... für Leser und Schreiber.  

Melodie des Lebens [undefinierbar... ist er experimentell? oder ein modernes märchen?]

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20 Stimmen
   
©  Becci   
   
(für Richard)






Sie war traurig.
Starr geradeaus blickend, ging sie den Weg entlang. Sie sah ihn nicht, sie ging einfach nur. Gedankenverloren und traurig nahm sie die Schönheit der Wegrandblumen nicht wahr. Sie hörte nicht das süßliche Zwitschern der Vögel und roch nicht den zarten Duft der blühenden Kirschbäume, die den Wegrand säumten. Ihr war kalt, obwohl die Sonne warm schien, sie fühlte sich einsam, alleine mit ihren Gedanken und Gefühlen und in ihr war nur Leere. Sie wurde noch trauriger. Eine verlassene Bank lud sie zum Troste ein, sie setzte sich auf sie und weinte. Weinte die innere Leere noch leerer, bis auch der allerletzte Schmerz aus ihr raus war. Sie saß da wie eine tote Lebende, sämtliche Gedanken und Gefühle schienen sie nun verlassen zu haben. Nicht einmal die Traurigkeit blieb ihr nun zur Gesellschaft. Nur Leere.
Sie muss wohl eine Weile gesessen haben, als in diese Leere langsam zarte Töne eintauchten. Sie öffnete ihre, noch tränennassen Augen, und schaute sich suchend nach der Quelle um. Neben ihr saß ein junger fremder Mann auf der Lehne der Bank, unbemerkt dazugekommen. Er schaute sie nicht an, sondern blickte gedankenverloren auf seine Gitarre und so konzentriert auf sein Spiel, brachte er Klänge hervor, die ihr das Herz wärmten. Er spielte sachte eine langsame und traurig klingende Melodie, die sie nicht kannte, aber ihr so vertraut schien, als wäre es das, was sie schon lange unbewusst suchte. So verging einige Zeit und der junge Mann steigerte langsam sein Spiel, schlug die Saiten stärker an und glitt langsam in eine fröhliche Stimmung um. Diese Veränderung trat scheinbar so unbemerkt ein, dass sie, versunken in einem Meer voller berauschender Klänge, sie in sich aufnahm, sich zu eigen machte, ohne dass es ihr bewusst war. Sie hörte nun auch die Vögel, mit eingebunden in das Lied, süßlich singen und roch den zarten Duft der Kirschbaumblüten und sah die wunderschönen Blumen, die am Wegesrand strahlten. Alles verband sich zu einer Melodie, so rein und klar, dass ihr warm ums Herz wurde. Diese Wärme breitete sich in ihr aus und füllte die Leere, die sie so quälte. Immer lauter, immer mitreißender spielte der junge Mann und immer fröhlicher.
Sie, die sich bisher nur im Takt mit dem Körper mitschwang, wurde fortgerissen von der Intensität der Melodie und fand sich tanzend mit dem jungen Mann auf einer Blumenwiese wieder. Die Gitarre spielte wie von Zauberhand weiter und die Luft war erfüllt von sprühender Energie. Sie war glücklich. Sie glaubte, sie habe gefunden, was sie schon so lange gesucht habe. Ihre Leere war erfüllt und ein ungekanntes Glücksgefühl durchströmte ihren Körper. Sie drehten sich im Kreise, die Melodie war so schön, sie glaubte zu schweben und.......



PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP



Ihr Herz blieb fast stehn, sie schreckte auf. Was ist das??? Was war los??? Sie war total verwirrt und durcheinander. Wo war sie???



PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP



Der Nebel in ihrem Kopf verschwand, raubte ihr die wunderschöne Melodie und riss diese mit sich. Langsam kam sie in die Wirklichkeit zurück.



PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP



Sie schlug wütend auf den Wecker und ließ sich kraftlos wieder nach hinten auf ihr Bett fallen. "Nur ein Traum...", flüsterte sie leise. Die eben so intensiv gefühlten Glücksgefühle verschwanden augenblicklich und machten einer noch größeren Leere Platz. Sie versank wieder in Traurigkeit...

...anstatt selbst ihre Augen zu öffnen und einen Blick auf die Wegesrandblumen zu werfen, den Duft der Kirschbaumblüten zu riechen und die Vögel süßlich zwitschern zu hören, verschloss sie sich noch mehr alledem.
...anstatt selbst ihre Gitarre in die Hand zu nehmen und die Melodie des Lebens zu spielen (sie glaubte wohl, sie könne es nicht - hatte sie es denn je versucht?), wartete sie darauf, dass jemand kam und ihr das abnahm, ihre Leere füllte und ihre Traurigkeit wegfegte...
...und sie wurde noch trauriger.





Und wenn sie nicht gestorben ist, wartet sie wohl noch immer...
 

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