Die Belfast Mission - Kapitel 21 |
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© Francis Dille
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Kapitel 21 – Queens Island
Belfast, Dezember 1909
Als im Sommer des Jahres 1909 die Schulferien endeten, wurde für einige auserwählten Lehrlinge das Gittertor zu Queens Island geöffnet. Eltern durften sich glücklich schätzen, wenn ihrem Sohn bei Harland & Wolff eine Lehrausbildung ermöglicht wurde, somit würden die Knaben ihre Familie finanziell unterstützen können und obendrein wäre die Zukunft des Sprösslings vorerst gesichert. „Handwerk hat goldenen Boden“, heißt es schließlich und Harland & Wolff galt seinerzeit in Belfast als der renommierteste Arbeitgeber schlechthin. Zwar wurden die Gehälter trotz Proteste seitens der Gewerkschaften niedrig ausgehandelt, dafür aber zahlte das Unternehmen regelmäßig, was zu jener Zeit nicht unbedingt selbstverständlich war. Oftmals reichte das Gehalt eines einfachen Arbeiters gar nicht aus, wenn dieser eine Großfamilie verköstigen musste. Dann waren die Eltern oftmals gezwungen, ihre Sprösslinge vorzeitig von der Schule zu befreien und stießen sie gnadenlos in die raue Berufswelt. Daraufhin entschwanden die Aussichten, dass der Sohnemann jemals eine Lehrausbildung anstreben würde. Ein Teufelskreis, denn dann würde dieser junge Mann später einmal, genauso wie seine Eltern, wahrscheinlich in Armut leben und genauso mit seinen eigenen Kindern verfahren.
Aaron O’Neill hatte ebenfalls ein frühzeitiges Schulende gedroht, als sein Vater eineinhalb Jahre zuvor plötzlich bei einem Reitunfall ums Leben kam. Der Schreinermeister hatte damals auf jede Annehmlichkeit verzichtet, stattdessen hart gearbeitet und konsequent gespart, um sich seinen Lebenstraum zu erfüllen, eines Tages ein Familienunternehmen zu gründen, dieses später einmal Aaron übernehmen sollte. Als aber das Schicksal gnadenlos zugeschlagen hatte, wurde Mrs. O’Neill und ihrem Sohn nicht nur ein geliebter Mensch genommen, sondern zugleich ihr Ernährer. Mrs. O’Neill verkaufte ihr Haus in Tullamore (Republik Irland, Südirland) und wagte mit ihrem Sohn den ungewissen Schritt in das englische Nordirland, um Aarons Herzenswunsch zu ermöglichen, im Schiffsbau als Schreiner und Tischler tätig zu werden.
Ike hatte den schmächtigen Jungen bereits am ersten Tag seiner Lehrausbildung in sein Herz geschlossen. Gemeinsam mit weiteren Auszubildenden hatte Aaron die Schreinerwerkstatt betreten, wobei er als einziger Lehrling eine bepackte Ledertasche gefüllt mit Werkzeug getragen hatte, wovon gar mancher Schreinergeselle nur zu träumen wagte. Aber weshalb der kleine Bengel alsbald Ikes Aufmerksamkeit erlangte war, weil er nicht, so wie die anderen Jungs, eingeschüchtert sondern selbstbewusst aufgetreten war und sogar oftmals ungefragt das Wort ergriffen hatte. Ike war entzückt, als der vierzehnjährige Aaron O’Neill mit seiner großen Ledertasche vor ihm erschienen war und gelächelt hatte, bis seine Schneidezahnlücke aufblitzte.
„Wann darf ich denn an die Kreissäge, Mister van Book, Sir?“, hatte der kleine Knirps am ersten Tag seiner Ausbildung als allererstes gefragt.
Es stellte sich heraus, dass Aaron O’Neill in einen der Nachbardörfer wohnte und weil Ike sowieso ausschließlich den Feldweg zur Stadt nutzte, beschloss er ihn täglich bei den Birkenbäumen abzuholen. Der pfiffige Bengel erwies Ike zudem nützliche Dienste, weil er stets neugierig seine Berufswelt erkundete und oftmals Neuigkeiten, die sich auf Queens Island zugetragen hatten, in Erfahrung brachte und er es ihm sogleich stolz erzählte. Ike war immer wieder verblüfft, wenn Aaron sogar manchmal Gerüchte aufdeckte, die nicht einmal ihm zu Ohren gekommen waren.
Trotz dieses kumpelhafte Verhältnis, welches Ike ihm entgegen brachte und Aaron seinen Vorarbeiter privat sogar duzten durfte, war der Bengel clever genug, dies auf Queens Island zu unterlassen und ihn stattdessen, wie es sich gehörte, ausschließlich Mr. van Broek zu nennen, wobei es bei ihm mit der Aussprache aufgrund seines ausgeprägten südirischen Akzentes ein wenig haperte. In der britisch dominierenden Provinz Ulster war der Junge nun gezwungen, ausschließlich Englisch zu sprechen. Aaron betrachtete Ike als sein Vorbild, weil er über ein qualifiziertes Lehrwissen verfügte, wie einst sein Vater. Darüber hinaus bewunderte er, genauso wie alle anderen Lehrburschen, Ikes beeindruckende Muskeln und wünschte sich eines Tages ebenfalls solch einen Herkuleskörper zu haben.
Es war bitterkalt und die Landschaft war mit Schnee bedeckt.
„Guten Morgen, Ike“, lächelte Aaron strahlend munter und blickte sogleich auf Charles, der ihn argwöhnisch mit dem Gewehr in seinen Händen haltend musterte. Das schummrige Licht der Petroleumlampen offenbarte ihm ein Spitzbubengesicht mit Sommersprossen. Seine kupferroten Locken ragten seitlich aus der Schirmmütze hervor.
„Du bist also Ikes Onkel. Sei gegrüßt, Charles. Freust du dich auch schon auf Weihnachten?“
Charles zuckte mit der Wange.
„Das Kerlchen weiß ja, wer ich bin“, staunte er, während Aaron ihm kurzerhand die Ledertasche auf seinen Schoss ablegte und hinten auf die Ladefläche des Fuhrwagens aufstieg.
