanzug. Übrigens bin ich kein Dritte-Klasse Passagier, falls du das denkst, sondern gehöre zur Garantiegruppe“, bekundete Aaron stolz. „Unsere Unterkünfte befinden sich unten im F-Deck, direkt neben dem Hallenbad, und genau ein Deck darunter befindet sich einer der Kesselräume. In unserem Abteil und vor allem in unserer Kajüte herrscht daher eine Bullenhitze, kann ich dir sagen. Als mein alter Lehrmeister, Mister van Broek, vor zwei Jahren geheiratet hatte, musste ich das erste Mal genauso einen unbequemen Fummel tragen wie du, weil meine Mom darauf bestanden hatte. Besonders hatte mich die Krawatte gestört. Es hatte fürchterlich gezwickt und als es dunkel wurde, hatte ich mir dieses verdammte Ding einfach abgebunden und weggeworfen“, kicherte er. „Sag mal, hast du auch eine Zigarre für mich übrig?“, fragte er erwartungsvoll.
„Na klar, selbstverständlich. Das sind echte kubanische Zigarren.“ Jack hielt seinen Zeigefinger auf dem Mund. „Pscht! Die habe ich aus dem Rauchersalon gemopst“, sagte er flüsternd. Er zog eine weitere Zigarre aus seiner Brusttasche und übergab sie Aaron.
„Garantiegruppe? Was ist das denn?“, fragte Jack und entzündete ein Streichholz.
Ein Lichtschein erhellte und Aaron paffte, bis seine Zigarre glühte. Als er gerade seinen neuen Freund aufklären wollte, blickte Aaron völlig überrascht über seine Schulter, weil er eine sehr bekannte Stimme wahrnahm.
„Weshalb seid ihr zwei Rotznasen um diese Uhrzeit noch nicht in euren Betten? Haben die Matrosen euch nicht ausdrücklich von hier verwiesen? Die Halskette von Lady Duff Gordon liegt hier irgendwo rum. Wollt ihr etwa des Diebstahls bezichtigt werden, wenn man das Schmuckstück nicht findet? Ihr habt von hier sofort zu verschwinden, und zwar auf der Stelle!“
Plötzlich stand Ike hinter ihnen, woraufhin insbesondre Aaron überrascht war, große Augen machte und sich sogleich freudig auf ihn stürzte. Aarons Umarmung war so stürmisch, sodass Ike einige Schritte zurücktaumelte.
„Mensch, Ike! Das ist ja eine Überraschung. Du bist hier an Bord der Titanic? Ich dachte du wärst längst wieder in Holland. Das muss ich sofort den anderen und Mister Andrews erzählen, dass du …“
„Oh nein Aaron, das wirst du nicht tun. Das ist keine gute Idee. Erst recht wirst du Mister Andrews nicht darüber informieren, du Naseweis“, wies er ihn zurecht.
Aaron löste sich aus der Umarmung, trat einen Schritt zurück und blickte seinen ehemaligen Schreinermeister mit seinen blauen Augen entgeistert an.
„Ja aber-aber wieso denn nicht? Alle würden sich doch riesig freuen, dich wiederzusehen.“
Der einst kleine vorwitzige Rotschopf war nochmals in die Höhe geschossen, wie Ike es feststellte. Das Sommersprossengesicht war nun genauso groß wie er selbst und konnte ihm genau in die Augen schauen. Aaron stockte und seine lächelnden Mundwinkel sanken allmählich. Dann zog er ehrfürchtig seine Schirmmütze ab und blickte betrübt nach unten.
„Entschuldige, Ike“, sprach der Junge nun mit dünner Stimme. „Das letzte Mal hatte ich dich bei der Beerdigung von Eloise gesehen. Ich wollte dir damals zwar unbedingt mein Beileid aussprechen, aber meine Mutter hatte es mir verboten. Sie meinte, dass ich dich erstmal in Ruhe lassen und einen anderen Zeitpunkt dafür abwarten sollte. Aber dann hattest du ganz plötzlich bei Harland & Wolff gekündigt. Ich dachte, dass ich dich nie wiedersehen würde und ...“
„Ist schon gut, Aaron“, unterbrach er ihn. Ike lächelte kurz, packte ihn ruppig an sich ran und klopfte ihm beherzt gegen seinen Rücken. Er atmete dabei schwermütig auf, als er ihn umarmte.
„Ich danke dir, Aaron, und freue mich ebenfalls, dich nochmal zu sehen. Eloise hatte dich sehr gemocht und sich stets köstlich amüsiert, wenn ich ihr beim Abendbrot deine Lausbubengeschichten erzählt hatte.“
Aaron blickte ihn mit glänzenden Augen an.
„Echt jetzt? Sie mochte meine Streiche?“, fragte er begeistert. „Das mache ich jetzt aber nicht mehr. Ehrlich nicht, weil ich nun erwachsen bin“, bekundete er. Sogleich sank sein Kopf und er verfiel wieder in Melancholie. Ike schmunzelte und nickte.
„Tja, du wirst langsam ein Mann. Aber eines musst du noch unbedingt lernen, Freundchen“, sagte Ike und blickte ihn dabei scharf an. „Und zwar, dass du zukünftig Anweisungen nicht mehr wie ein verspieltes Kind einfach ignorierst. Hast du das kapiert?“
Aaron nickte.
„Dann verschwinde mit deinem Kumpel von hier. Jetzt gleich! Und zieh dir gefälligst was Warmes an. Allein von deinem Anblick bekommt man ja schon Schüttelfrost.“
„Aber ich friere gar nicht. Es ist doch überhaupt nicht kalt“, antwortete Aaron großkotzig.
„Halt die Klappe, O’Neill, du kleiner großer Angeber. Und nun ab mit euch Beiden!“
Aaron forderte Jack zerknirscht auf, dass er ihm folgen sollte. Doch der Siebzehnjährige sah dies überhaupt nicht ein. Warum sollte er auf eine wildfremde Person hören, die allerhöchstens wie ein Zweite-Klasse Passagier aussah und sich obendrein wie ein Bauerntölpel, sich wie ein einfacher Arbeiter ausdrückte?
