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Der Mückenstich

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©  Majissa   
   
Es geschah im Mai 1999 und Stavros, der Witwer, hatte seinen 75. Geburtstag, als sich meine kunstvolle Hochsteckfrisur im Reißverschluß seiner dunkelblauen Ausgehhose verfing. Wie bei jedem traumatischen Erlebnis steht mir jede Einzelheit des katastrophalen Ereignisses mit glasklarer Präsenz vor Augen: Die fette Mücke, die auf meinem linken Fuß Position bezog, um ihren blutrünstigen Rüssel in meinen Fleisch zu versenken, die Versammlung der kretischen Kinder auf der Bühne der kleinen Schulaula von Ano Viannos, das Durcheinandergeschreie der aufgeregten Eltern, die sich um die besten Plätze stritten und schließlich Stavros warmes Lächeln, sein mir zugewandtes Gesicht. Als das Licht im Saal erlosch und der Kameramann, der sein Equipment direkt neben uns aufgebaut hatte, sein Augenmerk auf die Lehrerin, Frau Raptakis richtete, die das Theaterstück “Alle Völker werden eins” mit ein paar einleitenden Worten eröffnete, stach die Mücke zu.
“...so verneigen wir nun in freudiger Erwartung unser Haupt...”
sprach Frau Raptakis und ich tat wie mir geheißen, indem ich mich hinabbeugte, um das Insekt mit einem gezielten Schlag auf den Kopf zu erledigen. Mein Psychoanalytiker überzeugte mich später und unter großen verbalen Anstrengungen davon, daß die Mücke nicht zu Gefühlen wie Schadenfreude fähig ist. Noch heute meine ich aber, ein vergnügtes Aufblitzen in den Tiefen ihrer Facettenaugen erkannt zu haben, als mein Schlag sie verfehlte und mein Haar beim Aufrichten auf halber Höhe mit Stavros Reißverschluß eine bombenfeste Verbindung einging. Es lag wohl an der Dunkelheit und dem geringen Gewicht meiner verfangenen Haarpracht, daß Stavros nicht sofort bemerkte, was sich unmittelbar unter seinem Hosenbund abspielte. Mein erster Versuch mich zu befreien, ging unter dem tosenden Applaus der Menge unter. In die darauffolgende Stille trat die kleine Maria auf die Bühne. Zwischen dem kleinen Spalt der vorderen Stuhllehnen hindurch konnte ich beobachten, wie das Mädchen verzweifelt seinen Mund öffnete und schloß, um ein kretisches Gedicht vorzutragen, doch es brachte keinen einzigen Ton hervor. Als Maria völlig verängstigt in Tränen ausbrach und von der Bühne floh, räusperte Stravros sich lautstark und murmelte:
“Das arme Ding, wie schrecklich!”
“Glaub mir, Stavros, wenn du nur kurz nach unten schaust, wirst du sehen, daß es viel Schrecklicheres gibt”,
entgegnete ich ihm aus der Höhe seines Schoßes. Als Stavros Augen hinabblickten und die Größe von Mühlrädern annahmen, wußte ich, daß er das ganze Ausmaß der Katastrophe auf einen Blick erkannt hatte.
“Was machst du denn da, Kindchen?”
flüsterte er erschrocken und schaute mit wildem Blick um sich.
“Ich bewundere nur deine Bundfalte aus der Nähe, Stavros. Befrei mich um Himmels willen, mein Haar hängt in deinem Reißverschluß fest. Oh je, ist das peinlich!”
wisperte ich und wünschte mir einen schnellen Tod. Stavros Sitznachbar, ein Kreter im mittleren Alter mit enormen Augenbrauen, hatte längst das Interesse am Theaterstück verloren und grinste mich schmierig von oben herab an. Hektisch begann Stavros, erst an meiner Hochsteckfrisur und dann an seiner Hose zu zerren. Es tat sich gar nichts. Als die Menge applaudierte, nutzte ich den Lärm und sprach im Befehlston die Worte aus, die der alte Mann das letzte Mal in seinem Leben aus dem Mund einer jungen Frau hören würde:
“Öffne deinen Reißverschluß, sonst werde ich verrückt!”
Auf der Bühne sangen die zwei pummeligen Fragonikolaki-Geschwisterchen das Lied der Völkerverständigung:
“...kommt zusammen jung und alt...!
Viele der Eltern brachen in ungehemmtes Schluchzen aus.
“Oh, nein!”
stöhnte Stavros und wechselte die Gesichtsfarbe.
“Das werde ich ganz bestimmt nicht tun, Kindchen. Meine liebe Frau wird sich im Grabe herumdrehen.”
“Wir werden deiner lieben Frau bald Gesellschaft leisten, wenn das Licht angeht und sie uns hier so sehen. Also hör auf zu reden und mach endlich die verfluchte Hose auf, bevor die Pause beginnt”,
zischte ich zornig zurück. Der Kreter mit den buschigen Augenbrauen grinste breit und bekam große Augen, als Stavros zögerlich den Reißverschluß seiner Ausgehhose öffnete. Er stieß ein lautes “παναγία μου!” (Heilige Mutter Gottes!) hervor und zog die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf uns. Der Kameramann machte geistesgegenwärtig einen schnellen Schwenk und filmte uns aus der Totalen, um das Ereignis für die Nachwelt zu bewahren. Das Lied der Völkerannäherung verstummte jäh und in der Aula entstand eine ungesunde Unruhe. Irgendwann konnte ich mich aus Stavros Schoß befreien und richtete mich erschöpft aber erleichtert auf. Nicht alle Mütter zeigten mit dem spitzen Finger auf mich. Manche verließen einfach erzürnt den Saal. Andere wiederum spuckten Olivenkerne auf mein Kleid. Wir genossen uneingeschränkte Aufmerksamkeit und verschwanden erst nach 2 Wochen aus der Gesellschaftsspalte der Regionalpresse. Stavros leistete in allen Kapellen der Umgebung Abbitte und spendete dem Verein der schönen Künste Unsummen für die Förderung talentierter Nachwuchsschauspieler. Später erfuhr ich, daß er Kreta verlassen und nun in Saudi Arabien an einem kleinen Marktstand luftige, handgestickte Herren-Kaftane ohne Reißverschlüsse verkauft. Dank der plastischen Gesichtschirurgie erholte ich mich relativ schnell von der gesellschaftlichen Hetzjagd auf meine Person und trage mein Haar unverfänglich kurz.
 

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