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Die Belfast Mission - Kapitel 18

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© Francis Dille   
   
Kapitel 18 – Eiszeit

Nachdem die Überseekisten sowie die reichlichen Koffer im Haus verstaut waren, beschloss Ike seinen vermeintlichen Onkel vorweg abzutasten bevor er beabsichtigte, Charles seinen zukünftigen Arbeitskollegen vorzustellen. Das Familienoberhaupt schien unzufrieden zu sein und neigte offenbar dazu, seinen Unmut unbeherrscht auszulassen. Solch ein Verhalten steuerte nicht unbedingt vorteilhaft dazu bei, eine reibungslose Integration anzustreben. Zudem waren die Auswanderer per UE-Gesetz dazu verpflichtet, sich lebelang unauffällig zu verhalten, schließlich würden sie immer Zeitreisende sein. Ein Schleuser hatte unter anderem dafür zu sorgen, dass sich die TTA-Klienten unproblematisch in ihrem Probejahr einleben, damit die unwiderrufliche Aussiedlung letztlich auch erfolgreich abgeschlossen werden kann. Das Emigrationsprogramm der Time Travel Agentur brachte der Staatskasse immerhin einen lukrativen Gewinn ein, abgesehen davon förderte dieses Projekt die Überbevölkerungsproblematik in United Europe wortwörtlich aus der Welt zu schaffen.
Aus ihren Akten konnte man entnehmen, dass nur Anne Owen die Lizenz für eine Zeitreise in das 20. Jahrhundert erworben hatte, womit sie zugleich ihren Sohn sowie auch ihren Ehemann ebenso eine neue Zukunft in der Vergangenheit ermöglichte. Nach dem Logbuch der TTA zufolge lebten die Owens in United Europe als Multimilliardäre offiziell in City Nieuw Bruxelles, aber sie besaßen noch weitere Anwesen in Nobelvierteln anderer Citys.
Charles betrieb in United Europe eine renommierte Maklergesellschaft und hatte sogar im Centrum und weiteren namentlichen Citys einige Etagen unter Vertrag. Der gelernte Reaktormechaniker hatte bei Vertragsabschluss bei der TTA einige Bescheinigungen nachweisen können, dass er sogar mit der veralteten Elektrotechnik des 20. Jahrhunderts vertraut war. Dies ermöglichte ihn als einen erfahrenen Elektriker bei Harland & Wolff zu empfehlen. Anne dagegen übte ihren Beruf bislang als eine Lehrerin aus, jedoch nur in einer gewöhnlichen Grundschule. Ihr Fachgebiet durfte also nicht mit den Professoren und Doktoren verwechselt werden, mit Akademikern, die eine Privatschule betrieben und ihren Unterricht spezifisch auf den Erwerb von Zeitreiselizenzen beschränkte.

Ike spazierte mit Charles entlang des Feldweges, welcher direkt zur Stadt führte. Mittlerweile hatten sich auf dem Ackerland überall Schneeverwehungen gebildet und die Wälder ringsherum sahen aus, als hafteten an den Baumkronen Puderzucker. Als beide die Entfernung weit genug einschätzten, um nicht belauscht zu werden, blieben sie stehen. Ike schaute blinzelnd über den Hügel auf das Haus zurück. Lediglich das schneebedeckte Dach war jetzt noch zu sehen. Er beobachtete wie der Schornsteinrauch mit der Windrichtung hinfort wehte, während Charles Spuren in die feine Schneedecke tapste und diese fasziniert beäugte. Auf seinem Bowler haftete Schnee. Ike kramte in seiner Manteltasche und griff nach einem Ledersäckchen, in dem würzig riechender Tabak und Zigarettenpapier steckten.
„Ist verflucht kalt hier“, moserte Charles, richtete sogleich seinen Mantelkragen hoch und hauchte in seine Hände. „Ist das hier etwa immer so verdammt kalt? Man hat mir aber ein ausgezeichnetes Klima versprochen!“
Währendem sich Ike sein Leid anhörte, fasste er an seine Schirmmütze, zog sie bis unter die Augenbraue runter und versuchte beharrlich seine Zigarette mit Streichhölzern anzuzünden. Eine Windböe preschte ihnen Schneeflocken gegen ihre Rücken.