„Ich kenne Sie überhaupt nicht, Mister, und Sie kennen mich nicht. Sie haben mir gar nichts zu sagen!“, erwiderte Jack mit gekniffenen Augen. „Ich bin ein Erste-Klasse Passagier und bleibe hier, so lange es mir gefällt“, antwortete er patzig, wobei er provokativ an seiner Zigarre paffte. „Mein Vater und Lady Duff Gordon kennen sich zufälligerweise, Mister. Niemand würde mich beschuldigen, dass ich irgendetwas stehle, weil ich es nicht nötig habe“, meinte er überheblich.
Ike blickte dem vorlauten Burschen ernst in die Augen und antwortete bestimmend.
„Ich kenne dich besser, als dir lieb ist, mein Freund. Du bist Jack Thayer und dein Vater ist John Borland Thayer jr. Dein Vater war einst ein berühmter Cricket Spieler. Er galt in seinen jungen Jahren als der beste Player von Philadelphia. Und deine Mutter heißt Marian, geborene Longstreth. Ihr ward als Gäste in Berlin gewesen, beim amerikanischen Generalkonsul. Deine Eltern wollten ursprünglich eine Woche früher mit der Lusitania zurück nach Amerika fahren, aber hatten diese Reise storniert, um mit der Titanic zu reisen.“
Jack Thayer schaute ihn erschrocken an.
„W-woher wissen Sie das?“, fragte er verwundert.
Ike nahm die Zigarren aus ihren Mündern, trat sie aus und schnappte sich auch noch die restlichen Kubaner, die aus Jacks Brusttasche ragten. Mit einem ernsten Gesichtsausdruck hielt er die Zigarren vor seiner Nase.
„Soso, du hast es also angeblich nicht nötig, zu stehlen. Und was ist damit? Die Glimmstängel sind hiermit konfisziert. Und jetzt folgst du Aaron, andernfalls werde ich mich mit deinem ehrenwerten Vater unterhalten und ihm erklären, dass du Zigarren aus dem Rauchersalon entwendet hast und heimlich rauchst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Eltern dies befürworten. Insbesondre dein Vater nicht.“
Jack Thayer wirkte eingeschüchtert, nickte hektisch und sprang von der Sitzbank auf.
„Ja, Sir“, antwortete er kleinlaut, stellte sich neben Aaron und schaute Ike argwöhnisch an.
„Was meint der damit, mit konfisziert?“, fragte er Aaron mürrisch.
„Damit meint Mister van Broek, dass die verdammten Zigarren jetzt ihm gehören“, antwortete Aaron gleichermaßen verdrossen.
Dann trotteten beide Jugendliche beleidigt davon. Ike blickte ihnen hinterher, wie sie im Scheinwerferlicht mit geknicktem Haupt davon schlenderten. Er seufzte, weil er beiden Burschen diesen Abend mächtig verdorben hatte. Ike schüttelte mit dem Kopf. Er musste die zwei Jungs zwar zwingend verscheuchen, aber so hatte er sich die allerletzte Begegnung mit Aaron gewiss nicht vorgestellt. Das hatte der tüchtige Bengel wahrlich nicht verdient. Ike steckte die Finger in seinen Mund und pfiff schrill, genauso wie er es damals immer in der Werkstatt getan hatte, um sein Team herbeizurufen. Aaron reagierte auf diesen Befehl immer noch wie ferngesteuert, horchte auf, flitzte sofort zu ihm zurück und als er vor Ike stand, nahm er wieder anstandshalber seine Schirmmütze ab. Erwartungsvoll blickte er ihn an.
„Ja, Sir? Ist noch was, Ike?“
Ike schmunzelte, kniff ihm in die Wange und rüttelte leicht daran. Dann überreichte er ihm ein Springmesser, mit einem hölzernen Griff.
„Das ist für dich. Ich schenke es dir.“
Aarons Augen weiteten sich, als er den Messingknopf betätigte und die Messerklinge herausschnellte. Er erinnerte sich an sein erstes Lehrjahr, als er noch vierzehn Jahre alt gewesen war und Ike ihn damit des Öfteren bestraft hatte, unzählige Holzkeile zu sägen und diese zu schnitzen, weil er ständig seinen Namen falsch ausgesprochen hatte. Ike hatte ihm dafür sein eigenes Springmesser übergeben, um die Holzkeile zu spitzen. Aber anstatt der Knirps damals verärgert gewesen war, dass er diese Strafarbeit aufgrund seines vorlauten Mundes verrichten musste, war klein Aaron hellauf begeistert gewesen.
„Mensch, Mister van Book, Sir. Das ist aber ein tolles Taschenmesser. So eins hätte ich auch gerne.“
„Vielleicht schenke ich es dir sogar eines Tages, wenn du endlich meinen Namen richtig aussprichst“, hatte Ike damals mit rollenden Augen genervt geantwortet.
„Ich darf das Messer wirklich behalten?“, fragte Aaron völlig überrascht, während er die Klinge ständig einrasten und aufspringen ließ. „Dieses Messer hatte dir doch mal Eloise zum Geburtstag geschenkt.“
„Und jetzt gehört es dir. Du wolltest es doch schon immer haben.“
Ike nahm ihn nochmal beherzt in seine Arme und drückte ihn. Weiter hinten sah er im Scheinwerferlicht die Silhouette von Jack Thayer, der seine Arme rieb und zitternd vor Kälte auf seinen neuen Freund wartete.
„Na los, geh schon. Deinem Freund ist es etwas zu kalt hier draußen, schätze ich. Lebe wohl, Aaron.“ Er hielt einen Augenblick inne. Zu gerne hätte er ihm alles Gute in Amerika gewünscht, weil er wusste, dass Aaron in New York heimlich von Bord gehen wollte. Doch stattdessen sagte er zu dem katholisch gläubigen Junge: „Möge Gott dich behüten.“
Aaron nickte, dann boxte er ihm übermütig gegen seinen muskulösen Oberarm. Sogleich aber schüttelte er seine Hand, rieb sie und machte dabei spaßhalber ein schmerzverzerrtes Gesicht.
„Junge, Junge. Mit dir würde ich mich nie anlegen wollen. Wirklich schade, Ike, dass wir nie wieder zusammenarbeiten werden. Ich vermisse dich jetzt schon.“
Ikes Mundwinkel verzierten sich zu einem müden Lächeln.
