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Calanie und QueQue

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©  Majissa   
   
Als unsere Sonja ihren Andrè heiratete, nahmen wir auch Calanie und QueQue mit in unsere Familie auf. Das geschah ganz automatisch, so wie die Beigabe von Proben beim Erwerb eines Parfums. Damals im Eifer der Vorbereitungen für das Fest hatte ich von ihrer Existenz nicht die geringste Ahnung. Am Tag der Hochzeit waren Calanie und QueQue unpässlich, weshalb ich sie erst viel später kennenlernte. Eigentlich besuchte uns Calanie zuerst, was auch ganz gut war, denn im Nachhinein stellte sie für mich gewissermaßen eine Eingewöhnung auf QueQue, ihren größeren Bruder, dar.

Wenn ich an Calanie und QueQue denke, aus der Distanz, kommen mir Begriffe wie „Größe“ und „Anmut“ in den Sinn. Wenn sie in meiner Nähe sind, drängt sich mir ein weiterer Begriff auf, der nicht eher aus meinen Denken verschwindet, bis wieder eine angemessene Distanz entstanden ist: „Furcht.“

Eines Tages, kurz nach der Hochzeit, besuchte uns Calanie zum ersten Mal. Sie sagte nicht viel. Im Grunde gab sie keinen Ton von sich. Stumm stand sie neben dem Sofa und schaute mir unentwegt in die Augen. Ihre Haut war makellos, hatte die Farbe von dunklem Weizen und schimmerte dort, wo sie sich straff über einen Muskel spannte, etwas heller. Ihr Haar war kurz, glatt und glänzend. Auf dem Rückgrat wuchs es in Gegenrichtung, was mich verwirrte weil es die einzige Stelle an Calanies Körper war, die stumpf wirkte.

Calanie stand neben unserem Sofa, wie die Natur sie geschaffen hatte. Nackt, schüchtern und mit traurigen Augen. Seit sie ein Kind war, schlug jeder Versuch, sie in ein Kleidungsstück zu hüllen, fehl. Schließlich gab man auf und ließ sie so, wie sie war. Sie schien sich ihrer Nacktheit nicht zu schämen. Einzig die Scheu vor uns und der fremden Umgebung hinderte sie daran, sofort durch alle Räume zu laufen und die neuen Eindrücke gierig in sich aufzunehmen. Denn das war, sobald sie ihre Angst überwunden hatte, stets ihr vorrangiges Ziel. Seltsamerweise war es nicht Calanies Nacktheit, die mich störte. Die trug sie mit der erstaunlichen Selbstverständlichkeit derer, denen Begriffe wie Scham und Anstößigkeit fremd waren. Was die unaussprechliche Furcht in mir auslöste, war Calanies Größe, die mich zuerst an einen Flaschengeist denken ließ und später an einen gutmütigen Riesen, der wenn nur versehentlich einen Menschen unter seinem mächtigen Fuß zermalmt. Wenn ich an Calanie vorbei mußte, und das geschah oft, weil sie meistens direkt vor der Küchentür stand, hielt ich den Atem an, damit sie meine Angst nicht wahrnahm. Mit klopfendem Herzen stahl ich mich an ihr vorbei. So wie man sich nachts auf dem Heimweg an einer Horde betrunkener Rocker vorbeischleicht, in der Hoffnung, daß man mit der Dunkelheit verschmilzt und unbemerkt bleibt. Dann warte erst, bist du QueQue gesehen hast, verriet mir Sonja und lachte angesichts meiner allzu offensichtlichen Beunruhigung. Mir war bereits damals klar, daß ich QueQue nicht kennenlernen wollte.

Irgendwann und zu meinem großen Bedauern legte Calanie ihre anfängliche Scheu ab. Ich merkte es daran, daß mich ihr bernsteinfarbener Blick neugierig überall hin verfolgte. Auch hielt sie nicht wie bei ihrem ersten Besuch Abstand zu unserem Sofa, sondern sprang mit der Freude eines Kindes in die weichen Kissen. Mir fröstelte bei dem Gedanken, sie könne die von mir streng aufrechterhaltene Distanz plötzlich überwinden und ihren Flaschengeistkörper in meine Richtung bewegen. Genau das geschah aber und wahrscheinlich bin ich selbst daran schuld. Es machte mir nämlich großen Spaß, Calanie anzustarren, ihre Anmut aus der Ferne zu bewundern. Fast alles, was mich ängstigt, fasziniert mich zugleich und Calanie bildete da keine Ausnahme. So kam sie also irgendwann auf mich zu, zuerst zögerlich und dann mit den zielstrebigen Schritten eines Reisenden, der seinen Zug nicht versäumen will. Sich so nähernd, füllte sie bald mein gesamtes Sichtfeld aus, wurde größer und größer, während mein Herz wilde Trommelschläge vollführte. Schließlich blieb sie vor mir stehen in ihrer atemberaubenden Nacktheit und sah mich an. Dann beugte sie ihren Kopf zu mir hinunter und berührte mein Gesicht. Schüchtern und sanft strich sie mit ihrer weizenfarbenen Haut über meine blutleeren Wangen. Starr vor Angst wagte ich weder, mich der Berührung zu entziehen, noch sie zu erwidern. Calanie empfand etwas für mich. Die Art Zuneigung, die nur aus einer lang gewahrten Distanz heraus entsteht.

