... für Leser und Schreiber.  

Winter

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©  Kess   
   
Sie saß an der Bushaltestelle, sah auf ihre Füße, lauschte dem Regen, der auf das Wartehäuschen trommelt. Der Morgen war kalt, die Hände musste man schon in den Taschen vergraben, damit sie warm blieben. Der Herbst war früh gekommen. Der Nebel. Der Regen. Die Nächte dehnten sich aus. Sie lauschte dem Regen und wartete. Es war still.
Wenn die den Blick hob, sah sie über den glänzend nassen Asphalt der Landstraße hinweg, über die Felder. Braun zog sich dort Furche an Furche: Winterkartoffeln würden gepflanzt werden.
Krähengekrächz kam aus Wipfel einer zerzausten Buche. Windkahle Äste reckten sich in die Höhe. Starr. Ihr schien es: Vor Kälte.
Flucht vor diesem kalten, kahlen Land, über das der Wind pfiff. Flucht vor sich selbst, vor den eintönig braunen Feldern und der fetten, fruchtbaren Erde, braun aufgeworfen, die sie alle hier hielt und an sich band. Auch vor den Kühen, deren Tagesrhythmus die Welt zu bestimmen schien, wenn man hier draußen lebte. Flucht in die Stadt.
Der Bus kam, man sah ihn von weitem, wie er über die lange gewundene Straße über das flache Land herankroch zwischen den Feldern und kahlen Alleebäumen hindurch. Unaufhaltsam, schneckenlangsam. Regen zischte unter dem Gummi der Reifen. Heiße Luft schlug ihr entgegen. Der Bus war leer, als sie einstieg.
Ein Platz am Fenster; noch einmal die braunen Felder unter dem grauen Regenhimmel, die aufgeworfene Erde. Es noch einmal sehen, um ganz tief in sich zu spüren, warum man fort musste, wohin es einen trieb. Wenn sie hinaussah, dann kamen die Erinnerungen in ihr hoch,Kindheitserinnerungen.
Das Schwimmen im See, die Schlittenfahrten mit dem großen Brauen im Winter. Der Klee im Mai, wenn er fett auf den Wiesen stand. Der Geruch der Kühe und das Geräusch, wenn sie mit ihren breiten dicken Zungen das Gras rupften.
Lass mich das alles vergessen, bat sie im Stillen. Schnell, so schnell wie möglich. Sie war dem allen überdrüssig.
Das stille kleine Dorf lag hinter ihr; sie konnte es getrost der Vergangenheit überlassen.
Sie lehnte den Kopf an die Scheibe, schloss die Augen, schlief ein, träumte.
 

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