„Das wäre auch gesünder für dich. Und nun verschwinde endlich, du Lulatsch!“
Ike blickte seinen ehemaligen Schreinerlehrling wehmütig hinterher, wie er Jack freudig entgegen rannte und dabei ständig die Messerklinge aufspringen ließ. Er erinnerte sich an seine Schäferhündin Laika, die er am letzten Tag ebenfalls regelrecht verscheuchen musste.
Jedem Schleuser fiel der Abschied von einem Akteur oder seinem Haustier, mit dem er jahrelang eine Freundschaft pflegte, verständlicherweise schwer. Aber der Abschied von Aaron belastete ihn zusätzlich, weil er genau wusste, dass der Junge das Schiffsunglück nicht überleben wird. Selbst wenn ihm während der Katastrophe die Möglichkeit gegeben wäre, Aaron zu retten, müsste er ihn gnadenlos sterben lassen, weil es nun mal sein Schicksal war, mit der Titanic unterzugehen. Dies war wohl mit einer der gravierendsten Schattenseiten seines gefährlichen Jobs. Plötzlich spürte er Markos Hand auf seiner Schulter.
„Komm schon, van Broek. Piet und Ruthie sind da. Es geht los!“

Während Ruthmilda Carter am Ende des Achterdecks an der gerundeten Reling wartete, versteckten sich die drei Geheimagenten. Die Kontaktperson müsste jeden Augenblick erscheinen. Ruthie hielt sich an der Reling fest und blickte starr in die Dunkelheit, auf das offene Meer hinaus. Über ihr flatterte am Fahnenmast die britische Flagge wild im Wind. Tief unter ihr wühlten die Schiffsschrauben das Meerwasser auf, sodass die Titanic einen schäumenden Wasserschweif hinter sich herzog. Trotz dass sie ihren grauen Herrenmantel trug, dieser sie vor der Eiseskälte eigentlich genügend schützte, zitterte sie dennoch leicht, weil sie Angst verspürte, weil sie fremden Personen praktisch ausgeliefert war und nichts dagegen unternehmen konnte. Die eine sowie die andere Seite redeten ihr ein, dass sie ihnen vertrauen müsste. Ebenso behauptete die eine Partei von der anderen, dass diese der eigentliche Feind wäre. Piet Klaasen hatte ihr zwar seine Liebe bekundet und eigentlich fand sie ihn ebenfalls nett und interessant, aber für irgendwelche Gefühlsduseleien war ihr momentan absolut nicht zumute. Hätte sie eine Wahl, wäre ihre Situation nicht so hoffnungslos gewesen, wäre sie jetzt einfach geflüchtet. Aber wohin, wenn man sich auf einem Ozeandampfer befindet?
Sie schluchzte und Tränen rannen ihr über die Wangen, diese sie sofort mit dem Ärmel wegwischte. Ruthie besann sich schließlich. Sie beruhigte sich wieder und blickte apathisch tief hinunter in das schäumende Meerwasser. „Ich könnte springen, dann wäre dieser Albtraum vorbei“, flüsterte sie vor sich hin. „Was soll das alles noch? Eigentlich will ich ja gar nicht nach Hause. Ich habe gar kein Zuhause. Meine Eltern verzeihen mir sowieso niemals“, redete sie sich in ihrer Verzweiflung ein.
Ihre Gedanken rumorten. Bis die Titanic in New York anlegen würde, würden noch mindestens drei oder vielleicht sogar vier Tage verstreichen. Ruthie wurde von beiden Fronten nur benutzt, wurde ständig als Zielscheibe mitten auf das Schlachtfeld geschickt und ihre Hoffnung entschwand in diesem Augenblick, dass sie aus dieser Misere jemals unbeschadet davon käme. Ihr wurde bewusst, dass sie die ganze Zeit ihren Kopf hinhalten musste. Für sie würde es sicherlich kein Happyend geben. So oder so. Diesem unmenschlichen Druck hielt sie nicht mehr stand. Nun war die Gelegenheit gekommen, um ihr Martyrium ein für alle Mal zu beenden. Die einst quirlige Blondine war nun am Ende ihrer Kräfte angelangt und sah keinen Ausweg mehr.
Unterdessen hatten sich die drei Geheimagenten in unterschiedlichen Positionen begeben, hielten ihre Schusswaffen in ihren Händen, diese mit Betäubungsgeschossen geladen waren, und lauerten in ihren dunklen Verstecken. Sobald sich die Kontaktperson mit Ruthmilda Carter an der Reling treffen würde, könnte diese nirgendwohin fliehen. Piet hatte sich auf der rechten, Marko auf der linken Seite versteckt und Ike lauerte irgendwo mittig im Dunklen. Wer auch immer jetzt erscheinen würde, hätte niemals eine Chance zu flüchten. Ike beobachtete Ruthie, wie sie an der Reling stand. Marko verzog seinen Mund, schüttelte leicht mit dem Kopf und schnaufte abfällig: „Wo bleibt dieses verdammte Miststück bloß?“, fragte er sich ungeduldig.
Piet hatte sich vor seinen Kollegen im Dunkeln positioniert, um schnellstmöglich einzugreifen, holte seine Taschenuhr heraus und klappte sie auf. Es war Punkt 21:30 Uhr. Plötzlich erschien eine Person, bekleidet mit einer dunklen Robe, stieg die Treppe zum Poopdeck hinunter und schlenderte an Piet vorbei, der sofort seine Waffe auf die verhüllte Gestalt richtete. Ihre dunkle Robe flatterte sachte, aufgrund des Fahrtwindes. Ike kniff seine Augen und beobachtete das Geschehen. Ist das etwa die geheimnisvolle Naomi, fragte er sich? Marko nahm seinen hellen Hut ab und richtete seine EM23 direkt auf die fremde Person. „Na endlich, da bist du ja. Ich hab dich genau im Visier.“ Piet verglich nochmals die Uhrzeit, schob seinen Bowler etwas zurück, kniff seine Lippen zusammen und nickte stetig. „Mmm … Überpünktlich. Auf die Sekunde genau. Interessant.“

„Ruthmilda … Tu das nicht“, sprach eine freundliche Frauenstimme im ruhigen Ton. Ruthie, die immer noch völlig in Gedanken versunken war und hinab in die dunkle Tiefe des Ozeans starrte, drehte sich erschrocken um. Sie blickte keuchend auf eine Gestalt, die mit einer dunklen Robe bekleidet war und ihre Hand ausstreckte.