„Ich verlange die aktuellen radioaktiven Messwerte für diese Zone. Mir ist es nicht geheuer, einfach bedenkenlos die Luft einzuatmen. Euch Burschen von der TTA kann man nämlich nicht trauen, denn ihr seid doch sowieso allesamt nur Abzocker. In den Videoclips sieht man ausschließlich Sonnenschein, schöne Wälder und grüne Wiesen. Aber was erwartet mich hier? Eine Arschkälte“, meckerte Charles und als der Zigarettenrauch in sein Gesicht wehte, hüstelte er übertrieben und wedelte zugleich wild mit seinen Händen.
„Du rauchst? Sag, bist du irre? Das werde ich sofort melden falls du es wagst, im geschlossenen Raum in meiner Gegenwart zu paffen. Ich werde dich und deinen Verein auf Schadenersatz verklagen. Deinetwegen erleide ich bestimmt keinen Lungenkollaps, oder erkranke gar an Lungen-CM!“, drohte Charles.
„Halt endlich deinen Rand. Hier in der vergangenen Welt ist eine CM-Infektion ausgeschlossen!“, fuhr Ike ihn genervt an. „Ein stets klimatisiertes Ambiente ist für dich ab sofort passé und darüber sollten du und deine Familie eigentlich glücklich sein. Falls dein Entschluss nächstes Jahr weiterhin besteht, dich mit deiner Familie in diesem Jahrhundert unwiderruflich niederzulassen, dann gewöhn dich gefälligst an den kalten Winter, heißen Sommer, nassen Regen, plumpen Kommentaren deiner zukünftigen Arbeitskollegen und an meinem stinkenden Zigarettenrauch. Sicher werde ich wegen dir nicht aus dem Haus hinaus in die Kälte zum Rauchen gehen. Außerdem habe ich mit der TTA gar nichts am Hut, sondern ausschließlich direkt mit der Regierung. Ich bin ein Geheimagent, der entscheidet ob ihr drei für dieses Jahrhundert geeignet seid oder nicht. Also ist es ratsam für dich, dass du mit mir kooperierst. Andernfalls schicke ich euch wieder zurück und sechzig Prozent euer Reisekosten werden gesetzlich einbehalten. Sei vernünftig und besonnen und erkläre mir einfach dein Problem.“
Charles zuckte kurz mit der Backe und blickte ihn griesgrämig an.
„Na gut, dann kommen wir eben gleich zur Sache. Das Haus … Es ist erbärmlich! Ich will ein anderes, ein größeres Heim mit exklusiverem Komfort. Die TTA hat ein Vermögen von mir kassiert, dafür kann ich auch etwas verlangen. Schaff mir außerdem dieses verfluchte Viehzeug vom Hals. Die Pferde sind ja in Ordnung, die sind nützlich, so lange ich noch kein Automobil besitze, aber dieser Wolf oder was auch immer das ist, verschwindet auf der Stelle! Es ist doch ein Wolf oder nicht? Jage ihn wieder fort, in den Wald wo er hingehört. Der läuft mir ständig hinterher und bedroht mich.“
„Beruhige dich, Charles. Laika ist nur ein Hund, der das Grundstück vor Fremde beschützt. Es ist ganz einfach: Beschäftige dich mit Laika, lass sie dich beschnuppern und dann wird sie dich auch mögen. Alles wird gut.“
„Alles wird gut … Was für eine dämliche Antwort! Und was soll dieses seltsame Gefieder in diesem Gehege? Was ist das für ein Viehzeug und wofür soll es gut sein?“
„Das sind Hühner.“
„Hühner? Von solchen Spezies habe ich noch nie etwas gehört. Weg damit, die sind laut und stinken bloß!“

Ike war etwas irritiert, ließ es sich aber nicht anmerken. Charles mangelte es gehörig an Allgemeinwissen, bezüglich dieser Zeitepoche. Seine Gattin hätte ihn doch zumindest über die Gegebenheiten des Zwanzigsten Jahrhunderts grob aufklären müssen. Wie hatte diese Familie sich das bloß vorgestellt? Charles hatte für ihren Unterhalt zu sorgen und musste bereits am nächsten Morgen in seinem zugewiesenen Elektrikerteam erscheinen, umgeben von Männern uralten Schlages, und er wusste nicht einmal was ein Huhn oder Hund ist?
Der Begriff Huhn oder Hühnchen existierte im europäischen Sprachgebrauch nicht, weil auch diese Tierart längst ausgestorben war. Das niederländische Vokabel Kippetje wäre die korrekte Übersetzung, jedoch bezeichnete man Kip in United Europe ausschließlich als synthetisches, frittiertes Fleisch, welches dem Geschmack des Hühnerfleisches ähnelte.
