... für Leser und Schreiber.  

Die Kinder von Brühl 18/Teil 2/Essensmarken und Stoppelfelder/Episode 4/Das Erbe und die Zicklein

337
337 Stimmen
   
©  rosmarin   
   
Episode 4

Das Erbe und die Zicklein

Wir schreiben das Jahr 1946


Karl und Else hatten sich scheiden lassen. Else war vom Gericht schuldig gesprochen worden. Schuldig. Dieses schreckliche Wort konnte Else nicht akzeptieren. Sie wollte es nicht hören. Geschweige denn lesen. Immer wieder erzählte sie, dass Karl und nicht sie, schuldig sei. Sie wurde nicht müde, zu behaupten, Karl habe sie mit verschiedenen Frauen betrogen. Sie habe mit eigenen Augen gesehen, wie Karl in Weimar mit einer seiner Geliebten geflirtet habe, obwohl sie mit Jutta schwanger war. Auch habe er Jutta, als sie ein Baby war und geschrien hätte, verprügelt. Und den Kinderwagen mit ihr darin hätte er auch einfach auf dem Marktplatz stehen lassen, weil es unter seiner Würde sei, einen Kinderwagen zu schieben. Und Karlchen habe er eine Eisenbahn versprochen. Alles nur leere Versprechungen. Else ließ kein gutes Haar an Karl.
„Wenn er wenigstens Unterhalt zahlen würde”, sagte sie oft.
„Was ist Unterhalt Mama?”, wollte Rosi wissen.
„Das ist das Geld, dass er für euren Lebensunterhalt, also für Essen und trinken und Kleidung beisteuern müsste. Zwanzig Mark. So hat es das Gericht beschlossen. Aber was tut der Tunichtgut? Nichts.”
„Vielleicht hat er ja kein Geld”, vermutete Jutta.
„Wird er schon haben”, sagte Else leichthin. „Und wenn nicht, muss er halt welches verdienen.“
„Und womit bitte“, wandte Rosi ein. „Er kann doch nichts. Nur brotlose Kunst.“
„Redet kein dummes Zeugs“. Wurde Else ungehalten, „stopft lieber eure Strümpfe. Die Löcher werden ja immer größer. ”
Rosi und Jutta saßen auf der Couch neben Else. Sie stopften gewissenhaft die großen Löcher in ihren Strümpfen zu. Für neue Stümpfe hatte Else kein Geld. Ganz abgesehen davon, dass es sowieso keine Strümpfe zu kaufen gab. Höchstens auf dem Schwarzmarkt. Doch da waren sie schweineteuer. Ein Glück, dass jetzt Sommer war. Else erwog schon, für den Winter Stümpfe aus Schafswolle zu stricken. Die konnte sie noch billig von dem Schäfer kaufen, der gegenüber vom Feld auf den Streuobstwiesen seine Schafe weiden ließ. Daran durfte Rosi gar nicht denken. Solche kratzigen Strümpfe würde sie nie anziehen können. Doch Else würde darauf bestehen. Sie würde sogar unbrauchbare Strümpfe auftrennen und neue daraus stricken. Aus Alt mach Neu war ja ihre Devise. Natürlich in diesem Fall notgedrungen.