„Gib es mir einfach, und ich werde dich nie wieder belästigen. Dann bist du von deiner Aufgabe befreit. Versprochen. Das ist doch angenehmer, als sich jeden einzelnen Knochen zu brechen und qualvoll zu ertrinken, bevor du grausam erfrierst. Oder umgekehrt“, versuchte die fremde Person ihr einzureden.
Ruthmilda konnte zwar das Gesicht dieser Person nicht erkennen, weil die weite Kapuze ihrer Robe das Antlitz verdeckte, aber nach der Stimme zu beurteilen, müsste es Naomi sein. Zuerst zögerte sie, aber übergab ihr schließlich den Transmitter.
Piet war am nächsten dran, nicht einmal zehn Meter von ihnen entfernt. Er zielte genau auf die verhüllte Person, sowie auch Ike und Marko. Als Piet sah, dass sie gerade seinen Beamer entgegen nahm, drückte er ab. Ein beinahe lautloses Zischen drang aus der Pistolenmündung, doch die angeschossene Person blieb stehen und hantierte mit dem Transmitter. Hatte er etwa die Zielperson verfehlt? Piet schaute verdutzt drein, und schoss nochmal. Doch die Gestalt fiel nicht wie erwartet, bewusstlos zu Boden. Daraufhin schossen auch Ike und Marko mit ihren Schnellfeuerwaffen. Zischende Geschosse fetzten durch die Luft, woraufhin sich die verhüllte Person umschaute und plötzlich lossprintete. Piet hechtete aus seinem Versteck hervor, aber er konnte sie nicht erhaschen, weil sie blitzschnell an ihm vorbeirannte, und stürzte zu Boden.
Die Kontaktperson sprintete mit einer unglaublichen Geschwindigkeit davon; damit hatten sie nicht gerechnet. Alles was die drei Geheimagenten und auch Ruthie völlig erstaunt beobachteten war, dass sich die weibliche Person mit einem wagemutigen Hechtsprung über die Reling beförderte und im eiskalten Nordatlantik verschwand.
Ike, Marko und Piet rannten sofort hinterher, lehnten sich über die Reling und starrten in das aufgewühlte Meerwasser. Alle Drei zogen sogleich ihre Nickelbrillen auf und schalteten den Infrarotmodus ein, um sie anhand ihrer Körpertemperatur in diesem eiskalten Wasser ausfindig zu machen. Ike flitzte achtern voraus, zur gerundeten Reling und blickte in das aufgewühlte Meerwasser. Mithilfe des Infrarotmodus hätte er eigentlich ihre Leiche unter der Wasseroberfläche treiben sehen müssen.
„Nirgends zu sehen. Sie ist verschwunden, samt unserem Beamer. Die Schiffsschrauben haben wahrscheinlich schon Hackfleisch aus ihr gemacht. So ein Mist!“, brüllte Ike, zog seine Nickelbrille ab und schlug wütend gegen die Reling.
„Was war denn mit dieser bekloppten Futt los? War die noch ganz dicht? Mit was für Typen haben wir es hier zu tun?“, fragte Marko zornig. „Springt einfach über Bord, anstatt sich zu ergeben. Das sind über zwanzig Meter, allein der Aufprall müsste sie getötet haben. Verdomme! Jetzt ist unser Beamer weg! Das war ja ein ganz toller Plan, Ike. Und was jetzt?“
Aufgrund des heftigen Fahrtwindes und des lauten Meeresrauschen, mussten sich die Geheimagenten gegenseitig anbrüllen.
„Nein, sie lebt! Das war nur ein Ablenkungsmanöver!“, behauptete Piet, wobei er Richtung des Schiffsbugs lief und mit seiner Nickelbrille zum Boden schaute. Er hatte mittlerweile den Röntgenmodus eingeschaltet. Mithilfe seiner Nickelbrille war es ihm nun möglich, durch das Schiffsinnere zu blicken, bis hinunter zum Kiel und weiter hinaus in die Tiefe des Meeres. Alles was sich Unterwasser bewegte, und sei es eine klitzekleine Sardine, konnte er nun aufgrund einer Aktivität lokalisieren.
„Der Infrarotmodus nützt nichts, weil sie ihre Körpertemperatur regulieren kann, um für uns unsichtbar zu sein. Wir haben es hier nicht mit einem Mensch zu tun, sondern mit einer künstlichen Intelligenz. Sie taucht gerade unter dem Schiff und schwimmt zügig Richtung Bug. Ich kann einen menschlichen Umriss erkennen. Sie bewegt sich rasch vorwärts, schneller als das Schiff fährt!“ Piet blieb stehen und zog seine Brille ab. „Das muss sie sein. Wir haben keine Chance, sie einzuholen. Sie schwimmt schneller als ein Motorboot.“
„Du glaubst also, dass sie ein Cyborg ist?“, fragte Ike.
Piet schüttelte mit dem Kopf und blickte fasziniert vor sich hin.
„Nein, kein Cyborg. Niemals. Cyborgs können aufgrund ihres beachtlichen Körpergewichts nicht schwimmen. Die wiegen wegen ihrer implantierten Gerätschaften zwischen zweihundert und dreihundert Kilogramm. Außerdem verspüren Cyborgs keinerlei Angst. Wäre sie ein Cyborg gewesen, dann hätte sie uns angegriffen und wir wären vermutlich erledigt. Ich glaube eher, dass Naomi ein Android ist. Meine Intuition spricht dafür. Ruthie hatte behauptet, dass die TT`s menschenscheu wären und sofort flüchten würden, sobald sie mehrere Leute bemerken. Das erklärt auch die Einkäufe. Androiden versuchen eine ungewohnte Gegend zu vermeiden, wenn sich dort eine Menschenmenge aufhält. Dieses Verhaltensmuster spricht dafür, dass wir es hier mit einem Android zu tun haben. Androiden mögen uns intellektuell zwar überlegen sein, aber sie würden sich niemals mit Menschen anlegen, weil sie uns kräftemäßig völlig unterlegen sind. Sie bestehen nur aus Kautschuk, synthetischem Plasma, unzähligen Kabelsträngen und Abermillionen von Elektronikchips. Ihr Gesamtgewicht beträgt allerhöchstens dreißig Kilogramm. Das erklärt auch, dass wir Naomi mit unseren Betäubungsschuss nicht ausschalten konnten“, erklärte Piet. „Ihr müsst mir glauben, Freunde. Androiden sind mein Hobby. Ich selbst besitze drei davon und bin grade dabei, einen eigenen Android zu bauen“, bekundete Piet stolz.