Ike grinste. „Selbst wenn ich ihm nichts von dir erzählt hätte, würde er wissen, wer du bist. Aaron weiß beinahe alles, was sich auf Queens Island abspielt. Er ist absolut geheimdienstfähig.“
„Aber Manieren hat der Bengel keine“, knurrte Charles und stellte die Werkzeugtasche hinter sich auf die Ladefläche ab.
Während das Pferdegespann durch die Schneemassen trabte, redete Aaron ununterbrochen ausschließlich vom Schiffsbau. Enthusiastisch schilderte er, dass die Schiffe 400 und 401 nach Fertigstellung den Komfort der zurzeit größten Schwesterschiffe, die Lusitania und Mauretania, weit übertreffen werden. Aaron behauptete, das Schiff mit der Baunummer 401, die Titanic also, werde bei Fertigstellung vom Bug bis hin zum Achterdeck um siebenundzwanzig Zentimeter länger sein als das Schwesterschiff Olympic. Somit werde sein Schiff, wie er die Titanic immerzu nannte, zum allergrößten Schiff der Welt gekürt werden.
„Siebenundzwanzig Zentimeter wird mein Schiff länger sein …“, raunte er.
„Aaron, glaub nicht jeden Quatsch, den man dir verzapft“, entgegnete Ike schmunzelnd. „Beide Schiffe werden identisch gebaut und werden 269 Meter lang, das garantiere ich dir. Der einzige Unterschied zwischen beiden Schiffen wird sein, dass man für die Titanic mehr Luxus und ein überdachtes Promenadendeck einplant.“
„Und warum liest man selbst in der Zeitung, dass die Titanic das größte Schiff der Welt werden wird? Erkläre mir das bitte mal“, konterte Aaron, wobei er ihn erhaben angrinste.
„Das ist alles nur Politik, mein Junge. Es wird lediglich geplant, dass die Frachträume der Titanic mehr Volumen aufnehmen können. Deswegen wird sie als das größere Schiff angepriesen. White Star Line Propaganda nenne ich so was, kapiert? Das ist bloß Augenwischerei, die Leute werden veräppelt, insbesondre die Reichen, damit sie mit der Titanic fahren. Hier geht es nur um Geld, das wirst du aber später mal begreifen.“
„Ich widerspreche dir wirklich ungern, Ike, aber …“
„Dann tu es auch nicht“, fiel Ike ihm sogleich ins Wort.
„Mein Schiff wird größer werden ich …“
„Was habe ich eben gesagt? Es-ist-nicht-wahr!“
„Aber …“
Ike unterbrach ihn, indem er hinter sich griff, sein Ohr packte und daran drehte.
„Noch ein weiteres Wort, mein Freundchen, und du handelst dir einen Satz heiße Ohren ein! Und wenn du mich das nächste Mal wieder Mister van Book nennst, trete ich dir vor versammelter Mannschaft mit Anlauf in deinen Hintern!“
„AUA!“, maulte Aaron, rieb sein Ohr und starrte beleidigt auf die verschneite Landschaft. Der Vollmond ließ die weiße Pracht hell erleuchten.
„Ja, Sir. Sie haben wie immer recht“, brummelte Aaron beleidigt.
Sein verbitterter Schmollmund hielt aber nicht lange inne. Er konnte es sich`s nicht länger verbeißen, Charles über einige Gegebenheiten bei Harland & Wolff aufzuklären und scheute sogar nicht davor zurück, trotz Ikes Anwesenheit, einige Arbeiter zu kritisieren. Selbst über den Elektrikervorarbeiter, Mr. Carl Clark, urteilte er vorlaut und betitelte ihn als einen gemeinen Tyrannen. Ihn solle man meiden wie einen Leprakranken, denn mit der Mistsau Clark sei nicht gut Kirschen essen, meinte Aaron. Er bedaure zutiefst seinen Kumpel Sean, weil ihn das Pech wie der Blitz getroffen hatte und er nun als Auszubildender in den Klauen dieses Teufels ausgeliefert sei. Nach dieser Bemerkung ermahnte Ike ihn, er solle sich mit seinen Ansichten über die Vorarbeiter gefälligst zügeln, woraufhin Aaron eine weitere Diskussion startete, um seine Meinung zu rechtfertigen.
„Hey, halt endlich dein vorlautes Mundwerk, du kleines Naseweis! Für dich heißt diese Mistsau immer noch Mister Clark! Du hast ihm Respekt zu zollen, schließlich ist er ein Vorarbeiter, genauso wie ich. Was sage ich immer zu dir? Was bin ich und was bist du?“, fragte er ihn bestimmend. Aaron verschränkte seine Arme, seufzte und blickte verdrossen drein.
„Du bist Chef und ich bin Nichts, Mister van Broek“, antwortete er zerknirscht.
„Geht doch, genau das wollte ich von dir hören“, sagte Ike schmunzelnd und zwinkerte Charles zu, der den Disput zwischen beiden stirnrunzelnd verfolgte.
Ikes Rüge zeigte seine Wirkung. Der Bengel blieb kurzweilig still, weil er Ikes hinterlistiges Ohrenrubbeln fürchtete, obwohl er es nicht nachvollziehen konnte, weshalb sein Meister den Vorarbeiter Carl Clark verteidigte. Mr. Clark und Ike waren bekanntlich keine guten Freunde, dies wusste schließlich beinahe jeder Angestellte von Harland & Wolff. Das Verhältnis zwischen beiden Vorarbeitern kriselte ständig und immer wieder gerieten beide in Auseinandersetzungen, die sogar manchmal im Büro von Mr. Andrews endeten. Handgreiflichkeiten waren zwischen beiden Kontrahenten jedoch nicht zu erwarten, sie bekriegten sich stets auf mentaler Basis und verwickelten sich stets in Wortgefechten. Eine Prügelei zwischen zwei Vorarbeitern, obendrein mitten auf Queens Island, könnte für beide Vormänner schließlich die fristlose Kündigung bedeuten.
Der Elektrikervorarbeiter Carl Clark war äußerst kompetent, zudem war er ein charismatischer Mann, vor dem jeder Respekt hatte, und niemals würde er sich auf dem niedrigen Niveau herabsetzen, sich mit seinen Arbeitskollegen zu prügeln. Zudem war Mr. Clark laut seines Lebenslaufes, was Ike von Margaretha Kelly erfahren hatte, immerhin schon vierundsechzig Jahre alt. Dieser Mann kämpfte nicht mit seinen Fäusten, sondern vielmehr mit seinem Scharfsinn, Raffinesse und seiner Intelligenz.