Else griff nach ihrem Groschenroman. „Rückt mal etwas zur Seite”, sagte sie. „Ich habe keine Lust mehr, zu stricken. Ich muss mich mal lang machen. Mir tut der Rücken weh. Und macht keinen Krach. Damit Bertraud Johanna nicht aufwacht. Oder die kleine Margitta.”
Else machte sich lang und las. Jutta und Rosi stopften emsig weiter.
Es dauerte nicht lange und Else war eingeschlafen. Sie war völlig erschöpft. Nachts hielt sie das Baby wach. Tagsüber die Rasselbande auf Trab. Wie sie sich ausdrückte. Es gab kaum noch Zeit für das Harmoniumpielen. Das Singen. Das Menschärgerdichnichtspielen.
Im September würde Rosi schon in die dritte Klasse kommen. Jutta in die zweite. Und Karlchen würde eingeschult werden. Sang - und klanglos. Wie Jutta. Es würde bestimmt keine Feier geben.
Rosi hing weiter ihren Gedanken nach. Wann sollte Karl denn die Geliebten gehabt haben?, dachte sie. Er war doch immer im Krieg gewesen. Und wenn er Urlaub hatte, war er sofort nach Hause gekommen. Da hatte er Else jedes Mal geschwängert. Aber nach der Bertraudschwängerung hatte er keinen Urlaub mehr. Und war nicht nach Hause gekommen. Vielleicht hatte er aber doch Urlaub gehabt? Und war bei einer seiner Geliebten gewesen. Anstatt bei Else. Und den Kindern. Man konnte ja nie wissen.
Und Else hatte ja den Richard genommen. Und jetzt war die kleine Margitta da. Sie war dem Richard wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie hatte ganz große Augen. Und schwarze Haare. Aber sie war viel zu klein. Und viel zu dünn. Sie war ein Frühchen. Und die Hebamme gab ihr keine Lebenschance. Aber Else gab nicht auf. Tag und Nacht barg sie die winzige Margitta an ihrer Brust. So konnte sie trinken, wenn es sie danach gelüstete.
„Sie trinkt sich ins Leben”, sagte Else.
Otto und Berta waren diesmal nicht zur Geburt gekommen. Obwohl ihnen Else auch diesmal einen schönen Brief geschrieben hatte.

Liebe Mama
Komm doch wieder
Im Hof blüht schon der weiße Flieder

Allerdings blühte der weiße Flieder zu Margittas Geburt nicht mehr. Aber Else hatte den Brief trotzdem geschrieben. Doch es hat nichts genutzt.
Otto und Berta waren mit Elses Scheidung nicht einverstanden. Sie mochten Karl. Der hatte Else zuliebe ja sogar den advendistischen Glauben angenommen. Und somit hatte er bei ihnen einen besonderen Stein im Brett.
Richard würde das nie tun. Richard hatte gar keinen Glauben. Er war Atheist. Und Kommunist. Das war fast noch schlimmer.
So blieb die ganze Arbeit an Else hängen. Die Kinder halfen auch mit. Soweit es ihnen möglich war. Richard musste arbeiten. Er konnte nicht im Haushalt helfen. Er erledigte nur Männersachen.
„Sie ist über den Berg”, hatte Else eines Tages zu Richard gesagt. „Nun wird das Leben etwas leichter.”
Doch von leichter werden konnte keine Rede sein. Im Gegenteil. Es gab nur noch Arbeit. Und Hektik. Weil es nichts zu kaufen gab, und der letzte Winter fast noch strenger war als der vorherige, hatten Richard und Else beschlossen, so etwas wie Selbstversorger zu werden.
Es hatte sich herausgestellt, dass Else Land geerbt hatte. Von dem Urgroßvater. Dem mit der Schuppenflechte. Zweitausendachthundert Quadratmeter Ackerland. Ungefähr eineinhalb Kilometer von Buttstädt entfernt. Auf einem kleinen Hügel. Dort, wo es einst eine Siedlung Wenigenbuttstedt gab. Im Dreißigjährigen Krieg war sie von raubenden Horden völlig zerstört und nie wieder aufgebaut worden.
Else war völlig überwältigt. „Dafür hat er das Geld gebraucht”, sagte sie freudig erregt, „und einen Teil des Hofes an Schmids verkauft.”
„Eine weise Entscheidung”, sagte Richard, „und die Bodenreform betrifft uns ja dann auch nicht.”
„Bestimmt nicht”, lachte Else, „da müssten wir ja 10000 Quadratmeter haben, Ich finde es ganz richtig, dass die Großbauern und Großgrundbesitzer und auch die Kriegsverbrecher das übrige Land an die landarmen Bauern und die Umsiedler, also die Flüchtlinge, abgeben mussten.”
„Ja“, stimmte Richard zu, „das hat unsere Partei und auch die SPD richtig beschlossen. 'Junkerland in Bauernhand' ist die Devise. So ist die Ungerechtigkeit zwischen arm und reich doch wenigstens etwas gemildert.“
„Aber es ist Ackerland. Ohne Baum und Strauch“, wandte Else ein.
„Wir können ja was anbauen”, ermutigte Richard Else, „und die Kinder können auch mit helfen.”
„Ich helfe lieber in Ziegelroda mit”, sagte Rosi. „Ich will mal wissen, was da los ist. Papa spricht auch nicht darüber. Aber die können ihr Land bestimmt behalten. Weil es ja nicht soo viel ist.”
„Bestimmt”, sagte Else.
Nach Ziegelroda traute sich Else vorerst nicht mehr. Ganz abgesehen davon, dass sie ja keine Fahrräder mehr hatten. Else hatte Karl verlassen. Wie sollte sie da ihren Schwiegereltern gegenübertreten? Bestimmt würden alle im Dorf mit Fingern auf sie zeigen. So war es eine glückliche Fügung, dass sie das Feld geerbt hatte.
„Du immer mit deinen Extrawürsten”, Else sah Rosi tadelnd an. „hier gibt es genug zu tun. Ziegelroda”, grummelte sie.

