... für Leser und Schreiber.  

Schrei der Einsamkeit

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© Ulrich Amann   
   
Obwohl die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, ragte sie nur handbreit über den Horizont. In wenigen Stunden würde sie wieder hinter den Bergen verschwinden, um der schrecklich langen Polarnacht Platz zu machen.
Jetzt aber ließen lange Schatten die kleinsten Erhebungen zur gewaltigsten Wichtigkeit heranwachsen. Im Sonnenlee der Berge herrschte dagegen tiefste Dunkelheit.
Wo die Sonnenstrahlen die unberührte Schneedecke trafen, funkelte und glitzerte ein Meer von Pailletten. Ecken, Kannten, Spitzen, nichts von alledem war zu sehen, der Schnee hatte alles mit einem dicken Schleier verdeckt.
Die Harmonie der Konturen wurde aber mit dem Verlust von Farbe erkauft. Der Winter ist farblos, farblos wie der Tot und wie im Tod die endlose Stille herrscht, so ist die Stille auch Wegbegleiter des Winters.
Im scheinbaren Tod dem Frühjahr harrend, hatte sich die Natur dem Gegner gebeugt. Doch das Leben war gegenwärtig und trotzte dem allen mit eisernem Willen.

Der Mensch atmete schwer und sein Keuchen zerriß die Stille. Die Spur seiner Skier fraß sich in die angefrorene Schneedecke und sein buntes Schneehemd kämpfte gegen die erdrückende Farblosigkeit.
Seit vier Wochen war er nun unterwegs, seit vier Wochen die immer gleichen monotonen Bewegungen, die gleichen Geräusche, Eis, Schnee, endlose Flächen, vereiste Pässe, heimtückische Gletscher. Drei Schneestürme hatte er hinter sich. Der letzte dauerte zwei Tage und zwei Nächte und da spürte er sie das erste Mal.

Der Sturm pfiff nicht, er brüllte, er griff mit eisiger Hand nach dem kleinen Zelt und riß daran. Die Firststange war bereits in der ersten Sturmnacht gebrochen. Für den Menschen war es nicht möglich zu schlafen. Beißende Kälte machte sich in seinem feuchten Schlafsack breit. Das Kondenswasser lief an den Zeltwänden herunter und bildete am Boden kleine Pfützen, die bei jeder Bewegung vom Schlafsack aufgesogen wurden. Seit Stunden hielt er krampfhaft die noch heilen Zeltstangen fest. Der fehlende Schlaf und das schreckliche Getöse fraßen an seinen Nerven. Stechender Schmerz klopfte in seinen Händen. Nach und nach wich die Kraft aus seinen Armen, doch der Sturm peitschte unaufhörlich gegen die Nylonbahn, die das Leben schützte, das es wagte dem Winter die Stirn zu bieten.
Der Mensch hatte Angst, panische Angst und zum ersten Mal erkannte er das Alleinsein.
Die Aussicht alleine sterben zu müssen machte ihn wahnsinnig. Er heulte, er schrie er raufte sich die Haare, da brach das kalte Metal in seinen Händen. Der Sturm riß das Zelt los. Ein Bündel von Schnüren, Stangen und Stoffbahnen fegte über das Eis, Der Mensch war Teil dieses Bündels. Er schleuderte und überschlug sich, er verlor die Orientierung, seine Ausrüstungsgegenstände wirbelten um ihn. Der Gaskocher traf ihn im Gesicht und das warme Blut, das über seine Stirn lief dämpfte die Kälte, die ihn mit eisiger Faust traf, als das Zelt zerriß.