„Kip“, antwortete Ike. „Noch nie Kippetje in einer Bar gegessen? Wenn ich mir deine Statue genauer betrachte, kann ich mir das aber schlecht vorstellen, es sei denn, du warst vorher schlank. Dann haben die Kosmetiker aber wirklich exzellente Arbeit vollbracht. Besonders dein Schnauzer steht dir ausgezeichnet. Du ähnelst Charlie Chaplin etwas, nur bist du nicht so schlank wie er, aber du siehst trotzdem genauso witzig aus“, prustete Ike.
Charles runzelte die Stirn, während er über seinen dicken Bauch streichelte.
„Wer zum Teufel ist Charlie Chaplin? Etwa ein Politiker wie dieser Hiller?“, fragte er knatschig, winkte aber sogleich ab. „Weshalb sollte ich einen Kosmetiker besucht haben? Mit meiner Figur war ich schon immer ganz und gar zufrieden. Sie-sie ist modern. Der Tablettenfraß hat mir noch nie gemundet. Ich brauch etwas Kräftiges zwischen meiner Kauleiste, sonst werde ich nicht glücklich. Das war ein der maßgebenden Gründe weshalb ich mich im Zwanzigsten Jahrhundert niederlassen will: Biologische Nahrung“, lächelte er verschmitzt.
Charles schüttelte sich sogleich angewidert die Schneeflocken von seinem Ärmel. Vielleicht schneite es ja aufgrund eines radioaktiven Niederschlages, fuhr es erschrocken durch seine Gedanken.
„Und diese kleinen gefiederten Ungeziefer sollen tatsächlich wie Kippetje schmecken?“
Ike nickte. „Sogar weitaus besser, weil es das Originale ist. Außerdem legen Hühner Eier, die hervorragend schmecken und damit kann man sogar verschiedene Gerichte zubereiten.“
„Mmm … Nun, dann werde ich meine Entscheidung wohl überdenken. Aber dieses vierbeinige Monster verschwindet, es sei denn, dieser schmeckt nach Varkensvlees. Es ist mein Haus und nur ich bestimme!“
„Dann versuch mal Eloise davon zu überzeugen, dass Laika unerwünscht ist. Sie hängt sehr an dem Hund“, lächelte Ike.
Nachdem Ike ihm zu verstehen gab, dass Hunde weder nach Schweinefleisch schmecken, noch dass man sie überhaupt zubereitet, und er ihn auch davon abriet, Laika jemals ein Härchen zu krümmen, weil sie ihn ansonsten zerfleischen würde, begriff Charles seinen Standpunkt, den Hund einfach zu akzeptieren. Nun merkte Ike, dass man mit dem Auswanderer verhandeln konnte, drehte den Spieß um und vermittelte ihm, dass von nun ab nach seinen Regeln gespielt werden müsste. Falls ihm das Dach also nicht passe, solle er gefälligst selbst hinaufsteigen und die zerbrochenen Ziegel ersetzen, und wenn es ihm auf der Latrine während der Notdurft draußen frösteln sollte, ergäbe sich die alternative Option, einen Nachttopf neben seinem Bett zu platzieren. So wie es in dieser Zeitepoche, insbesondre auf dem Land, üblich war.

Die streng katholisch gläubige Eloise hielt ihren Zeigefinger auf dem Mund und tat geheimnisvoll, als sie Justin und Anne wieder in die Wohnstube führte.
„Pssst, ganz leise. Ich zeige euch jetzt das Christuskind“, flüsterte sie.
Justin staunte genauso wie seine Mutter, als sie neben dem Kamin einen leuchtenden Schrein erblickten, darauf eine Weihnachtskrippe und zahlreiche Kerzen sorgfältig platziert waren. Die hölzerne Krippe hatte Ike, nachdem Eloise bereits seit Anfang November darum gebeten und ihm eine Skizze zugesteckt hatte, in der Schreinerwerkstatt gezimmert und mit Baumrinde verkleidet.