*

Eines Tages standen im Ziegenstall zwei kleine Zicklein. Woher die kamen, hat Else den Kindern nie verraten. Die Kinder tauften sie Zippi und Zappi. Zippi und Zappi waren so allerliebst, dass die Kinder sie immer wieder streicheln mussten. Am liebsten hätten sie sich gar nicht mehr von ihnen getrennt.
„Wir können sie ja mit in unser Bett nehmen”, schlug Jutta vor. „Der Boden im Stall ist doch viel zu hart.”
„Vielleicht muss da auch Stroh hin”, sagte Rosi, „wie bei den Kühen in Ziegelroda.”
Rosi hatte große Sehnsucht nach Ziegelroda.
Nach den Kühen. Dem Stall. Dem unvergleichlichen Geruch von Wärme und Erde. Dem Mist vor dem Haus. Dem Plumpsklo. Mit dem Herzguckloch. Nach Bello und Helene und Karl. Und sogar nach Wally. Und vielleicht würde ja auch Erich aus dem Krieg zurück gekommen sein und seine Verlobte heiraten.
Nichts wissen wir, dachte Rosi traurig. Nichts.
„Ich will Zappi aber lieber mit ins Bett nehmen”, riss Karlchen Rosi aus ihren Gedanken.
„Ich auch.” Jutta stellte sich neben Karlchen. „Da ist es schön weich.”
Zippi und Zappi sahen fast gleich aus. Nur, dass Zippis kurze Hörnchen etwas größer waren.
Plötzlich stand Else in der Tür. „Jetzt sind sie noch klein”, sagte sie, „sie brauchen viel Futter, damit sie wachsen können.”
„Was fressen die denn?”, wollte Rosi wissen.
„Ziegen sind Feinschmecker”, klärte Else die Kinder auf. Sie fressen gern schönes, grünes Gras und frische, saftige Kräuter. Also alles, was so auf den Wiesen wächst. Und natürlich auch Blätter von jungen Bäumen und Sträuchern.”
„Dann holen wir für sie das Futter”, freute sich Jutta.
„Ja, mit dem Handwagen.” Karlchen zappelte schon ungeduldig hin und her.
„Und wenn die Zicklein groß sind”, sagte Else, „bringen wir sie zum Bock nach Gutmannshausen.”
„Was sollen sie denn dort?” Jutta schaute Else enttäuscht an. „Sie sollen bei uns bleiben.”
„Bleiben sie ja auch Dummchen”, sagte Else. „Der Bock soll sie doch nur decken, damit sie Junge bekommen können. Und Milch geben. Und wir aus der Milch Käse und Quark und Molkesahne machen können.”
„Decken?”, wunderte sich Jutta.
„Ja, decken”, wurde Else wieder nervös. „Oder besamen.”
„Man kann auch sagen schwängern.” Rosi sah Else schadenfroh an. "Der Richard hat dich doch auch geschwängert.”
„Nun werd’ nur nicht frech”, wurde Else ärgerlich. „Bei den Tieren heißt es besamen oder im Falle der Ziegen decken”, beharrte sie. „Auch wenn man es mit schwängern vergleichen kann. Die Kühe in Ziegelroda müssen doch auch besamt, äh, gedeckt, werden. Und nicht geschwängert. Das weiß doch jedes Kind.”
„Und müssen die Kühe dann auch zum Bock”, wollte Jutta wissen.
„Nein, zum Bullen”, sagte Else. „Zum Zuchtbullen.”
„Zum Zuchtbullen?” Karlchen sah Else mit großen Augen an.
„Also Kinder”, sagte Else, „ihr nervt mal wieder total. Aber was soll‘s“, fuhr sie fort, „ ein Zuchtbulle ist eigentlich ein Ochse, der zum Zuchtbullen auserkoren wurde. Aber der steht natürlich nicht im Stall. Bei den Kühen.”
„Und wo steht der?” wollte Karlchen wissen.
„Das weiß ich doch nicht”, sagte Else. „Vielleicht bei irgendeinem Bauern. Zu dem die Kühe dann gebracht werden. Und jetzt ist Schluss mit der dummen Fragerei.”
Die Kinder sagten lieber nichts mehr. Wenn Else ärgerlich wurde, war nicht gut Kirschen essen mit ihr.
„Kommt, wir holen Futter”, forderte Rosi Jutta und Karlchen auf.
„Und Bertraud Johanna nehmt ihr auch mit”, befahl Else. „Und eine Sichel braucht ihr auch. Sonst dauert es ja ewig, bis der Handwagen voll ist.”
Die Kinder holten den Handwagen aus dem Schuppen hinter dem Ziegenstall. Sie fanden auch eine Sichel, Und eine alte Schere.
”Vielleicht brauchen wir die auch”, sagte Rosi. Sie warf die Sichel und die Schere in den Handwagen. „Und nun noch Bertraud.”
Else stand schon mit Bertraud Johanna vor der Tür. Sie setzte sie in den Handwagen und sagte: „Schön vorsichtig sein. Und bis zur Sperrstunde seid ihr wieder hier. Ich muss mich jetzt um das Baby kümmern. Und um das Abendessen”, murmelte sie.