Der Vorarbeiter Carl Clark bemängelte generell Ikes Menschenführung und schwärzte ihn bei jeder Gelegenheit an. Mr. van Broek sei zu nachgiebig; er würde sein Team viel zu lasch anführen, weshalb das Arbeitsergebnis manches mal nicht zufriedenstellend sei. Dies beruhe lediglich auf die Unerfahrenheit des noch allzu jungen Vorarbeiters, kritisierte Carl Clark, womit er Ikes Kompetenz bei den Vorgesetzten stets infrage stellte.
Das wochenlange kursierende Gerücht, dass ein Verwandter seines Erzrivalen bald sein Team bereichern würde, war Mr. Clark bereits bekannt und daher vermutete Ike, Clark würde Charles Owen sicherlich zu mobben versuchen. Sollte es dem Vorarbeiter der Elektriker also tatsächlich gelingen, Charles aus dem Unternehmen zu verjagen, wäre das Emigrantenprojekt gescheitert und die Owens müssten unweigerlich wieder zurück in die Zukunft beordert werden. Eine Vertragsbedingung der TTA garantierte einem Auswanderer mindestens eine fünfjährige Arbeitsstelle und der Schleuser hatte dafür Sorge zu tragen, dass diese Klausel auch erfüllt wird. Ansonsten würde Ike nach seiner Rückkehr ein gerichtliches Verfahren drohen, immerhin wurde er auch dazu ausgebildet, Emigranten zu integrieren, die die Staatskasse um einige Milliarden Euros bereichern. Zudem förderte eine erfolgreiche Auswanderung, dass die Überbevölkerung in United Europe reduziert wurde. Dies zählte nämlich ebenso zu den Aufgaben eines Schleusers. Und ausgerechnet wurde Charles Owen einem Vorarbeiter zugeteilt, der nur auf eine Gelegenheit lauerte, Ike irgendwie zu schaden.
Plötzlich zischte es und ein Lichtschein schimmerte hinter Ike und Charles kurz auf, woraufhin beide zugleich verwundert hinter ihre Schultern blickten.
„Sag mal, spinnst du? Mach sofort die Zigarette aus, Bürschlein!“, schnauzte Ike und blickte Aaron dabei empört an.
„Aber wieso das denn?“, fragte Aaron verwundert. „Luke, Arnie und alle anderen rauchen doch auch!“
„Was die anderen machen, musst du ihnen nicht gleichtun. Ich werde wohl verstärkte Kontrollen anordnen müssen, bevor ihr kleinen Mistkäfer mit euren Glimmstängeln noch eine Lagerhalle in Brand setzt. Für euch Rotzblagen ist es strengstens untersagt, auf dem Werftgelände zu rauchen. Dass ihr überhaupt raucht! Außerdem schadet der Tabakgenuss deiner Gesundheit. Du ahnst ja gar nicht, welchen gesundheitlichen Schaden du dir damit zufügst!“
Ike schnauzte den Lehrling an, wurde aber ruhiger und versuchte ihn letztendlich im freundschaftlichen Ton über die Gesundheitsschadstoffe des Tabakgenusses aufzuklären, wobei seine Zigarette im Mundwinkel währendem er sprach sachte wackelte. Aaron aber paffte einfach weiter.
„Weshalb rauchst du denn dann, wenn du genausten darüber Bescheid weißt, dass es ja sooo schädlich ist?“ Aaron zuckte mit seinen Schultern. „Außerdem sind wir doch noch gar nicht auf der Werft. Also, wen kümmert es?“, kicherte er.
„Oh doch, mein Freundchen. Denn sobald deine vier Buchstaben auf meinen Fuhrwagen hocken, tritt automatisch meine Autorität als dein Chef in Kraft und ist somit gleichgestellt, als wenn du dich auf Queens Island befindest. Also, weg mit der Giftnudel. Sofort!“
Ike hielt seine geöffnete Hand nach hinten und lockte mit seinen Fingern.
„Los, Tabak abliefern. Der ist hiermit konfisziert. Nach Dienstende bekommst du das Kraut vielleicht zurück.“
„Konfiszi … Konfi-was? Was soll denn das schon wieder bedeuten?“, fragte Aaron naserümpfend.
„Es bedeutet, dass dein Tabak jetzt mir gehört und ich darüber verfüge. Oder ist es dir vielleicht lieber, dass ich mich mal mit deiner Mutter darüber unterhalte?“
Der Vierzehnjährige verzog seine Schnute, rollte die Augen und stöhnte auf. An Ikes ungewöhnliche Ausdrucksweise, die er oftmals von sich gab, hatte er sich längst gewöhnt. Zögernd griff er in seine Manteltasche und übergab schweren Herzens sein Tabaksäckchen und befürchtete, dass Ike sich daran bedienen und der Inhalt nach Feierabend um einiges erleichtert sein würde.
Das Werftgelände Harland & Wolff und das angrenzende Hafengebiet glichen einer kleinen belebten Industriestadt, die niemals schlief. Rund um die Uhr arbeiteten allein auf der Schiffswerft über 15.000 Menschen. Um überhaupt solch ein Bauvorhaben wie die geplanten Ozeangiganten der White Star Line zu verwirklichen, war es notwendig vorweg größere Helgen sowie Portalkräne und Trockendocks zu errichten. Außerdem wurde ein mindestens vierzig Meter hoher Schwimmkran benötigt, der die monströsen Maschinenteile hinauf zu den Decks befördern konnte, weil die Hebelkraft der vorhandenen Kräne sowie deren Konstruktion nicht ausreichten. Diesen bis dato höchsten Schwimmkran hatte die Geschäftsführung von Harland & Wolff extra für die Schwesterschiffe Olympic und Titanic von dem deutschen Unternehmen Demag aus Duisburg in Auftrag gestellt.