Zuerst hatte Ike die Konstruktion dieser Krippe vor seinen Arbeitskollegen zu verbergen versucht und hatte ausschließlich nur heimlich in seinem Büro daran gebastelt, weil er befürchtete, sie würden sich deswegen über ihn lustig machen. Aber was der Holländer geheimnisvolles in seiner Baracke tat, blieb niemals ungeachtet und vor allem unentdeckt. Schon sehr bald hatte es sich herumgesprochen, dass der Holländer an einer Weihnachtsgrippe basteln würde, woraufhin insbesondere bei den Katholiken die Neugier gestiegen war. Aber wer würde es schon wagen, einfach in Mr. van Broeks Büro hineinzuspazieren und wissbegierig nachzuforschen? Dies hätte sich niemand getraut! Jedoch als der Vorarbeiter der Maler und Lackierer, Sam Brady davon erfahren hatte, war er einfach unangemeldet in sein Büro hereinmarschiert und hatte das Meisterstück einfach unerlaubt begutachtet.
Der 59jährige Sam Brady war dermaßen beeindruckt gewesen, dass er Ike kurzerhand dazu beauftragt hatte ihm ebenfalls solch eine Weihnachtskrippe zu zimmern. Gegen Ikes Erwartung, man würde ihn deshalb belächeln – womit er in seiner Heimat durchaus hätte rechnen müssen –, erntete er wiedermal Hochachtung von seinen Männern. Wiedermal hatte Ike begriffen, dass diese Urväter zwar oftmals eine raue Verhaltensweise an den Tag legten und auch sonst nicht zimperlich miteinander umgingen, dennoch schlugen ihre Herzen stets am rechten Fleck.
Die Futterkrippe, darin ein gebasteltes Püppchen im Stroh lag, sowie die Figuren, welche die Heiligen Drei Könige, Maria und Josef und die Tiere darstellten, hatte Eloise mithilfe Papier, Zahnstochern und geschnitzten Kastanien gebastelt. Sie hatte dabei auf jedes Detail geachtet, hatte liebevoll die Gesichter bemalt und den drei Königen sogar Bärte aus Watte angeklebt.
„Schaut nur hin, da schläft das Christuskind. Nun lass uns wieder rasch gehen, damit es nicht aufwacht“, flüsterte sie, wobei sie immer noch ihren Zeigefinger auf dem Mund hielt.
„Das ist aber eine sehr schöne Weihnachtskrippe, Eloise. Wo hast du die denn gekauft?“, fragte Justin ebenfalls flüsternd, obwohl er es nicht nachvollziehen konnte, weshalb geflüstert wurde. Möglich aufgrund der heiligen Atmosphäre, die der sensible Junge auf Anhieb verspürte und deshalb ebenfalls leise redete.
Eloise stutzte.
„Was? Kaufen?!“, platzte es ihr plötzlich aufgebracht heraus, presste aber sogleich wieder ihren Zeigefinger auf dem Mund. „Die Weihnachtskrippe hat Ike gebaut und die Figuren habe ich selber gebastelt. So was kauft man doch nicht, dass kann man alles selber machen, wie du siehst. Wir sind doch nicht Krösus“, flüsterte sie energisch und blickte Justin dabei ernst an.
Während sie den Christbaum schmückten, bewunderte Justin die gebastelten Engel sowie Weihnachtsmänner und grübelte, wie es Eloise bloß gelungen war, aus einfachem Papier solche wunderschöne bunte Sterne zu zaubern. Niemals zuvor hatte er eine vergleichbare Weihnachtsatmosphäre erlebt, wie in diesem Augenblick. Eloise hingegen wunderte sich.
„Anne, entschuldige meine Offenheit aber ich finde es beschämend, dass der Junge nicht einmal weiß, wie ein einfacher Stern gebastelt wird. Man wird ihn in der Schule deswegen noch hänseln!“
„Bitte glaube mir, ich schäme mich selbst dafür. Aber wie soll ich meinem Sohn etwas beibringen, wovon ich selbst keine Ahnung habe? Ich würde mich sehr glücklich schätzen, wenn du mir ebenfalls das Geheimnis dieser wundervollen Kunst beibringst“, sagte Anne, woraufhin Eloise sie zwar verwundert anblickte, dann aber lächelnd nickte.