Jutta und Rosi nahmen die Deichsel. Karlchen schob den Handwagen. Bertraud Johanna kreischte wie wild. Die Kinder holperten die paar Meter über das Kopfsteinpflaster den Brühl hinunter. Dann bogen sie rechts ab und liefen den Spittelberg hinauf. Der war ganz schön steil. Karlchen musste aufpassen, dass er den Halt nicht verlor. Er hing mehr an dem Wagen, als dass er ihn schob. Oben angelangt, bogen die Kinder links in die Brauereistraße. Übermütig holperten sie an dem alten Bunker vorbei. Sie gruselten sich etwas vor dem verwilderten Grundstück und liefen weiter zu den Mannstedter Wiesen.
„Na endlich”, freuten sich die Kinder, als sie angelangt waren.
Rosi hob Bertraud Johanna aus dem Wagen. „Da kommt das Gras rein. Für die Zicklein”, sagte sie. „Du kannst auch welches rupfen.”
„Mach ich”, freute sich Bertraud Johanna. „Bin schon groß.”
Abwechselnd sichelten Rosi, Jutta und Karlchen das Gras und die Kräuter und die vielen Margariten und Mohnblumen und Pechnelken von der Wiese.
Die Wiesen breiteten fast bis nach Mannstedt aus. In ihrer unvergleichlichen Farbenpracht boten sie vom Frühjahr bis weit in den Herbst hinein ein wundervolles Bild.
Über den Wiesen glänzte ein fast blauer Himmel. Mit einer zufriedenen Sonne. Kein Lufthauch war zu spüren. Den Vögeln war es wohl auch zu heiß. Sie hatten sich bestimmt in den Bäumen weit hinten am Horizont versteckt. Oder in den Obstbäumen der Mannstedter Straße entlang.
Ab und zu flogen noch einige Hummeln und Bienen und andere Insekten über die Blüten, ehe auch sie müde wurden und auf der Feuchte der Wiesen Schutz vor der Sonne suchten.
„Ich Durst”, weinte Bertraud Johanna. „Trinken.”
Doch es war nichts zu trinken da. Else hatte den Kindern nichts mitgegeben. Und die Kinder hatten auch nicht daran gedacht.
Rosi nahm ein Büschel Blumen vom Handwagen und reichte einige davon Bertraud Johanna. „Da ist bestimmt Saft drin”, sagte sie. „Die kannst du essen. Ich esse sie auch. Und Jutta und Karlchen auch.”
„Vielleicht sind die ja giftig”, zweifelte Jutta.
„Sind sie nicht”, sagte Rosi, „sonst dürften die Zicklein sie auch nicht essen.”
„Na gut”, ließ sich Jutta überzeugen.
Die Kinder saßen einträchtig vor dem Handwagen und kauten an ihren Blumen.
„Sie haben tatsächlich noch Saft”, freute sich Jutta.
„Meine Blumen auch”, schmatzte Karlchen vergnügt.
Die Kinder hatten ihren Durst etwas gestillt.
Sie rupften noch einige Blumen und Gräser.
„So”, sagte Rosi, „das wird für die Zicklein reichen.”
„Stimmt“, stimmte Jutta zu, „die Blumen fallen ja schon wieder runter.”
Jutta sammelte einige Blumen und Gräser wieder auf und legte sie vorsichtig zwischen die Gräser und Blumen im Handwagen.
„Die Sonne brennt ganz schön“, sagte Rosi.
„Mein Kopf ist schon ganz heiß.” Jutta fasste sich an den Kopf. „Und meine Haare schwitzen auch.
„Meine auch”, sagte Karlchen.
„Kommt, wir verstecken uns“, schlug Rosi vor.
„Wo soll man sich denn hier verstecken?” Jutta schüttelte ihren Kopf. „Hier gibt es doch keine Bäume.”
„Und keine Höhlen”, sagte Karlchen.
„Aber den Handwagen.“ Rosi kroch mit Bertraud unter den Handwagen. Jutta und Karlchen folgten ihnen.
Im Nu waren die Kinder eingeschlafen. Rosi wurde erst wach, als die Kirchenuhr fünfmal schlug. „Aufwachen! Aufwachen”, rief sie. „Bald ist Sperrstunde. Los, beeilt euch.”