„Ein wahrlich entzückendes Hobby hast du dir da ausgesucht. Ich kann Androiden nicht ausstehen, genauso wie Cyborgs, weil sie ihre Ziele kompromisslos verfolgen. Mit ihnen kann man nicht verhandeln, sondern man muss sie eliminieren, um sie abzuschütteln. Allerdings gebe ich zu, dass ich lieber einen Androiden anstatt einen Cyborg als Feind habe. Aber irgendwie kann ich das nicht glauben“, meinte Marko skeptisch. „Androiden sind doch nur bessere Haushaltsroboter und sehen wie perfekte Schaufensterpuppen aus, die sich lediglich wie Menschen bewegen, denken und sprechen können. Okay, sie entwickeln sich eigenständig weiter, können sich selbst programmieren und sind hochintelligent, aber für kriegerische Aktionen sind sie absolut unbrauchbar. Außerdem hätte Ruthie doch bemerken müssen, dass mit dieser Frau irgendetwas nicht stimmt. Sie hatte doch schon öfters mit ihr zu tun gehabt, mit ihr kommuniziert und ihr direkt in die Augen geschaut. Die aber, die soeben kopfüber Bord gesprungen ist, muss wie ein realer Mensch ausgesehen haben.“
Piet nickte.
„Das ist ja das Problem. Offenbar haben wir es hier mit einem neuartigen Model zu tun, welches noch gar nicht existiert. United Europe ist gerade dabei, Androiden zu erschaffen, die genauso wie Menschen aussehen. Das heißt, dass sie mit einer biologischen Haut ausgestattet werden, demnach echtes Blut zusätzlich aber separat zu dem künstlichen Plasma in ihren Venen fließt, um die biologische Haut zu erhalten. Aber selbst mein Vater winkt ständig ab und meint, dass wir es allerhöchsten in zwanzig oder dreißig Jahren bewerkstelligen könnten, einen Androiden zu erschaffen, der von einem Menschen absolut nicht mehr zu unterscheiden ist.“
„Ist sie gefährlich?“, funkte Ike dazwischen.
Piet zuckte mit der Schulter.
„Grundsätzlich verletzen Androiden Menschen nicht. Sie sind ein eigenes Volk, die sich selbständig programmieren und letztendlich glauben, dass sie ebenfalls, wie wir Menschen, leben. Androiden sind durchaus in der Lage zu unterscheiden, was Recht und Unrecht bedeutet. Es spricht normalerweise gegen ihre Moral, ein Lebewesen oder eines ihres Gleichen auszulöschen. In gewisser Weise leben sie auch, denn würde man ihren Hauptprozessor zerstören, dieser sich gewöhnlich im Unterleib befindet, könnte man diesen Androiden zwar wieder reparieren, aber er würde nie wieder die gleiche Person werden, sondern würde sich wie ein neugeborenes Kind individuell entwickeln. Und zwar innerhalb wenigen Stunden. Androiden sind zwar fähig, die Gefühle von Menschen nachzuempfinden und dementsprechend zu handeln, aber sie selbst verspüren beispielsweise keinen Schmerz oder Liebe. Angst kennen sie ebenso wenig, genauso wie Cyborgs, aber sie wissen, dass sie uns Menschen unterlegen sind und ergreifen oftmals wie Wildtier die Flucht, wenn ihnen eine Situation nicht geheuer ist. Sagen wir’s mal so: sie sind äußerst vorsichtig, reagieren niemals aggressiv und sind wesentlich geduldiger, als die Cyborgs. Sie sind sehr raffiniert. Trotzdem sollte man aufpassen, denn Androiden sind wandelnde Elektrizitätswerke, in deren Akkus Starkstrom strömt. Jede größere Aktivität schwächt sie zwar, aber ihre integrierten Solarzellen versorgen sie ständig mit Energie. Androiden sind zwar nicht fähig, ein Lebewesen oder ihres Gleichen zu verletzen, geschweige denn, zu vernichten, aber wenn sie in die Enge getrieben werden, sind sie durchaus in der Lage, sich zu verteidigen. Ein Biss genügt, um jemanden einen mächtigen Stromschlag zu verpassen, bis dieser bewusstlos wird. Aber wir haben es hier mit einem neuartigen Androiden zu tun. Ich bin also genauso schlau wie du und weiß nicht hundertprozentig, was genau ihre Schwächen und Stärken sind.“
„Schon gut, Piet, genau das wollte ich wissen. Sie ist geflüchtet, also wird sie nicht gefährlich sein. Ich weiß, wo sie hin will. Nach oben auf das Oberdeck, damit die Zeitmaschine sie aufnehmen kann. Ich werde ihr zuvorkommen und falls sie versucht, mich zu beißen, hau ich ihr voll eins aufs Maul“, sagte Ike entschlossen und ballte seine Faust.
Piet kniff seine Lippen zusammen und wankte mit dem Kopf.
„Das würde ich an deiner Stelle lieber unterlassen. Insbesondre sind die Zähne eines Androiden äußerst leitungsfähig. Rühre sie am besten erst gar nicht an, halte lieber Abstand. Naomi ist ein unbekanntes Modell, vergiss das nicht!“ Er seufzte. „Auf einen Nahkampf brauchst du dich erst gar nicht einlassen, denn ihre Reaktion ist um einiges schneller, sogar als bei einem Cyborg. Du wirst sie gar nicht zu fassen kriegen, du müsstest sie erledigen. Schieß ihr mit scharfer Ladung in den Unterleib, falls es dir irgendwie gelingt, sie überhaupt anzuvisieren. Dann wie gesagt, ist sie aber tot und selbst wenn wir sie wieder reparieren, werden alle ihre Computerspeicher unwiderruflich gelöscht sein. Bei einem defekten Computer oder eliminierten Cyborg könnte man immer noch irgendwie, irgendwelche Dateien retten. Aber nicht bei einem Androiden.“
Plötzlich entdeckte Ike hoch oben auf dem Promenadendeck die Silhouetten zweier Frauen, die große Hüte trugen. Im jenen Augenblick rannten die Damen davon, woraufhin Ike seine Befehle kundgab.
