... für Leser und Schreiber.  

Ausnahmezustand

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© Stephan Sigg   
   
Das habe ich verdient. Ein paar freie Ferientage. Zeit für mich. Erholung pur. Aber dieses Mal geht es nicht in den Süden, nicht nach Übersee und schon gar nicht in eine überlaufene Touristenmetropole. In diesem Jahr bleibe ich daheim, mache stinklangweilig Urlaub auf Balkonien und finde endlich heraus, wie schön und vielfältig unsere Heimat ist.

Keine E-Mailumleitung, die meinen Computer in den Absturz treibt, kein Handy, das im Urlaubsland seinen Geist aufgibt, kein Gedränge am überfüllten Badestrand, keinen Sonnenbrand, weil der Sonnenschutzfaktor zu niedrig war, kein Anstehen an der Bank, um Geld in eine fremde Währung zu wechseln. Urlaub zu Hause spart Stress, konserviert Nerven.

Ich freue mich immer mehr auf meine Ferientage. Im Gegensatz zu meinen Bekannten werde ich Zeit zum Entspannen finden. Zeit für mich. Erholung pur. Mich nicht über verwöhnte Hotelgäste, quengelnde Kinder am Hotelpool und penetrante Souvenirverkäufer am Strand aufregen, mich mühsam mit Hände und Füsse in einer Fremdsprache verständigen müssen. Warum bin ich nicht schon viel früher auf diese Idee gekommen?

Jetzt stehe ich in meiner Wohnung und starre aus dem Fenster.
Eingepackt im Wollpullover. Die Sonnencreme wartet im Badezimmer auf das Ablaufdatum. Wo ist die Urlaubsstimmung?
Das Telefon steht seit Tagen still. Meine SMS-Einladungen bleiben unbeantwortet. Die Barbecueparty wird in der Bratpfanne gefeiert mit dem Fernseher als Gesellschaft. Alles ausgeflogen. Den Regenschirm spazieren führend schlendere ich an dunklen Ladenlokalen vorbei. Betriebsferien.
Hier herrscht der absolute Ausnahmezustand. Dem Kinoprogramm kann ich nur ein müdes Gähnen entlocken. Sogar die Zeitung ist zu dünn, um damit ein paar Stunden auf dem überdachten Balkon im Liegestuhl zu verbringen.

Ich zähle Regentropfen und lese die Postkarten, die plötzlich in Massen meinen Briefkasten bevölkern, bewundere die ausländischen Briefmarken. „Grüsse aus dem sonnigen...“, „40 Grad im Schatten...“. Ich stöhne auf und bin mir ganz sicher: Nächstes Jahr geht’s ab in den Süden!
 

http://www.webstories.cc 16.05.2024 - 19:34:05