Völlig verschlafen krochen die Kinder unter dem Handwagen hervor. Rosi setzte Bertraud Johanna auf das jetzt schon ziemlich welke Futter für die Zicklein und ab ging’s Richtung Brühl. Diesmal den Spittelberg hinunter. Das war fast noch schwieriger als hinauf. Denn jetzt musste sich Karlchen hinten an den Wagen hängen, damit er Rosi und Jutta nicht überrollte. Die Deichsel könnte dann nach oben klappen oder Rosi und Jutta sie loslassen müssen, wenn sie nicht schnell genug wären. Das wäre das Allerschlimmste. Denn der Wagen würde allein weiterrollen und sich vielleicht überschlagen. Mit dem Futter und Bertraud Johanna obendrauf. Oder es könnte ihnen ein Auto entgegenkommen. Oder ein Pferdegespann. Doch das war unwahrscheinlich. Autos gab es fast keine. Und die Pferdewagen fuhren nur auf den Landstraßen und Feldwegen.
Die Kinder kamen wohlbehalten im Brühl an. Ihr Ziel war natürlich der Ziegenstall. Mit Zippi und Zappi. Sobald die Kinder den Stall betraten, meckerten die Zicklein im Duett. Aufgeregt sprangen sie hin und her.
„Mäh….”
„Mäh… .”
“Sie riechen ihr Futter”, freute sich Jutta.
„Los, wir werfen alles auf die Erde“, sagte Rosi. „Da können sie fressen, soviel sie wollen.”
Mit beiden Händen warfen die Kinder das Futter aus dem Handwagen in die Luft. Dann ließen sie sich lachend auf den Boden des Ziegenstalls fallen. „Määhh. Määhh“, schrien sie im Chor mit Zippi und Zappi. „Mäh … „
Das war ein Spaß.
„Schluss jetzt!“ Else stand plötzlich in der Tür. „Macht doch nicht so einen Lärm. Ihr weckt doch das Baby auf“, sagte sie unwirsch. „Ich bin froh, dass Margitta endlich eingeschlafen ist.”
Sofort waren die Kinder still. Schuldbewusst senkten sie die Köpfe. Dann trotteten sie vorsichtig ins Wohnzimmer. Else eilte an ihnen vorbei.