„Da oben, habt ihr sie gesehen? Marko, los! Schnapp sie dir! Es sind wohlmöglich die alte Frau und das junge Fräulein! Sie flüchten über das Promenadendeck. Von dort aus können sie in der Menge im Rauchersaloon untertauchen, oder über die große Treppe irgendwohin verschwinden. Marko, jage ihnen hinterher und finde sie und Piet, du bleibst bei Ruthie!“, befahl Ike während er schnurstracks dem Schiffsbug entgegen schritt. „Rijken, achte darauf, welche Personen außer Atem sind. Diese sind verdächtig und müssen verhaftet werden! Egal, wer es ist. Verhafte jeden, der keucht!“, rief er ihnen zu, während er zum Schiffsbug rannte.
„Glaubst du etwa, dass wir das nicht selber wissen?“, rief Marko ihm verärgert hinterher. „Für wen hältst du uns eigentlich?!“, fragte er brüllend.
Ike verlangsamte seinen Sprint, blieb stehen, grinste und antwortete: „Nun ja, dich halte ich für smart aber Piet, das muss ich ihm lassen, der ist clever.“
Marko und Piet warfen ihm wütende Blicke zu, wobei beide ihm ihre Mittelfinger zeigten.

Ike rannte wie besessen über das Promenadendeck, eilte einige Stahltreppen hinauf und als er auf dem obersten Bootsdeck angelangt war, zog er sofort seine Nickelbrille auf und aktivierte den Röntgenmodus. Völlig außer Atem ging er in die Hocke, blickte umher und schlich sich voran.
Vielleicht hatte Piet tatsächlich Recht mit seiner Behauptung, dass sie anstatt ein Cyborg eher einen Androiden verfolgen würden. Cyborgs waren immerhin Geschöpfe, die anfangs Menschen gewesen waren und sich zu Maschinen hatten operieren lassen. In ihren Venen floss ausschließlich menschliches Blut (Batteriesäure versorgten andere wichtige „Organe“) und sie sonderten allesamt eine menschliche Temperatur ab, diese sie nicht regulieren konnten. Androiden dagegen waren praktisch reine, synthetische Roboter, nur ohne metallisches Gerippe. Sie bestanden lediglich aus Kautschuk, künstlichem Plasma und jede Menge Kabelsträngen, zudem aus abertausende Mikrochips und sonstigen plastischen Gerätschaften. Androiden waren obendrein äußerst elastisch und extrem flink. Da hätte man eher die Chance, ein aufgeschrecktes Huhn mit seinen bloßen Händen einzufangen. Einen Androiden oder Cyborg unschädlich zu machen, war aber nicht unmöglich. Nichtsdestotrotz waren diese künstliche Intelligenzen mit einer gehörigen Ladung Starkstrom versehen, dies in ihren integrierten Akkumulatoren gespeichert waren und für ihre Selbstverteidigung auch anwenden vermochten. Aber Androiden waren dafür auch von einem Herr oder Herrin abhängig, also von einem Mensch, und befolgten wie ein Roboter Befehle. Insofern sich diese Anweisungen mit ihrer Moral vereinbaren ließen.

Marko Rijken rannte den flüchtenden Frauen sofort hinterher, flitzte ein paar Stahltreppen hinauf und sprintete über das beleuchtete Promenadendeck auf der Steuerbordseite entlang. Er riss die Tür zum Empfangssaal auf, rannte rücksichtslos weiter und stieß mit einer älteren Dame zusammen, die einen großen Hut anhatte und leicht nach vorne taumelte, wobei ihr Sektglas verschüttete.
An diesem Abend war der Empfangssaal wiedermal sehr belebt. Es war praktisch der Treffpunkt der High Society des anfänglichen Zwanzigsten Jahrhunderts, die unmittelbar davor waren, den begehrten Rauchersalon zu betreten. Marko blickte die betagte Lady erschrocken an – direkt neben ihr stand eine hübsche junge Dame, die sich gerade mit zwei ebenso attraktiven jungen Männern unterhielt und ebenso erschrocken aufblickte. Verwundert sah die adrette Lady ihn an. Marko musterte die Frauen kurz in der Hektik. Weder waren sie außer Atem, noch sahen sie verschwitzt aus. Außerdem pichelten sie gerade. Und die Drahtzieher dieser Zeitmanipulation konnten schließlich nicht alle Androiden sein. Verbrechen begehen ausschließlich Menschen, niemals eigenständig eine Maschine.
„Tschuldigung, war keine Absicht. Ich suche zwei Weiber. Ähm … ich meine, ich suche zwei Damen. Eine Älter und eine wesentlich Jüngere“, lächelte Marko verlegen, während er nach Luft schnappte und sich seine Bauchseite hielt. Seitenstechen plagte ihn. „Sie müssen eben gerade hier durchgelaufen sein. Bitte, können Sie mir sagen, wohin sie sind?“
Die betagte Dame mit dem schneeweißen Haar richtete ihren Sonnenhut, blickte ihn mit ihren wasserblauen Augen zuerst stirnrunzelnd an, aber lächelte schließlich. Ihre Hände waren mit seidenweißen Handschuhen bedeckt, und sie nippte völlig entspannt an ihrem Sektglas. Lautes Gemurmel und die Musik vom Orchester waren zu hören.
„Geehrter Gentleman, Sie sind jetzt schon die zweite Person, die mich angerempelt hat. Meinen Sie etwa die unverschämte Dame, die ungefähr in meinem Alter ist und mit einer jungen Henne im Schlepptau es offenbar äußerst eilig hat?“, fragte sie gestelzt. Und es klang spöttisch. „Sie hatte sich nicht einmal entschuldigt. Können Sie sich solch eine Unverfrorenheit überhaupt vorstellen?“, fragte sie, wobei sie ihn vorwurfsvoll anblickte.