Im Jahre 1909 stand der Schiffswerft bereits ein weites Gebiet zur Verfügung: Queens Island, die künstlich erschaffene Landzunge von Belfast. Einige Jahrzehnte vor der Jahrhundertwende schufteten Bauarbeiter mit ihren bloßen Händen, lediglich mit Pickeln, Schaufeln und Schubkarren ausgerüstet, um ein brachliegendes Sumpfgebiet abzutragen und es in ein riesiges Betonplateau zu verwandeln. Das Unternehmen Harland & Wolff entwickelte sich bereits Ende des 19. Jahrhundert zur Europas bedeutendsten Schiffswerft, welche die Visionen der Reedereien verwirklichen wollten und daher waren die Geschäftsführer gezwungen, zu expandieren. Es erfolgte damals zudem der Ausbau der Wasserschleusen und des Victoria-Channels, dessen Wasserspiegel nach Bedarf geflutet oder gesenkt werden konnte.
Ike zwängte sich samt dem Pferdegespann vorsichtig durch die Menschenmenge. Insbesondere wenn die Frühschicht begann und somit die Nachtschicht endete, drängte sich ein unüberschaubarer Menschenauflauf vor dem Firmentor. Männer strömten aus den Gassen wie Ameisen herbei und liefen zielstrebig dem Haupttor entgegen, aus dem ermüdete Arbeiter aus der Nachtschicht ihrem wohlverdienten Feierabend entgegen schlenderten. Explosionsartiges Zischen, scheppernder Stahl und kontinuierliches Hämmern prägten die Geräuschkulisse dieses Stadtviertels bei Tag und Nacht. Willkommen auf Queens Island.
Dunkle Rauchschwaden drangen aus den Schornsteinen empor, die wie ein Nebel über die Dächer von Belfast zogen. Zwischen all diesen Industriekrach schrillten sporadisch die Schellen der überfüllten Straßenbahnen, die zu dieser frühen Morgenstunde hauptsächlich von Werftarbeitern besetzt waren. Sogar jetzt während den kalten Jahreszeiten zwängten sich die Fahrgäste auf den Freiluftdächern eng beieinander und wer keinen Sitzplatz ergatterte, klammerte sich einfach an einer geeigneten Haltegelegenheit an der Außenbordwand fest. Überwiegend waren es Männer, die auf Queens Island arbeiteten, selbst in den Büros überwog das männliche Geschlecht. Lediglich im Hauptquartier arbeiteten ein paar Sekretärinnen, Krankenschwestern und Putzfrauen.
Ike forderte Aaron auf, dass er seinen Fuhrwagen durch den separaten Lieferanteneingang hinüber zum diensteigenen Pferdestall führen sollte. Dort wurden die Tiere jener Werftangestellten betreut, die ausschließlich eine gehobene Position ausführten. Aber die Stallungen dienten nicht nur allein zur vorübergehenden Betreuung des Mitarbeiters Vieh, sondern die Schiffswerft verfügte über eine eigene Herde kräftiger Zugpferde, die ebenfalls täglich versorgt werden mussten. Unübersehbar ragte vor den Mauern des Werftgeländes ein noch nie da gewesenes Portalgerüst über die Dächer von Belfast hervor – ein riesengroßer Krankomplex, der mit monströsen Haken tonnenschwere Lasten hievte.
Die Arbeiter reihten sich hintereinander an und warteten darauf, dass die Pförtner ihren Dienstausweis kontrollierten. Hatte ein Angestellter seinen Firmenausweis einmal vergessen, wurde er gnadenlos abgewiesen und nach Hause geschickt, somit entging dem Arbeiter ein Tageslohn. Dieselbe strenge Maßnahme galt selbstverständlich ebenfalls für Verspätungen. Wer verschlafen hatte, durfte wieder nach Hause gehen. Der Firmenausweis bestand aus einem fingerbreiten Holzbrettchen, auf dem eine mehrstellige Nummer gestanzt war.
Charles war beeindruckt, als er Queens Island betrat und mit Ike und dem Lehrling die Straße entlang lief. Eine breite gepflasterte, von Laternen beleuchtete Straße, an der sich riesige gewölbte Werkstatthallen nebeneinanderreihten, eröffnete sich vor ihnen. Arbeiterkolonnen führten Pferdegespanne, auf dessen Zugwagen Holzdielen und Werkzeugkisten verladen wurden, aus allen Werkstatttoren heraus. Männer mit dunklen Herrenanzügen, auf dessen Köpfen ein Bowler lag, liefen eilig mit eingerollten Bauplänen unter ihren Armen aus dem Hauptquartier heraus.
Ein weiterer bespannter Fuhrwagen, auf dem eine Gruppe junger Lehrlinge hockten und bedrückt aus der Wäsche glotzten, zog gerade in die Richtung der Helgen. Es herrschten eiskalte Temperaturen, dennoch war vom gestrigen Schneefall in der Stadt nicht mehr viel übrig. Nur die Dächer von Belfast waren schneebedeckt, jedoch der Kopfsteinpflaster glänzte dunkelschwarz vor Nässe. Lediglich ein paar zusammengekehrte, matschige Schneeberge häuften sich seitlich am Gehweg.
Charles beobachtete drei Männer, die gerade versuchten eine klobige Dampfmaschine in Gang zu setzen, an der vier Anhänger hintereinander ankuppelten, die mit tonnenschweren Stahlrohren und Eisenträger beladenen waren. Einer der Werftarbeiter steckte eine Zündpatrone in eine Vorrichtung, dann traten sie eilig einige Schritte zurück. Ein mächtiger Knall schallte über die Queens Road, wobei explosionsartig dunkler Qualm aus dem Schornstein des schwarzen Ungetüms herausschoss, dieser wie eine schwarze Wolke langsam über die Werkstätten hinfort wehte.
Charles Owen zuckte aufgeschreckt zusammen und presste zugleich die Hände gegen seine Ohren. Das mühselige Stottern der Dampfmaschine beschleunigte sich und mit einem Ruck, bewegten sich die stählernen Speichenräder. Sofort sprangen die Männer auf die Sitzvorrichtung und aus dem langen Schornstein schoss nun wie bei einer Lokomotive, gleichmäßig dunkler Rauch heraus.
Vor dem kopfsteingepflasterten Hof des Hauptquartiers stand ein zehn Meter hoher elektrisch beleuchteter Christbaum. Die große runde Uhr an der Fassade des Gebäudes zeigte 6 Uhr an. Plötzlich schrillte die Firmenschelle minutenlang, was weit bis in das Firmengelände zu hören war. Daraufhin packten die Pförtner das Gittertor und verschlossen es.