Der schwache Schein der Sterne genügte, um die Umgebung in ein diffuses Licht zu tauchen. Das Nordlicht tat ein übriges. Erwecken ihre seltsamen, unruhigen Schleier allein schon Angst und Faszination in einem, so wirkten ihre Bewegungen zusammen mit der absoluten Lautlosigkeit geradezu bedrohlich. Der Sturm hatte aufgehört, genauso plötzlich wie er begonnen hatte und wie ein Junge, der nach einem Streich vor den strengen Augen seines Lehrers Unschuld mimt, so schien der Winter, als sei nichts geschehen, scheinheilig vertrauenswürdigen Frieden vorzugaukeln.
Er war allein. Ein geschundener Körper im ewigen Eis. Sein Herz schlug, das Blut zirkulierte durch seine Adern, doch es vermochte ihn nicht zu wärmen, nicht so wie es ein gutes Wort vermag, ein lächeln, leuchtende Augen, die Anwesenheit eines Menschen.
Die Einsamkeit ließ ihn erschauern.
Der rote Schein am Horizont kündigte die Sonne an. In ihrem Licht würde der Mensch die Reste seiner Ausrüstung suchen.
Eine zaghafte Bewegung seines Daumens erforderte seine ganze Kraft. Der Schmerz raubte ihm fast das Bewußtsein, aber es war das Zeichen für Leben. Wie durch ein Wunder hatte er in einer Schneewehe überlebt. Ein Teil der Zeltbahn spannte über sein Gesicht und klebte auf der blutverkrusteten Stirn. Spannschnüre hatten sich um seine Füße gewickelt und fesselten seinen linken Arm auf den Rücken. Irgendetwas Hartes drückte auf seine Brust. Der rechte Arm war frei.

Seit diesem Zeitpunkt ließ die Einsamkeit nicht mehr von ihm ab. Sie lauerte auf ihn, hinter jedem Hügel, in jeder Senke, geduckt wie ein Raubtier, zum Sprung bereit. Der Mensch spürte ihre Anwesenheit. Er war wachsam, sein geplagter Körper war voller Spannung, er keuchte unter der Last der Anstrengung. Knirschend bahnten sich seine Skier durch die jungfräuliche Decke des Firns. Angstvoll drehte der Mensch sich um, immer und immer wieder - und sie kam näher. Die Einsamkeit hatte ihn fest im Blick und ließ ihn nicht mehr los. Gleichmäßig, unbeirrbar näherte sie sich ihm, wie ein Aasfresser dem verendenden Tier; geduldig, sich seiner Beute bewußt.
Aber der Mensch war nicht am Ende, er hatte Kraft und ein Ziel. Der Höhenzug war nicht mehr weit. Deutlich zeichnete sich der Paß ab. Kein schwieriger Paß, eher ein Spaziergang, ein sanfter Sattel zwischen zwei Hügeln, hinter denen das Inuitdorf lag, die Rettung! Die Aussicht auf freundliche Gesichter, auf Lachen und menschliche Stimmen trieb ihn an. Trotz der eisigen Kälte schwitzte er. Durch seine Kleidung drang der Schweiß und verdampfte an der Oberfläche, wie nach einem sommerlichen Gewitterregen das Wasser auf einer heißen Vorstadtstraße. Nur noch wenige Meter bis zur Paßhöhe. Gleichmäßig und kontrolliert setzte er einen Fuß vor den Anderen - er war oben. Vor ihm breitete sich das Land aus, ein herrliches Land mit leichten Hügeln und weiten Ebenen, bedeckt von einem im untergehenden Sonnenlicht funkelnden seidenen Tuch. Einem unberührten, makellosen Tuch, das alles Leben erstickte und der Stille den Weg bahnte, der nicht enden wollenden Stille - dem Tod.
Die Einsamkeit schnappte nach ihm, sie zerrte, sie rüttelte an ihm, sie zerriß ihn. Der Mensch wehrte sich nicht, er ließ es mit sich geschehen, der Lauf des Revolvers in seinem Mund war nicht Bedrohung für ihn sonder Erlösung und dann durchströmte ihn Wärme und ein behütendes Licht hüllte ihn ein.

Die Inuitkinder spielten vor dem Versammlungshaus im in der Nacht gefallenen Schnee, als der Schuß das Leben unterbrach. Die Kinder schauten sich an und auch die Erwachsenen waren aus den Baracken gekommen. Der Knall kam oben vom Paß. Er war vom Dorf aus nicht einzusehen, weil ein Felsvorsprung sich zwischen ihn und das Dorf zwängte.
Motorschlitten heulten auf, Hunde kläfften, Menschenstimmen überall. Jeder eilte aus dem Dorf, um den Felsen herum, um auf den Paß blicken zu können.
Er lag eigentlich da wie immer, eine von unberührtem Schnee bedeckte Senke zwischen zwei Hügeln, nur die rote Stelle an seinem höchsten Punkt störte das Gewohnte. Eine kandierte Kirsche auf einem von Puderzucker bestreuten Kuchen.

 

http://www.webstories.cc 18.05.2024 - 12:23:21