Nach ihrem Akzent zu beurteilen, war die Dame eine Engländerin, zweifelsohne eine Akteurin, woraufhin Marko hektisch nickte.
„Ja, ja, genau. Die meine ich. Wo sind sie hin?“
„Oh, sie sind die Treppe hochgelaufen, hoch zum B-Deck, mein Herr.“ Die alte Dame deutete auf das große Treppenhaus. „Wenn Sie Glück haben, erwischen Sie sie noch. Beeilen Sie sich“, meinte die alte Lady lächelnd. Dann prostete sie ihm zu und genehmigte sich einen kräftigen Schluck. „Auf Ihr Wohl, junger Mann.“ Dann hielt sie sich die Hand vor ihrem Mund und kicherte ungeniert. Auf Marko Rijken machte sie einen beschwipsten Eindruck.
Marko flitze das große Treppenhaus hinauf, blieb aber gemächlich vor der runden Uhr keuchend stehen. In dem Moment gongte die Uhr viermal. Jetzt war es Punkt 22:00 Uhr, mitten auf dem Nordatlantik. Verärgert verdrehte er seine Augen. Dann blickte er hinunter, dort wo er die alte Frau ausversehen angerempelt hatte. Doch er sah nur die zwei Gentlemen, die mit ihren Champagnergläsern unbeholfen dastanden und vergeblich auf das junge hübsche Fräulein warteten.
„Scheiße. Die alte Glucke hat mich gründlich verarscht. Das waren die doch eben gewesen. Die sind scheinbar ebenfalls Androiden und man kann sie tatsächlich nicht von Menschen oder Akteuren unterscheiden. Die besaufen sich sogar, diese mistigen Plastikweiber. Haben wir es etwa nur noch mit Roboterarschlöcher zu tun? So ein Mist aber auch. Ike wird sich über mich kaputtlachen. Verdomme!“, fauchte Marko verdrossen.

„Piet, ich habe deinen Apparat. Schau nur, er leuchtet. Ich gebe ihn dir aber erst, wenn du mir die Wahrheit sagst!“ Ruthie hielt den Transmitter fest an ihre Brust und wandte sich, Schritt für Schritt, langsam rückwärtsgehend von ihm ab. „Ich will weder weiterhin für euch, noch für die Anderen tätig sein. Ich habe alles mitgehört. Du hast behauptet, dass Naomi noch leben würde, obwohl sie über Bord gesprungen ist. Du sagtest, sie sei kein Mensch. Das verstehe ich nicht! Was hat das zu bedeuten?!“, brüllte sie ihn ängstlich an. „Wer seid ihr? Woher kommt ihr? Was wollt ihr von mir? Wer bist du wirklich?!“, fragte Ruthie energisch und ging behutsam rückwärts. Sie fürchtete sich nun vor Piet.
„Was? Du hast meinen Transmitter und er funktioniert? Sie hat ihn dir zurückgegeben?“, fragte er völlig überrascht. „Du bist ein Schatz, ich liebe dich“, sagte Piet euphorisch und versuchte sie zu umarmen. Doch Ruthie stieß ihn von sich und blickte ihn wütend an.
„Lass mich in Ruhe, komme mir bloß nicht zu nahe!“, schrie sie ihn wütend an und wich weiter zurück, bis sie die Reling an ihren Rücken spürte. Dann drohte sie ihm, dass sie den Beamer über Bord werfen würde. Piet ging langsam auf sie zu, streckte seine Hände aus und versuchte zu beschwichtigen.
„Ruthie, du brauchst vor mir wirklich keine Angst zu haben. Ich schwöre dir, dass ich dir nie etwas antuen werde. Gib mir meinen Apparat zurück, und alles ist in Ordnung. Ich kann dir alles erklären und …“
Ruthmilda Carter verdrehte plötzlich ihre Augen, ließ den Transmitter fallen und sackte zusammen. Piet reagierte blitzschnell, fing Ruthie auf, bevor sie zu Boden stürzte, und hielt ihren ohnmächtigen, schlaffen Körper in seinen Armen. Marko Rijken war wieder erschienen und hatte die Akteurin außer Gefecht gesetzt, indem er sie mit einem Betäubungsschuss niedergestreckt hatte.
„Tut mir Leid, Kumpel. Sie hat alles mitgehört und fängt nun an, unangenehme Fragen zu stellen. Jetzt haben wir sie mindestens die nächsten zwanzig Stunden vom Hals“, sagte Marko Rijken.
Piet nickte, während er Ruthie auf seinen Armen trug.
„Ich weiß, dass war leider notwendig. Aber jetzt ist es Gewiss. Naomi ist ein Android. Hundertprozentig. Es benötigt nämlich eine mächtige elektrische Stromladung, um einen Transmitter überhaupt einzuschalten. Aber mein erforderliches Passwort in solch einer kurzen Zeit zu entschlüsseln, wäre selbst für unsere Computer unmöglich gewesen. Dieser neuartige Android ist scheinbar perfekt“, meinte Piet anerkennend.
„Die Alte und die Junge sind wohlmöglich ebenfalls Plastikmenschen“, erklärte Marko. „Wir sollten jedenfalls davon ausgehen.“
Piet hielt die schlaffe Ruthie in seinen Armen und blickte Marko fragend an.
„Was soll ich jetzt mit ihr machen?“
Marko zuckte mit der Schulter.
„Bring sie zur Marlene, zu der sauren Kirsche. Die Corbusiers werden sich um sie kümmern. Warte dort auf mich, bis ich mit Ike zurückkomme. Ich gehe hinauf zum Oberdeck. Ike wird möglicherweise meine Hilfe benötigen.“
Piet blickte traurig auf die ohnmächtige Ruthie, die er auf seinen Händen trug. Ihre Glieder waren völlig schlaff und ihr Mund leicht geöffnet. Als wäre sie tot. Er nickte und verließ wortlos das Poopdeck.