Das traditionelle Weihnachtsfest geriet im 25. Jahrhundert beinahe in Vergessenheit und war längst zu gewöhnlichen Feiertage geworden, an dem man sich höchstens darauf freute, endlich mal ausschlafen zu können. Der Haushaltscomputer in allen Apartments projizierte eventuell zur Adventszeit einen virtuellen Christbaum und verwandelte die Ladenfenstermonitore in verschneite Waldlandschaften, insofern man für dieses altertümliche Fest überhaupt noch Interesse zeigte und ein weihnachtliches Dekorationsprogramm im Haushaltscomputer installiert hatte. Sich gegenseitig zu beschenken oder Weihnachtsgrüße auszusprechen, galt sogar als albern und war bereits seit beinahe zweihundert Jahren hinfällig geworden. Lediglich eine Minderheit hielt noch an dieser Tradition fest – diese waren gläubige Christen oder hartgesottene Fans, welche jegliche altertümliche Festlichkeiten verbissen aufrecht zu erhalten versuchten –, jedoch wurden solche Leute in United Europe überwiegend belächelt.
Nachdem Eloise geduldig die Kerzenhalter an die Tannenzweige des Christbaumes geknüpft und die Kerzen darauf gesteckt hatte, entzündete sie nach und nach die Dochte. Justins Augen weiteten sich begeistert, als er beobachtete, wie sich die Streichhölzer zischend an der Reibfläche entfachten und es herrlich nach Schwefel roch. Das Feuer kannte der Junge bisher nur aus dem Internetmedium, insbesondere in seinen Ego-Shooter Games spielte Feuer eine zentrale Rolle. Über die verheerende Auswirkung infolge einer leichtsinnigen Handhabung war er also bestens informiert. Kurzum, der Bengel war kein Dummkopf und sah sich mit seinen zwölf Jahren durchaus erwachsen genug, verantwortlich mit diesem heißen und gefährlichen Element gewissenhaft umzugehen.
„Eloise, darf ich auch mal die Kerzen anzünden?“, bettelte er.
„Nein, Justin!“, entgegnete sie ihm streng, wobei sie konzentriert weiter zündelte. „Meine Großmutter sagte immer zu mir, als ich noch so klein war wie du: Messer, Gabel, Schere, Licht, sind für kleine Kinder nicht!“
Einen Moment blickte Justin sie nur eulenartig an. Sie hatte ihn praktisch als einen Winzling tituliert und ihn obendrein mit einem Zuchtreim zurecht gewiesen. Er rümpfte die Nase.
„Wie ultrauncool ist das denn? Messer, Löffel, blablabla“, äffte er heimlich hinter ihren Rücken nach, woraufhin er sich von Anne einen Klaps und einen strengen Blick einhandelte.

Alsbald widmete Anne ihre Aufmerksamkeit einer schlichten Blechwanne zu, die in der Küche stand, und begutachtete das darin steckende Holzbrett. Mit ihren Fingern fuhr sie vorsichtig über die geriffelte Oberfläche und tastete die eingekerbten Unebenheiten ab. Ob das wohl ein Waschbrett ist, fragte sie leise vor sich hin. Wie war das nochmal? Nahmen sie das Brett und klopften oder rubbelten die Leute es über das Kleidungsstück? Oder umgekehrt? Anne erinnerte sich beim besten Willen nicht mehr an die Unterrichtsstunde ihrer Lizenzerwerbung, wobei die Handhabung eines Waschbrettes erläutert wurde.
„Hättest du auch gerne eine heiße Tasse Tee?“, entriss Eloise sie aus ihren Gedanken. „Ike trinkt um diese Uhrzeit lieber Kaffee, schwarz. Aber ich bevorzuge Tee mit einem Stück Zitrone darin.“
Anne nickte hastig.
„Auch mit Zitrone, genauso wie du“, antwortete sie. Dann nahm sie das Holzbrett aus der Blechwanne und untersuchte es beidseitig.
„Sag mal Eloise, ist das etwa ein Waschbrett?“
Während Eloise den Teekessel zubereitete, widmete sie ihr einen kurzen Blick zu.
„Selbstverständlich ist es ein Waschbrett. Was denn sonst?“
„Dachte ich mir es doch gleich“, lenkte sie lächelnd ein. „U-und wie funktioniert das?“
Eloise goss gerade das heiße Wasser über das Sieb mit Teeblättern, welches sie über eine Porzellankanne hielt, stellte den Wassertopf wieder auf den Gasherd und stutzte. Sie beobachtete wie Anne das Waschbrett in ihren Händen hielt und es dabei unbeholfen begutachtete. Ein Schmunzeln fuhr ihr über die Lippen, dann hielt sich prustend die Hand vor dem Mund.