Richard und Karl saßen an dem ovalen Tisch. Else setzte sich neben Richard. Diesmal saß Karl Richard und Else gegenüber. Richard legte provozierend einen Arm um Elses Schulter. Er wollte wohl damit ausdrücken: „Das ist meine Frau.“ Wie vor einem Jahr Karl.
Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg.
Über dem Tisch hing die blaue Lampe mit den gelben Blumen. Der Fliegenfänger mit den toten und fast toten zappelnden Fliegen schwankte sachte hin und her.
„Setzt euch”, forderte Else die Kinder auf. Sie hatte ihr schönes Kleid mit den bunten Blumen an. Die dunklen, langen Haare hatte sie zu einem dicken Zopf im Nacken verknotet. Über ihr ernstes Gesicht huschte ein leises Lächeln. „Euer Vater will mit euch reden”, sagte sie.

Weil Else ja nicht mit zwei Männern in einem Haus leben konnte, was sollten denn die Leute denken?, war Karl eines Tages ausgezogen. Und zwar zu den Russen. Er lebte jetzt nicht etwa, wie die anderen Rückkehrer ohne Angehörige, in der Baracke neben dem Russenlager, sondern mit den Russen in der alten Scheune. Er war ja in keiner Partei gewesen, weil er damals sein Parteibuch den Genossen vor die Füße geworfen hatte. Er hatte nur den Rang eines Gefreiten. Im Zivildienst. Das kam ihm jetzt zugute. Jetzt durfte er die Rückkehrer - und Flüchtlingstransporte, die immer noch regelmäßig am Bahnhof ankamen, begleiten. Und für Ordnung sorgen. Da er etwas russisch und französisch verstand und leidlich sprach, kam ihm das sehr gelegen.
Rosi besuchte ihn oft. Manchmal kamen auch die anderen Kinder mit. In Haus Brühl 18 hatte er sich allerdings bisher nie wieder blicken lassen.
„Und was soll das sein Papa?” Rosi setzte sich schnell auf Karls Schoß. Sie hob sein Kinn in die Höhe und klopfte an seinen etwas vorstehenden Adamsapfel. „Hast du etwa Geheimnisse?“, scherzte sie. „Wir reden doch immer über alles.”
„Euer Vater ist ein einziges Geheimnis”, sagte Else spöttisch. „Ich weiß jedenfalls nicht, was er das ganze Jahr so getrieben hat.”
„Er ist ja auch nicht mehr dein Mann.” Rosi sah Richard böse an. „Da brauchst du auch nichts mehr über ihn zu wissen.“
„Sei nicht immer so vorlaut dummes Ding”, sagte Else. „Und guck den Richard nicht immer so böse an. Ziemlich ist er es, der euch ernährt.”
Karl stellte Rosi auf den Boden. „Mir wurde ja verweigert, mich um die Kinder zu kümmern”, sagte er. „Ich habe auch nichts mehr zu sagen.”
Sichtlich erzürnt, aber auch traurig, verließ Karl das Haus Brühl 18.
Er hat es nie wieder betreten.

***

Fortsetzung folgt
 

http://www.webstories.cc 19.04.2024 - 11:11:42