Ike schlich derweil auf dem obersten Bootsdeck umher, hielt seine EM23 beidhändig fest und blickte angespannt durch seine Nickelbrille. Doch weder konnte er irgendwo einen menschlichen Umriss, noch eine Bewegung wahrnehmen. Plötzlich entdeckte er mehrere Wasserpfützen, diese er vorsichtig verfolgte. Die Wasserpfützen glitzerten im Scheinwerferlicht. Dann fand er eine klitschnasse Robe, die auf dem Boden lag und erblickte plötzlich eine Frau, die nur mit einem hautengen Stretchkleid bekleidet war. Sie stand regungslos dar und schaute hinauf zum Himmel. Ihr Nacken und ihre Kopfseiten waren kurz rasiert. Ihr dunkles, gelocktes Haar war triefnass. Wasserperlen liefen über ihre Schultern sowie nackten Beinen.
Es herrschten Temperaturen knapp über Null, trotzdem zitterte diese weibliche Person nicht, mit der äußerst aufreizenden Körperfigur. Zudem sonderte sie keinen sichtbaren Atemhauch ab. Ike hielt seine Schusswaffe direkt auf sie zu, sein Blick wanderte unweigerlich auf ihren hinreißenden Hintern.
„Das Spiel ist zu Ende! Ergib dich, Naomi! Oder ich schalte dich aus!“
Die Frau drehte sich langsam um, blickte ihn mit ihren mandelförmigen, gelbleuchtenden Augen an und lächelte. Sie hatte eine kaffeebraune Haut, wundervolle Augen, volle Lippen, eine proportionierte Nase, die ihr wunderschönes Gesicht unterstrich und war wahrhaftig eine Schönheit. Wäre sie eine reale Frau gewesen, würde sie sicherlich irgendwo aus Jamaika, Honolulu oder sonst irgendwo aus der Karibik stammen. Sie sah atemberaubend attraktiv aus, selbst jede Frau würde behaupten, dass diese Exotin eine wunderschöne Frau sei. Bis auf ihre gelbleuchtenden Augen. Ike wusste, dass die gelbleuchtenden Augen bei einem Androiden bedeuteten, dass deren Energie allmählich zuneige ging. Ihre Energiereserven waren scheinbar aufgebraucht. Die Schwimmaktion hatte dem Android erheblich zugesetzt und eine Menge elektrischen Strom beansprucht. Nun war es Nacht und ihre integrierten Solarzellen konnten keine Sonnenstrahlen in Elektrizität umwandeln, sodass sie wieder vollfunktionstüchtig wäre.
Ike war sich völlig sicher, dass er diese künstliche Intelligenz mit elektronischen Handschellen unschädlich machen könnte. Sobald die Handschellen aktiviert werden, würde eine Verbindung zwischen ihnen bestehen und sie könnte ihm dann weder zu nahe kommen, noch wäre es ihr möglich, zu flüchten. Dieses Prinzip funktionierte bei jedem Lebewesen, Cyborgs, Haushaltsroboter und Drohnen, die außer Kontrolle geraten waren. Also warf er ihr eine elektronische Handschelle zu, diese sie blitzschnell, reflexartig auffing. Naomi lächelte, während ihre gelbleuchtenden Augen aufzuckten.
„Schnall die Handschelle über dein Handgelenk. Du bist hiermit verhaftet. Na los, mach schon, oder ich schalte dich aus!“, forderte Ike energisch, wobei er sie beidhändig mit seiner EM23 bedrohte und dabei genau auf ihren Unterleib zielte.
„Das sollten SSSSie tun, Ike, miiiich verhaften“, sprach sie zwar mit einer angenehmen Frauenstimme, diese sich jedoch leicht verzerrt anhörte, wie ein kurzzeitig gestörter Funkspruch. Ike runzelte seine Stirn. Woher kannte sie seinen Namen?
Naomi lächelte. Aufgrund ihres enormen Energieverlustes, weil sie beinahe zügig fast dreihundert Meter im eiskalten Meer abgetaucht geschwommen war, bewegte sie sich nur gemächlich, wobei man ein elektrisches Surren vernahm, als sie sich die Handschelle selbst überstülpte. Ike starrte sie ernst an, nahm langsam seine silberne Pistole runter und als er den grünen Knopf an seiner Handschelle betätigte, damit sie nicht mehr flüchten konnte und er sie sogleich hätte ins Centrum teleportieren können, schrie er plötzlich auf, verdrehte seine Augen, ließ seine Pistole fallen und sackte bewusstlos zusammen. Hart schlug er auf dem Boden auf.
Naomi ging auf ihn zu. Mit ausdrucksloser Mimik ging sie in die Hocke und warf Ike mühelos über ihre Schulter. Jede Bewegung machte surrende Geräusche. Mit abgehackten Bewegungen ging das wunderschöne Geschöpf, das nun unheimlich und gruselig wirkte, über das Bootsdeck und trug Ike davon.
In dem Moment war Marko Rijken auf dem obersten Bootsdeck erschienen. Er zog seine EM23, versteckte sich und überblickte zuerst die Gegend. Es war beinahe totenstille, nur der Fahrtwind und das rauschende Meer waren zu vernehmen. Er blickte kurz nach oben, in den sternenklaren Himmel. Dort oben irgendwo schwebte die unsichtbare Zeitmaschine, die mit einer Tarnkappe ausgerüstet war. Er verharrte einen Augenblick, dann schlich er aus seinem Versteck und suchte mit vorgehaltener Waffe vorsichtig das Bootsdeck ab. Plötzlich entdeckte er die klitschnasse Robe und einige Meter entfernt, Ikes EM23 Schnellfeuerwaffe. Diese nahm er sofort auf und blickte sich verwundert um. Aber von Ike fehlte jede Spur. Marko starrte nochmals hoch hinauf zum Sternenhimmel. War Ike eventuell überwältigt und entführt worden?
„Das würde uns grad noch fehlen“, murmelte Marko vor sich hin.



Foto: Jack Thayer, siebzehn Jahre alt. 24 Dezember 1894 – 20. September 1945. Jack Thayer war ein wichtiger Augenzeuge gewesen. Weil er kein Kind mehr und zudem männlich war, durfte er keines der Rettungsboote besteigen. Er blieb gemeinsam mit seinen Vater auf dem sinkenden Schiff zurück. Irgendwann im völligen Chaos hatten sich beide verloren. Jack war auf sich alleine gestellt, sprang einfach ins Wasser und wurde von einem Rettungsboot aufgenommen. Die Leiche seines Vaters wurde nie gefunden. Sein Leben endete allerdings trotzdem tragisch. Er begann im Jahre 1945 Selbstmord.
 

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