„Was-was ist denn nun schon wieder so komisch?“, hakte Anne verunsichert nach. Dem Humor der Akteure vermochte sie einfach nicht folgen zu können. Eloise gelang es nicht, sich weiterhin zu beherrschen und lachte herzhaft, wobei sie sich ständig entschuldigte. Keinesfalls beabsichtigte sie, Anne auszulachen, aber die Situation war einfach zu lustig für sie. Anne dagegen begriff absolut nicht, worüber sich die junge Akteurin wiedermal so sehr amüsierte.
Eloise hob ihren Schottenrock etwas an und flitzte lachend hinaus in den Hof. Ike und Charles waren derweil wieder zurückgekehrt, betrachteten die Fassade des Hauses und diskutierten entspannt miteinander.
„Ike! … Ike!“, rief sie aufgeregt, während sie zu ihm rannte. „Deine Tante ist wirklich urkomisch. Stell dir mal vor, sie wollte mir doch in der Tat weismachen, dass sie keine Ahnung hat, was ein Waschbrett ist und wie man es benutzt. Sie zuckte dabei nicht einmal mit ihren Augenliedern und beinahe wäre ich sogar darauf reingefallen. Dabei wäre das ja genauso, als wenn man nicht reiten könnte. Wie ulkig, nicht wahr?“
Ike unterbrach seine Unterredung mit Charles, drehte sich ihr zu und blinzelte verlegen.
„Das ist eine wundervolle Idee, Liebes. Zeige Anne wie man das Waschbrett benutzt und bringe ihr unbedingt das Reiten bei!“
Eloises Lächeln entschwand allmählich aus ihrem Sommersprossengesicht. Konnte diese Frau etwa tatsächlich nicht reiten? Was ist mit kochen? Typisch Stadtweiber, dachte sie sich. Hoffentlich weiß sie wenigstens, wie man Butterbrote schmiert.

Seit einigen Stunden schneite es unaufhörlich. Noch bevor die Dunkelheit komplett eingebrochen war, erreichte der Neuschnee beinahe Knöchelhöhe und die Temperaturen sanken weiter unter Null Grad Celsius. Noch immer wehte der eisige Wind umher und Ike befürchtete, dass sie am nächsten Morgen noch etwas früher als gewohnt aufstehen müssten. Immerhin beanspruchten die zwanzig Kilometer mit dem Pferdegespann bis zur Schiffswerft etwa eine Stunde. Bei günstigen Wetterverhältnissen wohlbemerkt!
Es gab eigentlich nichts wovor sich Ike in diesem fremden Jahrhundert fürchtete, aber er wuchs mit dem katastrophalen Klima des 25. Jahrhundert auf und wenn er eines nicht zu unterschätzen wusste, dann waren es die Wetterbedingungen. Sobald sich also eine Unwetterfront gebildet hatte, betrachtete er diese anfänglich stets mit Bedenken. Bei jedem Blitz und Donnerschlag zuckte er zusammen und im Herbst, wenn orkanartige Stürme kleine Bäume abzuknicken drohten, es in Strömen regnete oder gar ein wüster Hagelschauer niederprasselte, hielt er ängstlich Ausschau nach Tornados, obwohl er genau wusste, dass diese Wetterphänomene zu jener Zeit in Nordirland auszuschließen waren. Da nun die Temperaturen merklich sanken, war es unbedingt erforderlich, so viel wie möglich Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen, bevor die Wasserpumpe komplett einfrieren würde.

Eloise blickte die Owens skeptisch an, als sie mit molligen Mänteln, Mützen und Fäustlingen bekleidet vor ihr standen. Ike krempelte kurzerhand die Ärmel seines Hemdes hoch und richtete seine Schirmmütze, während Eloise sich lediglich in ihren gestrickten Überzieher einhüllte und nur ein Kopftuch umband.
„Es herrschen doch allerhöchstens minus drei Grad da draußen. Mehr nicht. Wir sind doch nicht am Nordpol, also, stellt euch doch nicht so an“, sagte Eloise verwundert. „Wie wollt ihr denn in eurer Aufmache bloß die Eimer tragen? Könnt ihr euch überhaupt noch bewegen? Wir müssen doch bloß ein paar Meter hin- und herlaufen, da kommt man sowieso ins Schwitzen“, belehrte sie die mollig eingehüllten Owens.