„Ich erteile dir jetzt einen sehr guten Rat, aber sage dies auch nur einmal. Sei immer pünktlich, denn sind einmal die Tore verschlossen, lassen sie niemanden mehr hinein. Das Tor wird erst wieder zur nächsten Schicht geöffnet. Mit den Pförtnern kann man nicht feilschen. Sie sind absolut kompromisslos, selbst wenn es sich um eine läppische Minute Verspätung handelt.“
Charles blickte ihn fragend an.
„Weshalb reagieren die Akteure so kleinlich? Ich denke, es wird jede Arbeitskraft benötigt.“
„Die Arbeitslosigkeit ist allgegenwärtig und ganz Belfast steht Schlange und lechzt nach einem Wochenlohn von knapp zwei Pfund. Verstehst du, was ich damit meine? Für die Unternehmer sind die Arbeiter allesamt entbehrlich. Wenn der Eine nicht funktioniert, nimmt man eben einen Anderen.“
Nachdem alle Formalitäten im Hauptquartier erledigt waren und Charles ein nummeriertes Holzbrettchen empfangen hatte, war er nun offiziell ein Werftarbeiter von Harland & Wolff.
Ike führte ihn zur Elektrikerwerkstatt und forderte ihn auf, diesen verzwickten Weg sich schnellstens einzuprägen. Doch zuvor wollte er ihm den Anblick auf die legendären, unfertigen Schiffe gewähren: Auf die Olympic und Titanic.
Nachdem sie einen minutenlangen Fußmarsch bewältigt hatten, erreichten sie das North-Yard, dort wo die Helgen der Schwesterschiffe eingerichtet wurden. Der Weg dorthin war unübersehbar. Sie mussten nur dem gigantischen Portalkran folgen, dieser siebzig Meter in die Höhe ragte und zudem von riesigen Bodenscheinwerfern beleuchtet wurde. Der Krach, welcher die dröhnenden Kräne und die hydraulischen Nietmaschinen verursachten, übertönte sogar das Hämmern auf blankem Stahl. Charles hielt verbissen seine Ohren zu, als sie unmittelbar vor dem Portalgerüst standen.
„Sag mal, kannst du mir eine Micky Maus besorgen? Der Krach ist ja nicht zum Aushalten!“, meckerte Charles.
„Micky Maus?“, fragte Ike verwundert. „Ach so, du meinst ein Gehörschutz. Nein, Onkel Charles. Stopf dir Watte in die Ohren, wie alle anderen auch. Ein Gehörschutz wurde noch nicht erfunden, schließlich leben wir erst im Jahre 1909. Ebenso gibt es noch keine Micky Maus. Walt Disney ist zurzeit erst acht Jahre alt. Also, halt die Klappe und erwähne nie wieder vor dem Jahr 1928 die Micky Maus!“, ermahnte Ike ihn.
In schwindelnder Höhe bewegten 16 Kräne im Portalgerüst ihre tonnenschweren Lasten umher. Vor ihren Augen offenbarte sich das chaotische Panorama der Baustelle. Unzählige Paletten mit Holz und Eisenmaterial gestapelt, standen reihenweise verstreut vor dem gewaltigen Stahlgerüst herum. Pferde zogen ihre Fuhrwägen mit Steinkohle bepackt zu den Dampfmaschinen. Glühende Schweißfunken sprühten aus allen Höhenlagen hervor. Die Gestalt der Olympic war bereits trotz der frühen Bauphase sichtlich erkennbar. Deutlich stach das gigantische Spantengerüst des Schiffes hervor und erinnerte etwas an das Gerippe eines monströsen Blauwals. Direkt links die Helling daneben, auf einer Stahlstrebe des Portalgerüstes, haftete ein schwarzes Schild mit weißer Aufschrift:
White Star Line
Royal Mail Steamer
“ TITANIC “
Der 269 Meter lange Kiel lag bereits fertig auf der Helling. Zurzeit waren lediglich einige Heckspanten sowie der Achtersteven von der Titanic vernietet worden, doch allein der Anblick dieser unfertigen Spantenkonstruktionen ließ vermuten, welcher gigantische Ozeanriese geboren wird.
Ike hatte schon jede Werkstatt auf Queens Island besucht. Da glich eine Werkstatt beinahe wie die andere. Allesamt waren es breite Hallen, bestückt mit zahlreichen Fenstern und sogar die hohen gewölbten Decken waren teilweise verglast, um das Tageslicht zu nutzen. An den Stahlträgern hingen dutzende Lampenschirme herunter. Sobald sich die Möglichkeit ergab und die Zeit es zuließ, schaute Ike bei dem kürzlich erkorenen Vorarbeiter der Maschinenbauer und seinem Freund Matthew Kelly vorbei, oder er besuchte Vorarbeiter Sam Brady, der die Malerwerkstatt unter seine Fittiche hatte.
O'Sullivans Schlosserwerkstatt betrat Ike dagegen selten und eigentlich nur dann, wenn ihm absolut langweilig war und die Anderen gerade in diesem Moment wiedermal dem Stress ausgeliefert waren und keine Zeit für einen Plausch aufbrachten, denn der vierzigjährige Jayden O'Sullivan begegnete ihm ständig fachsimpelnd und wirkte auf ihn maßlos konservativ, was Ike nach einer Weile meist ermüdete. Trotzdem war auch er, wie alle anderen Vorarbeiter, unschlagbar in seinem Fach und insbesondere Jayden O'Sullivan war imstande, eine simple acht Millimeter Messingschraube stundenlang zu interpretieren. Selbst mit dem Elektrikervorarbeiter Patrick J. Buckley, der mit seinem Team für die Olympic zuständig war, verstand er sich mittlerweile prächtig, aber dennoch mied er es, seine Werkstatt zu betreten.
Carl Clark war der Grund, denn mehrere Teams nutzten die geräumigen Hallenwerkstätten gemeinsam. Und wie es in solch einem großen Unternehmen nun mal schon seit Gedenken her üblich war, kristallisiert sich in der Arbeitswelt irgendwann immer ein Boss heraus, selbst wenn dieser niemals vom Arbeitgeber dazu auserkoren wurde. Ein Boss, der davon überzeugt ist: Ich weiß alles und du kannst nichts!
