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Back of Bourke

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© Mes Calinum   
   
Sie ging den schmalen Waldweg entlang und blickte sich etwas verwirrt um. Sie fragte sich, ob sie hier vielleicht schon einmal war - wohlmöglich? Vielleicht hatte sie diesen Weg auch irgendwo im TV gesehen. Ausschließen wollte sie diese Vermutung nicht. Und was, wenn sie an diesem Ort noch nie gewesen war?
Der Wald lichtete sich nach wenigen Metern und sie blickte über eine weite Wiese. Das Gras war ausgetrocknet vom Sonnenschein, der Boden staubig. Keine Frage - es war Hochsommer. Einen Moment grübelte sie darüber nach, wie sie überhaupt hierher gekommen war. Den Wagen hatte sie nicht genommen, dass wusste sie. Ein Flugzeug wäre wahrscheinlich die beste Erklärung, aber sie konnte sich auch nicht daran erinnern Tickets gekauft zu haben. Überhaupt wäre ein Schild eine gute Idee - etwas, dass ihr eine Auskunft gab.
Vielleicht wusste der Cowboy genaueres. Sie hatte ihn am Waldrand erblickt; er kniete neben seinem Pferd und kratzte ihm die Hufe aus.
Zielstrebig ging sie auf ihn zu; er würde schon wissen, wo sie hier waren. Wer mit einem Pferd unterwegs war, konnte auch nicht weit von hier leben.
Als sie jedoch sein Gesicht von der Seite erblickte, blieb sie stehen. Ihr Herz machte einen kleinen Sprung und sie verstand, wo sie war und warum sie hier war.
Er sah kurz auf und schenkte ihr ein warmes Lächeln.
"Das ist sie also", sagte sie. "Sie ist wirklich hübsch. Ich habe mich schon gefragt, wann ich euch beide einmal zusammen treffen würde."
Er hob erstaunt die Augenbrauen, dann stand er auf.
"Wie meinst du das? Wir haben uns doch erst heute Morgen gesehen, bevor ich aufgebrochen bin, um die Zäune zu kontrollieren."
"Bist du dir da so sicher?", wollte sie wissen. Man konnte ihm ansehen, wie er angestrengt über diese Frage nachdachte.
"Aber..., aber wir haben uns schon einmal gesehen, ja?", fragte er etwas zögerlich.
Sie strahlte bei diesen Worten regelrecht. "Du kannst dich tatsächlich daran erinnern?"
"Ja, ich denke schon. Wir waren doch zusammen, oder?"
Sie nickte. "Fast immer."
Er fuhr sich mit den Fingern nachdenklich über die Bartstoppeln an seinem Kinn. Dann holte er einen kleinen, zusammengefalteten Zettel aus seiner Tasche und reichte ihn ihr. "Das hast du mir damals aufgeschrieben, nicht wahr?"
Sie nahm ihm den Zettel aus der Hand und faltete ihn auseinander. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie ihre Schrift wieder erkannte.
"Du hast das tatsächlich aufgehoben? Warum?"
Er zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es nicht. Ich glaube an diesem Ort kann man viele Dinge nicht erklären."
"Hast du zufällig auch den Stift dabei?"
"Wenn ich das will, ...vielleicht, ja." Er überreichte ihr einen kleinen schwarzen Kuli. "Was hast du damit vor?"
"Ich schreibe dir jetzt meine Adresse auf. Du kannst den Zettel wiederhaben. Aber bevor du ihn einsteckst, schau ihn dir in Ruhe an."
Er griff nach dem Zettel und musterte die Worte aufmerksam. "Ich weiß nicht, ob ich mir das merken kann", sagte er.
"Schon gut, ich werde nicht böse auf dich sein."
"Hast du eigentlich meine Karte noch?", fragte er.
"Ja, aber ich kann leider immer noch kein Französisch."
"Verstehe, und wie geht es deiner Katze?"
"Sie ist immer noch tot."
"Das tut mir leid", sagte er. "Bin ich daran schuld?"
"Nein, du kannst nichts dafür. Sie war schon tot. Du hast mich nur erschreckt, weil ich dachte, dass dir bei dem Autounfall vielleicht etwas passiert ist."
Er setzte wieder dieses warme Lächeln auf. "Wie du siehst, lebe ich noch."
Sie trat jetzt auf ihn zu und fuhr mit ihrer Hand durch seine kurzen, braunen Haare.
"Diesen Igelschnitt habe ich bei dir schon sehr lange nicht mehr gesehen. Er macht dich jünger."
Er musste über diese Bemerkung unweigerlich lachen. Dann blickte er sie eine Weile an.
In der Ferne hörte man eine Tür im Flur zuschlagen. Beide sahen sich erschrocken um.
"War das bei mir oder bei dir?", wollte sie wissen.
"Vielleicht im Hotel irgendwo. Viel Zeit bleibt uns nicht mehr", bemerkte er.
"Ich weiß." Sie seufzte.
"Tu das nicht, du weißt, dass ich das nicht mag. Wir kriegen das schon hin - irgendwann."
Er nahm sie bei diesen Worten in die Arme und hielt sie fest. Sie schloss dabei die Augen und atmete den Geruch seines Hemdes ein. Es war ein sehr vertrauter, reiner Geruch, der sie beruhigte. Seine Wärme und das Gefühl, das er da war, taten gut.
Ein seltsames Geräusch durchbrach jetzt diesen friedlichen Moment, den die beiden miteinander verbrachten. Es schnitt sich rhythmisch durch die Luft und wurde immer lauter. Fast als würde ein Pianist immer wieder ein Stück in Stakkato auf der tiefen C-Taste spielen.
"Es ist Zeit zu gehen." Er löste die Umarmung. Sie sah ihn flehend an.
"Und wenn wir uns beim nächsten Mal überhaupt nicht mehr erinnern können?", meinte sie.
"Denk nicht daran. Ich habe den Zettel. Frag mich danach. Ich werde ihn immer bei mir tragen."
Er verblasste jetzt zunehmend vor ihren Augen. Sie versuchte nach seiner Hand zu greifen.
"Ich muss dir noch was sagen."
"Ich auch."

Sie schlug die Augen auf und schaltete mit einer schwerfälligen Bewegung den Wecker auf dem Nachttisch aus. Dann betrachtete sie eine Weile die Zimmerdecke und versuchte das Gefühl, das sie aus ihrem Traum mitgebracht hatte, festzuhalten. Schließlich griff sie nach ihrem Tagebuch, um dort jedes Detail zu verewigen, in der Hoffnung ihm eines Tages wieder zu begegnen.
 

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