Draußen wütete mittlerweile ein regelrechter Schneesturm, trotzdem schnappten sich Eloise und Ike jeweils zwei Blecheimer und wagten sich hinaus zum Brunnen, um die Wasserboiler, aufgrund der absehbaren Kältefront, ausreichend zu füllen. Justin weigerte sich bereits nach der ersten Fuhre, weiterhin bei dieser Eiseskälte schwere Wassereimer zu schleppen, weil seine Hände, trotz seiner Fäustlinge, zu sehr froren. Der Junge bekam selten Zuspruch von seinem Vater, aber dieses Mal stimmte Charles ihm zu, zeigte demonstrativ einen Stirnvogel und verweigerte ebenso die Schinderei bei dieser Schweinekälte, wie er es nannte. Daraufhin stellte Eloise ihre zwei überschwappenden Eimer auf dem schneebedeckten Boden ab und verschränkte ihre Arme.
„Justin, es ist völlig in Ordnung, wenn es dich friert. Gehe hinein und wärm dich am Kamin auf. Aber Onkel Charles, du bleibst gefälligst bei uns und hilfst!“, sprach sie mit einem Befehlston.
Augenblicklich erfasste Charles eine Windböe und blies ihm eine Brise Schneeflocken entgegen, woraufhin er sich sogleich duckte.
„Verdammt, mir reicht`s jetzt! Ich geh rein. Ihr habt doch alle einen Knall, bei solch einer Saukälte dämliches Wasser zu schöpfen. Hätte man das nicht schon Wochen vorher erledigen können, als es noch nicht so schweinekalt war?“, schnauzte er.
„Nein, ist uns nicht in den Sinn gekommen, Onkel Charles“, konterte Eloise verärgert. „Weshalb sollten Ike und ich uns alleine abplagen, wenn das Wasser auch für deine Familie vonnöten ist? Gemeinsam können wir nämlich viel mehr Wasser schöpfen!“
„Hey, pass bloß auf was du sagst, Rotschopf. Noch wohnst du unter meinem Dach!“, giftete Charles zurück. Daraufhin blickte Eloise ihn mit erhobenem Kinn an.
„Dass du uns weiterhin in deinem Haus erduldest, dafür bin ich dir auch dankbar, Onkel Charles. Nichtsdestotrotz hast auch du Pflichten zu erfüllen. Schämst du dich denn nicht, vor den Augen deiner Frau und deines Sohnes vor ein bisschen Arbeit zu scheuen, nur weil es dich etwas fröstelt?“
Eine rote Haarsträhne lag in ihrem zornigen, anmutigen Gesicht. Sie keuchte, ihre grünen Augen starrten ihn kämpferisch an. Ihre Offenheit imponierte Charles, zugleich ahnte er, dass er mit dieser Dame zukünftig öfters diskutieren müsste.
„Ach, macht doch alle was ihr wollt. Nicht einmal der Köter läuft jetzt draußen frei herum. Weil er genau weiß, weshalb“, konterte Charles.
Laika, die vor der Haustüre hockte, unbekümmert aus ihren Hundeaugen schaute, gähnte ausgiebig, legte sich sogleich gemütlich bäuchlings hin und gab einen kurzen Jauchzer von sich.
„Ist mir alles scheißegal, was ihr macht. Ich gehe jetzt rein in die warme Stube und mache es mir vor dem Kamin gemütlich.“ Mit einem verachtenden Wink verschwand Charles daraufhin im Haus.
„Unverschämt, uns die Arbeit alleine zu überlassen!“, ärgerte sich Eloise. „Und was gedenkst du zu tun, wenn kein Wasser mehr da ist, weil es eingefroren ist, Onkel Charles?!“, brüllte sie ihm wütend hinterher. Daraufhin streckte Charles grinsend seinen Kopf über die Türschwelle.
„Dann schaufle ich eben Schnee in einen Kessel und erhitze es, mein süßer Rotschopf“, zwinkerte er ihr frech zu. Dann verschwand er in die warme Stube.
„So etwas unverfrorenes! Was aber gedenkt er dann zu tun, wenn kein Schnee mehr fällt, aber die Temperaturen trotzdem weiter sinken? Will er dann etwa die Eisschollen aus dem Teich herausbrechen und diese im Kessel auftauen? Wasser brauchen wir doch auch immer zum Kochen!“, schimpfte Eloise und blickte Ike hilflos an. Sie empfand es als unmöglich, dass der Herr des Hauses nicht mithalf, das lebensnotwendige Wasser zu schöpfen.