Ike genoss ebenfalls dieses vom Arbeitgeber unbestätigtes Privileg, der absoluten Herrschaft über “seine“ Werkstatt, seitdem er am besagten feuchtfröhlichen Abend im Nelson`s Pup dem Schreinervorarbeiter der Olympic seine Faust auf die Nase gedrückt hatte. Jedoch schien Carl Clark ein ganz anderes Kaliber von einem Mann zu sein, der es nicht nötig hatte, seine Fäuste zu schwingen, um letztlich Respekt zu ernten. Mr. Clark war äußerst schlagfertig, machte einen furchtlosen Eindruck und erreichte stets seinen Willen. Seine Arbeiter bangten täglich um ihren Job und unterlief ihnen nur ein einziger Fehler, strich er gnadenlos ihre Arbeitsstunden und verbuchte sie zugunsten der Firma. Selbst organisatorische Fehler anderer Vorarbeiter meldete er unverzüglich der Hauptverwaltung und setzte sich persönlich dafür ein, wenn er dieses Missgeschick für unverzeihlich hielt.
Mr. Carl Clark machte sich an jenem Tag unabkömmlich, als plötzlich die Generatoren des firmeneigenen Kraftwerkes versagten. Niemanden gelang es damals, die Stromversorgung wieder schnellstmöglich herzustellen. Clark dagegen benötigte dazu nicht einmal eine Stunde und schaffte das komplizierte Problem aus der Welt, noch bevor die Speicherkapazität der Notstromaggregate ebenfalls erschöpften und ganz Queens Island endgültig im Dunkeln gestanden hätte. Dabei hatte er weder die Ärmel seines weißen Hemdes hochgekrempelt, noch hatte er überhaupt sein Sakko abgelegt. Carl Clark hatte keinen Finger gerührt, sondern seine Arbeiter dirigiert und ihnen Anweisungen erteilt, was sie zu tun hatten.
Ike öffnete die Tür zur Elektrikerwerkstatt. Eine ungewohnte Stille herrschte, bis auf die stetigen Arbeitsgeräusche. Niemand lachte, niemand sang ein Lied und keiner wagte sich plötzlich auf einen der unzähligen Tische zu stellen, um einen schmutzigen Witz hinauszuposaunen, woraufhin schallendes Gelächter ertönte, so wie es in allen anderen Werkshallen eigentlich üblich war. Denn in dieser Werkstatt herrschte erbarmungslose Zucht und Ordnung.
Ike hob seine Hand und begrüßte den Vorarbeiter Patrick J. Buckley, der gerade mit ein paar Elektrikern meterlanges Kabel von einer mannshohen Trommel streifte und es maßgerecht abschnitt.
Carl Clark war nicht zu übersehen. Der schlaksige Mann stolzierte langsam mit verschränkten Händen hinter seinen Rücken zwischen den angereihten Tischen umher, und schaute seinen sitzenden Leuten prüfend über die Schultern. Er überwachte dabei sogar die Männer aus anderen Teams, obwohl diese gar nicht seiner Verantwortung unterlagen.
Seine Garderobe wählte der bekennende Protestant stets in Schwarz aus. Nur sein Hemd war weiß; darüber trug er eine schwarze Oberweste, ein schwarzes Jackett sowie eine schwarze Bundfaltenhose, und selbstverständlich fehlte niemals der schwarze Bowler auf seinem Haupt. Seine schwarze Krawatte war ebenfalls stets akkurat geknüpft. Böse Zungen verglichen ihn mit einem Totengräber aber sein Kosename Mistsau, war geläufiger und insbesondere bei den Lehrlingen sehr beliebt. Ein Fremder, der Carl Clark unvoreingenommen kennenlernte, würde ihn wahrscheinlich sofort für sympathisch urteilen, weil er den Anschein machte, er würde ständig lächeln. Vielleicht war es bloß seine Masche, stetig mit gekniffenen Augen lächelnd umherzulaufen, um seinen Gegenüberstehenden Freundlichkeit vorzuheucheln. Aber vielleicht bewirkte auch nur sein buschiger Schnauzbart, dessen dünne Haarenden hochgezwirbelt waren, für diese scheinheilige Heiterkeit. Jedenfalls wirkte der Vierundsechzigjährige mit den dunklen schulterlangen fransigen Haaren, aufgrund seiner beachtlichen Körpergröße und selbstsicheren Auftretens, respekteinflößend, zumal er stets lautstarke Befehle erteilte.
Zielstrebig ging Ike auf Mr. Clark zu. Sein Blick war starr und innerlich war er angespannt. Ein Gespräch mit dem Elektrikervorarbeiter empfand Ike immer als unangenehm. Schließlich war Carl Clark bislang die einzige Person, die ihm wirklich Probleme eingehandelt hatte. Eine Schlichtung war da immer noch nicht in Sicht. In seinen Händen hielt Ike Charles schriftlichen Einstellungsbescheid.
„Guten Morgen, Carl. Ich darf dir deinen neuen Mann vorstellen: Mister Charles Owen“, begrüßte Ike ihn mit einem ruhigen Unterton.
Regungslos überschaute Carl Clark das beglaubigte Schreiben der Hauptverwaltung. Nach sekundenlanger Stille, die ihm Carl entgegen brachte, verabschiedete sich Ike einfach, indem er ihm erneut einen schönen Tag und ein frohes Weihnachtsfest wünschte, wobei er gleichzeitig leicht auf Charles Rücken klopfte und ihm kurz zuzwinkerte.
„Tu einfach nur das, was Mister Clark von dir verlangt. Ohne Widerworte. Dann wird das mit euch beiden schon werden“, flüsterte Ike zuversichtlich in sein Ohr und boxte ihm leicht gegen seinen Oberarm. Charles dagegen erwiderte mürrisch und grummelte etwas Unverständliches.
Mr. Carl Clark reagierte nicht auf Ikes Freundlichkeit, sondern ignorierte ihn und studierte weiterhin das Schreibstück. Jedoch als Ike sich gerade abgewandt hatte und zielstrebig der Ausgangstür entgegen lief, bekam er Carls gewohnte Ironie zu spüren.
„Mister Owen soll also in der Tat dein leiblicher Onkel sein, Mister van Broek? Na dann behaupte ich schlichtweg, der Weihnachtsmann ist mein Großvater.“
Clark ließ den Einstellungsbescheid einfach aus seinen Händen gleiten und blickte Ike mit hochgezogenen Augenbrauen hinterher. Ike blieb stehen, sein Blick verfinsterte sich. Charles, der neben Carl Clark stand, schluckte und wünschte sich in diesem Moment insgeheim, dass er bei Ike in der Schreinerwerkstatt arbeiten dürfte. Mit diesem Mann war scheinbar wirklich nicht zu spaßen, so wie es Aaron behauptet hatte.
