... für Leser und Schreiber.  

Spießeridyll

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© Christian Dolle   
   
Die Wohnsiedlung war in den achtziger Jahren gebaut worden, im Norden der Stadt, fernab der hektischen Innenstadt, der lauten Umgehungsstraße und des miefigen Industriegebietes. Sie umfasste vier Straßen mit breiten Bürgersteigen, niedrigen Maschendrahtzäunen oder Hecken, alle mit einem gepflegten Garten und einem schicken Einfamilienhaus dahinter. In den Fenstern gab es meist Blümchengardinen, in den Garagen meist eine Mittelklasselimousine oder einen Kombi und in den Gärten frisch geharkte Beete und oft sogar Gartenzwerge. Die Bewohner der Siedlung waren meist Mitte vierzig, waren Beamte oder Angestellte, hatten ein oder zwei Kinder und wahlweise einen Hund oder zwei Katzen. Jeden Morgen gingen die Männer um acht aus dem Haus, grüßten kurz den Nachbarn, schlossen die Garage auf und fuhren dann zu ihrer jeweiligen Arbeitsstelle, um dann nach Feierabend wiederzukommen. Manche nahmen ihre Kinder mit und setzten sie eben an der Schule ab, bei anderen erledigte das die Frau mit dem Zweitwagen, um dann gleich noch mit zum Einkaufen zu fahren. Dort traf man dann immer einige Nachbarinnen, mit denen man über die, die man eben nicht traf, tratschte, doch spätestens wenn die Kinder aus der Schule kamen, waren sie alle wieder zu Hause und hatten etwas zu essen auf den Tisch gebracht. So oder so ähnlich lief das eigentlich jeden Tag ab, außer natürlich am Wochenende, denn am Samstag fuhr man den Wagen in die Waschanlage und später gegebenenfalls die Kinder zu einer Party, ins Kino oder in die Disco, und am Sonntag konnte man die meisten Anwohner nachmittags bei der Gartenarbeit beobachten. Ansonsten kannte hier jeder jeden, später Zugezogene gab es nur wenige, und viel Aufregendes passierte eigentlich auch nicht. Aber das war ja auch gut so, denn die meisten, die hier lebten, waren froh über die Ruhe und Ordnung und hassten es, wenn etwas Unvorhergesehens geschah.

Horst und Marion Brandmann wohnten schon seit etlichen Jahren in dem Haus gegenüber dem unsrigen und gaben wenig Anlass für Klatsch und Tratsch, er arbeitete bei der Post, sie war Hausfrau und Mutter zweier Kinder, die ganz normale Durchschnittsfamilie also. Zumindest dachten wir und alle anderen Nachbarn das immer, denn die Brandmanns fielen nicht auf, nur manchmal traf ich Marion Brandmann beim Einkaufen, doch selbst dann war sie stets kurzangebunden und wir wechselten nicht viele Worte.
So ging das einige Jahre, auch für mich war das Leben in dieser geordneten Umgebung das beste, was ich mir vorstellen konnte, und es wäre auch so geblieben, wenn ich mir nicht irgendwann angewöhnt hätte, jeden Abend vor dem Schlafengehen noch am offenen Küchenfenster eine Zigarette zu rauchen. Ich sah dann aus dem Fenster in den Garten und auf die Straße hinaus und hing meinen Gedanken nach.
Am Anfang war es mir gar nicht aufgefallen, doch eines Abends, meinte ich, im Schatten des gegenüberliegenden Hauses eine Bewegung wahrzunehmen. Ich beugte mich etwas vor und sah genauer hin, konnte aber leider nichts erkennen und gab mich wieder meinen Gedankengängen hin. Am nächsten Abend jedoch, meinte ich wieder, dort im Garten der Brandmanns etwas zu sehen, schaltete das Licht in der Küche aus und beobachtete genauer. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte ich eine Gestalt, und bei noch näherem Hinsehen stellte sie sich als unsere Nachbarin heraus, ebenfalls mit einer Zigarette. Zuerst amüsierte ich mich über diese zufällig gleiche Angewohnheit und überlegte auch, ob ich mich nicht zu ihr stellen sollte, aber je öfter ich sie sah, desto merkwürdiger kam mir ihr Verhalten vor, und ich wollte sie natürlich auch nicht im Dunkeln erschrecken. Also beließ ich es dabei, sie zu beobachten.
Jeden Abend, wenn ihr Mann vor dem Fernseher saß oder schon schlief, stand sie im Schatten der hohen Tanne dort am Zaun, rauchte, zitterte und richtete ihren Blick stumpf vor sich auf den Boden. Manchmal glaubte ich, sie leise weinen zu hören, aber es konnte natürlich auch Einbildung sein.
Als ich sie dann wieder einmal beim Einkaufen traf, sprach ich sie auf unsere gemeinsame Angewohnheit an, doch sie schien zu erschrecken, wich nur meinem Blick aus und erklärte zögerlich und in einem beinahe entschuldigenden Tonfall, sie rauche nur draußen, da ihr Mann den Qualm im Haus nicht mochte. Daraufhin sprach ich sie nicht mehr an, stellte aber fest, dass sie jetzt jedes Mal einen vorsichtigen Blick zu unserem Küchenfenster warf, bevor sie sich die Zigarette anzündete und ließ meinerseits das Fenster geschlossen. Natürlich war ich jetzt neugierig geworden, denn das alles erschien mir ein wenig mysteriös, und so wurde mein Beobachten zu einer ebensolchen Angewohnheit wie das Rauchen. Ich beobachtete Marion Brandmann jeden Abend, und auch, wenn ich sie tagsüber traf, verfolgte ich sie mit einem Blick aus den Augenwinkeln.
Nach und nach erfuhr ich immer mehr über diese Frau, und was ich sah, gefiel mir gar nicht. Eigentlich hätte ich sie nochmals ansprechen sollen, aber ich hatte es ja immerhin versucht, und wenn sie nicht mit mir reden wollte, konnte ich das nicht ändern. Viel zu oft fragte ich mich, ob ich sie nicht auf ihre Narben ansprechen sollte, die mir aufgefallen waren, aber ich ließ es bleiben, so wie alle anderen Nachbarn auch, sah weiter aus sicherer Entfernung zu, wie ihr werter Beamtengatte sie Tag für Tag schlug und tat genau wie alle anderen nichts, was die Ruhe in unserer Siedlung gefährdet hätte.


 

http://www.webstories.cc 28.03.2024 - 17:56:33