„Lass ihn doch, Liebes“ versuchte Ike zu beschwichtigen, während der Schneesturm unaufhörlich peitschte. „Charles ist harte Arbeit eben nicht gewohnt, so wie du es bist. Dies bezüglich kann er dir absolut nicht das Wasser reichen. Hat er soeben sprichwörtlich bewiesen.“
Dieses Kompliment zeigte sichtlich seine Wirkung und besänftigte Eloise. Sie lächelte wieder. Es schmeichelte ihr sehr, dass Ike sie diesbezüglich für eine stärkere Person hielt, als seinen eigenen Onkel. Trotzdem fuchste sie seine Faulheit, packte entschlossen nach den zwei gefüllten Eimern und spottete: „Na, dann lasst uns geschwind die Boiler füllen. Onkel Charles will nämlich nachher noch heiß baden.“

Es herrschte eine Eiseskälte. Ike griff nach dem Pumphenkel und füllte beharrlich die umherstehenden Eimer. Das eiskalte Wasser plätscherte in die Blechbehälter, die Pumpe quietschte und der Schnee stürmte unaufhörlich seitlich herab. Dann packte er ebenfalls zwei gefüllte Blecheimer und eilte mit den zwei Frauen hinüber ins Haus. Anne, obwohl sie sich in einen wärmenden Mantel vermummt hatte, Fäustlinge und mit einer Wollmütze bekleide war, gab schließlich nach der fünften Fuhre ebenfalls endgültig auf. Die klirrende Kälte und die ungewohnte körperliche Anstrengung zerrten an ihren letzten Kraftreserven. Der eisige Wind peitschte die Schneeflocken gegen ihr Gesicht, wobei es sich anfühlte, als wenn ihr tausend Stecknadeln entgegen stachen. Zitternd, völlig erschöpft, ließ Anne sich auf dem Küchenboden niederfallen, nachdem sie mit den Wassereimern herein stolperte. Kapitulierend hob sie ihre Hände.
„Bitte, bitte … I-ich kann nicht mehr. Ich bin wirklich am Ende. Es-es tut mir so leid.“
Anne schluchzte, schämte sich für ihre Kapitulation und zitterte am ganzen Leib, weil sie trotz ihrer Winterkleidung unglaublich fror. Eloise ließ sofort von ihren Eimern ab, stürzte sich auf sie und tastete besorgt ihr errötetes Gesicht ab. Ihre Wangen fühlten sich eiskalt an.
„Um Himmels Willen … Anne! Warum hast du denn nicht eher etwas gesagt? Es war nicht die Rede davon, dass sich jemand schinden muss, bis man umfällt. Du wirst sofort heiß baden, bevor dich das Fieber packt!“
„A-aber das Wasser. Wir-wir brauchen doch d-das Wasser “, stammelte sie.
„Papperlapapp. Ike und ich kümmern uns schon darum. Du aber gehst jetzt gefälligst marsch ab in die Wanne!“

Nun schleppten nur noch Ike und Eloise die Wassereimer von der Pumpe bis ins Haus hinein. Ike hatte sich mittlerweile auch einen Mantel angezogen und alberte mit Eloise rum. Ständig kniff er in ihren Hintern, woraufhin sie quiekte und sich rächte, indem sie ihn mit Schneebällen bewarf.
Anne hockte derweil in einem großen Holzfass, gefüllt mit dampfendem Wasser. Sie hatte ihre Augen geschossen und genoss erschöpft wie sich ihr Körper wieder erwärmte. Justin kam herein und kniete sich vor der “Badewanne“.
„Hey Mutz. Dir geht es nicht gut, ist es nicht so?“, fragte der Junge besorgt. Einen Augenblick überlegte er, bevor er weitersprach. „Meinst du nicht, dass wir lieber wieder nach Hause gehen sollten? Die vergangene Welt ist so total krass und stinkt so fürchterlich. Du bist doch jetzt schon total fertig und …“
„Nein, mein Schatz. Wir werden alle Strapazen überstehen und uns daran gewöhnen.“ Sie öffnete ihre Augen und tätschelte ihm auf die Wange. Wasser plätscherte. Anne sah ihren Sohn liebevoll an und lächelte. „Das alles tue ich nur für dich, damit du zukünftig ein wirkliches Leben hast. Also, höre auf das, was Ike und Eloise dir sagen. Ike ist ein guter Schleuser.“
Justin hielt ihre Hand fest und neigte seinen Kopf. Dann nickte er.
„Okay Mutz, ich werde es versuchen, Ike zu gehorchen. Aber nur weil du davon überzeugt bist.“
 

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