„Ich wüsste nicht, was dich meine Familienangelegenheiten angehen, Clark. Dir habe ich bestimmt keine Rechenschaft abzulegen. Nimm diesen Bescheid hin und unterstehe dich, meinen Onkel irgendwie zu schikanieren. Ansonsten sehen wir uns im Büro von Mister Andrews wieder. Diesmal wird es aber so sein, dass ich dich kritisieren werde. Noch habe ich mich zurückgehalten, doch jetzt ist das Maß endgültig voll!“, ermahnte er ihn zähnefletschend, ohne ihm dabei eines Blickes zu würdigen. Ike ging weiter zügig zur Ausgangstür aber blieb erneut stehen, weil Carl provozierend konterte.
„Gewiss, mir bist du keine Rechenschaft schuldig, jedoch der Hauptverwaltung, bevor meine Bedenken die höheren Stufen erreichen. Damit meine ich Mister Lord Pirrie. Es ist nichts persönliches, Mister van Broek“, sprach er überschwänglich. „Nur verstehe, ich bin besorgt. Ich bin sogar ausgesprochen besorgt. Was soll nur aus meinem Land werden, welches ich abgöttisch liebe, wenn es jedem dahergelaufenen Ausländer gelingt, angebliche Familienangehörige, ohne weitere Hinterfragungen sich einzunisten? Miese Ausländer stehlen ehrlichen, irischen Familienvätern ihren Arbeitsplatz. Da kann ich doch unmöglich drüber hinwegsehen, Mister van Broek. Wo soll das bloß hinführen?“
Ike drehte sich ihm wutschäumend entgegen, versuchte aber besonnen zu bleiben.
„Worauf willst du eigentlich hinaus? Was soll das schon wieder?“, fragte Ike gelangweilt.
„Es ist eigenartig, dass du und dein Vater waschechte Holländer seid, der Bruder deines Vater dagegen aber angeblich gebürtig aus Dublin stammt. Dies halte ich persönlich für erklärungsbedürftig. Es wäre doch ein Jammer, wenn es sich hier um einen Betrug handelt, der ausgerechnet von Mister Andrews Liebling ausgeht“, lächelte Carl.
Ike erwiderte einen Augenblick seinen gekniffenen Augen und überheblich wirkendem Grinsen.
„Mister Charles Owen ist der Bruder meiner Mutter. Meine Mutter ist eine Irin“, konterte Ike mit kräftiger Stimme.
Die Fensterscheiben erzitterten, als Ike die Tür hinter sich wuchtig zuschlug. Alle Arbeiter tätigten stumm ihre Arbeit, dennoch hatten sie diese brisante Diskussion genauestens mitverfolgt. Erneut hatte der Vorarbeiter Carl Clark ihm vor Augen gelegt, dass dieser scharfsinniger als alle anderen Akteure ist und offenbar etwas Ungereimtes witterte.
Carl Clark führte seinen etwas schüchtern wirkenden neuen Mann zu einem der langen Tische, auf dem unzählige Glühbirnenfassungen, Kabelstrenge, Glasgehäuse und Millionen von Schräubchen herumlagen. Die am Tisch sitzenden Arbeiter beschleunigten plötzlich ihr Arbeitstempo, als der schlaksige Vorarbeiter sich ihnen näherte. Mit einer dezenten Kopfbewegung gab ihm Mr. Clark wortlos zu verstehen, dass Charles Platz zu nehmen hätte und Lampenfassungen vorinstallieren sollte. Charles zuckte mit der Backe.
Die Stimmung an diesen, wie auch an den anderen Tischen, war bedrückend. Konzentriert verbanden die Männer die Kabelstücke mit den Lichterfassungen.
„Was für eine beschissene Bastelstunde“, nuschelte Charles vor sich hin. „Und die ganzen Funzeln sind in der Tat alleine nur für die Titanic?“, fragte er in die stille Runde, worauf einer der Elektrikergeselle sachte nickte. „Hmm, beinahe …“, brummelte dieser. „Wir montieren jetzt nur die beleuchtenden Wegweiser für die Korridore der Titanic.“
Charles blickte vorsichtig umher und stellte fest, dass zeitgleich jede Tischreihe dieselbe Arbeit verrichtete. Nun wurde ihm allmählich bewusst, welches gigantische Ausmaß dieses Schiff einmal erlangen wird. Plötzlich bemerkte er, dass Carl Clark ihn offensichtlich beobachtete. Sein buschiger gezwirbelter Schnauzer weckte den Eindruck, er grinse ihn freundlich an. Ein unwohles Gefühl überkam ihn.
„Verdammt. Worauf habe ich mich da bloß eingelassen“, murmelte Charles missmutig vor sich hin. „Wäre ich doch nur in United Europe geblieben“, seufzte er, krempelte seine Ärmel hoch und begann zu montieren.
Als Anne die Bettwäsche vor dem geöffneten Fenster ihrer Schlafstube ausschüttelte, klopfte es zaghaft an der Türe. Sie schmunzelte.
„Komm ruhig herein, Eloise.“
Justin tollte grad im Hof mit dem Hund herum, nahm einen Stock, warf diesen fort und Laika flitzte hinterher. Als sie Eloise erblickte, entwich ihr ein erstauntes Seufzen. Sie trug das neue hellgrüne Kleid mit den weißen Punkten, welches ihr Ike zu Weihnachten geschenkt hatte. Ihr kupferrotes, langes Haar glänzte. Anne war verblüfft. Vor ihr stand nicht mehr das unscheinbare Mädchen vom Land, sondern eine feine Dame, die selbst einen Mann von Welt zu entzücken vermochte.
„Eloise, du bist ja kaum wiederzuerkennen. Das Kleid steht dir ausgezeichnet“, sagte sie überrascht.
Eloise drehte sich freudig im Kreis herum.
„Es ist wahr. Ich finde es auch verflixt himmlisch. Ich liebe doch Grün. Ich hatte es mir schon so lange gewünscht aber als wir damals in der Boutique waren und ich das Preisschild erblickt hatte, legte ich es sofort wieder zurück. Es war doch viel zu teuer. Jetzt hab ich es von Ike zu Weihnachten geschenkt bekommen. So ein verrückter Kerl aber auch“, kicherte sie.