Einmal sprach ich André auf die Nacktheit von Calanie und QueQue an, und warum er sie nie an Kleidung gewöhnt hatte. Andrè schmunzelte. Fast dachte ich, er wolle mir die Antwort vorenthalten. Nicht, daß es mich gestört hätte, einen nackten Körper zu sehen, insbesondere, wenn er so anmutig und perfekt anzuschauen war wie der von Calanie. Doch André fand mein Frage eigenartig und musterte mich mit belustigten Blicken, bevor er zu einer Erklärung ansetzte. Calanie und QueQue stammen aus Afrika, begann er, und bereits ihre Vorfahren waren, soweit ich weiß, ihr Leben lang nackt. Aufgrund der klimatischen Bedingungen und ihrer hauptsächlichen Beschäftigung mit der Löwenjagd wäre, so schloß er seine Erklärung ab, Kleidung mehr als hinderlich gewesen. Außerdem, fügte er nachdenklich hinzu, leidet QueQue seit geraumer Zeit an lästigen Geschwüren. Den Kontakt mit Stoffen würde er einfach nicht ertragen.

Löwenjagd also, dachte ich entsetzt, als ich eines Tages nach Hause kam und neben Calanie auch zum ersten Mal QueQue auf unserem Sofa vorfand. QueQue machte sofort einen gemütlichen Eindruck auf mich. Eingebettet in ein breites Gesicht lagen gutmütige, aber wachsame Augen. Anders als Calanie, sprang er freundlich zur Begrüßung auf, wollte mich umarmen und als neues Mitglied der Familie willkommen heißen. QueQue war alles andere als schüchtern. Er betrachtete die Welt auf unbefangene Art. Deshalb wunderte er sich über meine eigene Befangenheit, die jedoch nur aus seiner Größe resultierte, die jene von Calanie um einiges übertraf. Wenn er über den Boden schritt, erzitterten die Gläser in den Küchenschränken. Redseliger als seine Schwester, gab er brummend seine Kommentare zum besten, die wie das dumpfe Grollen eines sich tief unter der Erde ankündigenden Erdbebens klangen. QueQues Haut war von einem roten Weizenton, dunkler und rauher als der seiner Schwester. Auch er trug den seltsamen Streifen stumpf wirkender Haare auf dem Rücken, der sich der Wuchsrichtung entgegen, trotzig vom Nacken bis zum Steißbein zog.

Nun hatte ich zwei Flaschengeister zu Gast. Angestachelt vom Temperament ihres Bruders bedachte mich auch Calanie mit liebevoller Aufmerksamkeit. Flankiert von beiden Seiten mit einer Übermacht an Größe und Zärtlichkeit verbrachte ich den Rest des Abends in einer Art Starre und dem ständigen Gedanken an die Löwenjagd in fernen Afrika. Weder nahm ich Calanies Kopf auf meinem Schoß noch QueQues Nase unter meiner Achselhöhle wahr.

Viel später, als ich aus der Angsttrance erwachte und mich meinem Schicksal ergab, wagte ich das erste Mal, Calanie und QueQue zu berühren. Langsam und vorsichtig streichelte ich ihre Köpfe, berührte die samtweiche Haut ihrer Körper und strich mit den Fingern über den seltsamen Streifen falsch wachsender Haare auf dem langen afrikanischen Rückggrat.

Als unsere Sonja ihren Andrè heiratete, nahmen wir Calanie und Queque automatisch in unsere Familie auf. Bald möchte Calanie eine eigene Familie gründen. Wir werden auch ihre Kinder in unsere Familie mit aufnehmen. Vielleicht werden sie nicht ganz so groß wie ihre Mutter. Doch selbst wenn, werde ich den Wunsch nicht los, einen der kleinen Welpen zu mir zu nehmen, seine kleinen Flaschengeistpfoten mit dem Gesicht zu berühren und den stumpfen Rodesian-Ridgeback-Streifen auf dem Rücken aus nächster Nähe zu betrachten.
 

http://www.webstories.cc 05.05.2024 - 11:13:19