Plötzlich entschwand ihre Heiterkeit. Eloise setzte sich auf einen Schemel und blickte schüchtern umher. Anne bemerkte, dass sie bedrückt war.
„Hast du etwas auf dem Herzen? Du wirkst so bekümmert“, hakte Anne behutsam nach.
Eloise schluckte und starrte zu Boden.
„Anne, ich glaube mit mir stimmt etwas nicht“, bekundete sie mit dünner Stimme.
Anne schüttelte das Kopfkissen aus und legte es auf die Bettdecke, die zum Lüften über der Fensterbank lag. Sie blickte Eloise besorgt an.
„Was hast du denn? Bist du etwa krank?“
Eloise zuckte ahnungslos mit der Schulter, bevor sie nach angemessenen Wörtern rang.
„Nun ja, es ist so … Ike und ich sind nun schon so lange ein Paar und immer wenn wir gemeinsam … Also, wenn wir zusammen … Ähm, also, wenn er und ich … Na du weißt schon … “, stammelte sie.
Eloise nickte stetig mit dem Kopf, ruderte mit ihren Händen und blickte Anne verzweifelt an in der Hoffnung, sie würde schon verstehen, wovon sie sprach. Anne jedoch erwiderte lediglich verdutzt, also versuchte Eloise ihr es erneut begreiflich zu machen und streichelte sanft über ihren schlanken Bauch.
„Tja, also … Wenn wir, Ike und ich es machen, du weißt schon was … Ja dann-dann passiert nichts. Verstehst du? Es-es passiert einfach nichts. Und das verstehe ich nicht!“
Anne atmete erleichtert auf und ein Schmunzeln fuhr über ihren Mund.
„Ach so, jetzt verstehe ich. Du meinst also, wenn ihr beide miteinander Sex habt“, entgegnete sie ihr nüchtern, woraufhin Eloise prompt errötete und wieder beschämt nach unten schaute. Sie nickte bedrückt.
„Anne, ich versteh das nicht“, klagte sie, sprang vom Schemel auf und stürzte sich in ihre Arme. Anne stockte der Atem, als sie bitterlich zu weinen begann.
„Ich müsste doch schon längst schwanger sein!“
Eloise blickte ihr verzweifelt in die Augen. Tränen rannen ihr über die Wangen.
„Dabei lege ich es sogar immer darauf an und verführe ihn erst recht, wenn meine fruchtbaren Tage gekommen sind. Wenn ich ein Baby bekäme, würde er mich sicherlich sofort heiraten. Ganz bestimmt sogar, aber ich bin offensichtlich unfruchtbar und werde niemals Kinder gebären. Ich bin unfruchtbar und Ike wird mich deshalb niemals heiraten und mich eines Tages sogar verlassen!“, heulte sie jämmerlich.
Während Eloise bitterliche Tränen weinte und sie ihre angebliche Zeugungsunfähigkeit betrauerte, versuchte Anne sie einfühlsam davon zu überzeugen, dass dem höchstwahrscheinlich gar nicht so ist. Weil sie es besser wusste.
„Eloise, ich bin davon überzeugt, dass du sehr wohl Babys gebären kannst, aber Ike ist möglicherweise zeugungsunfähig. Nicht du, du ganz bestimmt nicht. Außerdem sollte ein gemeinsames Kind nicht der Beweggrund einer zukünftigen Ehe …“
Noch bevor es Anne gelang, ihre Rede zu beenden, befreite sich Eloise abrupt aus ihrer sanften Umarmung, wischte sich schluchzend die Wangen trocken und blickte sie empört an.
„Ein Mann soll in der Tat keine Kinder zeugen können? Welchen Unsinn versuchst du mir da aufzutischen? Glaubst du etwa, nur weil ich erst zwanzig bin, kannst du mir einen weismachen und ich würde dir alles anstandslos glauben?“
Eloise stolzierte beleidigt zur Tür.
„Anne, du hast mich maßlos enttäuscht! Diese Angelegenheit liegt mir sehr am Herzen und ich dachte, in dir eine aufrichtige Freundin gefunden zu haben. Ich habe mich offensichtlich in dir getäuscht. Das verzeihe ich dir nie!“, brüllte sie und schlug wutentbrannt die Tür zu.
Anne schloss ihre Augen und neigte verzweifelt ihren Kopf. Hätte diese Unterredung doch niemals stattgefunden. Nun befürchtete sie, dass Eloise diese in ihren Augen unglaubliche Behauptung, Ike wäre zeugungsunfähig, sofort zu mitteilen und er wiederum würde sie zurechtweisen. Anne mochte nicht darüber nachdenken, falls Ike gar einen Vertragsbruch wittern und sie wieder in das 25. Jahrhundert beordern würde. Möglicherweise könnte er es so auffassen: Anne hätte auf eine Zukunftstechnik angespielt, was strikt gegen die Vorschriften sprach. Ihr Sohn Justin entwickelte sich doch ohne jeglichen Computer prächtig, nur seinetwegen hatte sie ihr vorheriges Leben geopfert und einen Neuanfang in der vergangenen Welt gewagt. Angst überschattete sie nun.
Der Mikrochip, was jedem Zeitreisenden unter die Haut transplantiert wurde, damit ein Transfer in die Vergangenheit erst ermöglicht wird, verhinderte zudem die Fruchtbarkeit einer Person, so lange diese sich auf einer Zeitreise befand. Falls die Auswanderer sich nach dem Probejahr bewähren würden, ihre Zukunft in der Vergangenheit unwiderruflich zu verbringen, würde dieser Mikrochip wieder deaktiviert werden und der Fortpflanzung stünde nichts mehr im Wege. Nur wenn Ikes Mikrochip deaktiviert werden würde, könnte Eloise auch schwanger werden. Dies hatte den Zweck, damit hauptsächlich die Schleuser keine Kinder zeugen und sie sich somit an die vergangene Welt binden. Die Mission hatte stets oberste Priorität. Anne setzte sich auf ihr Bett, blickte betrüb zum Boden und befürchtete nun, dass Ike sie demnächst unter vier Auge zu sprechen wünschen wird. |
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11.12.2024 - 10:40:55 |
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