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Die Geister die ich rief

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© Christian Dolle   
   
Martin hasste Jackie, hasste sie so sehr, dass er sie umbringen würde. Noch heute Nacht.
Die Stehlampe hüllte Martin Kellermann und seinen Computer in einen hellen Lichtkegel. Neben ihm stand ein Glas blutroten Weins, und auf dem Schreibtisch lagen einige Manuskriptseiten, doch der Cursor blinkte lustlos auf einem leeren Bildschirm. Martin fuhr sich frustriert durch die Haare, denn er wusste nichts, was seinen Roman weiterbringen konnte. So gerne hätte er sich anderen Aufgaben gewidmet, doch die Vorauszahlungen seines Verlages für seinen neuen Jackie-Steevens-Roman waren bereits eingegangen, und die Werbetrommel rotierte bereits.
Sicher, Jackie war seine Rettung und seine Goldgrube, und sein erster Roman über die junge Frau, die von ihrem alkoholkranken Mann geschlagen wurde, nur das beste für ihre Kinder wollte, und ihren Alten schließlich mit einem Wagenheber erschlagen hatte, war ein Bestseller, der ihm literarischen Ruhm und gleichsam finanzielle Absicherung beschert hatte. Doch durch die folgenden Bücher, ebenfalls gefeierte Erfolge, hatten ihn so ausgebrannt, dass sich ihm der Magen umdrehte, als er hörte, dass das Casting für die Kinoverfilmung auf Hochtouren lief. Der zweite Teil schilderte Jackies Gerichtsverhandlung und ihre traumatischen Erlebnisse im Gefängnis, und im dritten Band wurde Jackie aus dem Knast entlassen, schaffte es, ihren Berufswunsch der Anwältin zu verwirklichen und trat fortan für die Rechte gequälter Ehefrauen ein. Inzwischen fiel Martin nur noch ein einziges Wort für seine Werke ein: KITSCH!
Er hatte alles erreicht, was ein erfolgreicher Autor erreichen konnte, er hatte die Bestsellerlisten gestürmt, war in allen hochrangigen Talkshows gewesen und hatte ein astronomisch hohes Honorar für die Verfilmungsrechte eingestrichen, vor allem aber hatte er sich selbst seiner künstlerischen Freiheit beraubt. Die Öffentlichkeit und sein Verleger erwarteten seine vierte Geschichte über Jackie, die neue Heldin der Nation, mit Spannung, und es blieb ihm nichts anderes übrig als Jackie sterben zu lassen, sie mit dem Auto gegen einen Baum prallen zu lassen, und ihre Kinder gleich mit umkommen zu lassen, damit es auf keinen Fall eine Fortsetzung geben konnte.
Allerdings musste ihr Ende dramatisch sein, nicht einfach nur „rumms“ und „tot“, sondern qualvoll und zu Tränen rührend, denn auf den finanziellen Erfolg wollte er keinesfalls verzichten. Leider war er heute nach etlichen Gläsern Wein nicht in der Stimmung für große Gefühle, dachte sich Martin, und so beschloss er, Jackie noch eine Nacht leben zu lassen. Er speicherte das letzte Kapitel ab, fuhr den PC herunter und ging ins Bett, wo er dann ob des Rotweins auch sofort einschlief.

Mitten in der Nacht schreckte Martin plötzlich aus dm Schlaf hoch. Er meinte, Geräusche gehört zu haben, lauschte angestrengt, doch es war nicht der geringste Ton zu vernehmen. Erschöpft drehte er sich wieder auf die Seite, schloss die Augen und war schon dabei, wegzudösen, als ihn plötzlich ein leises Klopfen wieder hochschrecken ließ. Martin öffnete die Augen, sah sich im nur vom Vollmondschein erhellten Zimmer um und lauschte abermals. Zunächst hörte er nichts, doch dann war wieder ein leises, aber vernehmliches Pochen zu hören, das von der Tür her zu kommen schien. Martin rieb sich die Augen, erhob sich nahezu lautlos und mit einigem Unbehagen aus dem Bett und schlich vorsichtig und ein wenig fröstelnd zur Schlafzimmertür. Mit einem kräftigen Ruck riss er sie auf, in der Hoffnung, davor nur seine Katze oder ähnlich beruhigendes vorzufinden, doch dann blieb er mit weit aufgerissenen Augen und einem bis zum Hals schlagenden Herzen wie erstarrt stehen. Vor seiner Schlafzimmertür stand eine junge, blonde Frau in bodenlangem, weißem Nachthemd, und es war niemand anders als Jackie Steevens! Martin blieb der Atem weg, und der Unterkiefer klappte ihm herunter. Fassungslos tappte er einige Schritte rückwärts und gebot so seiner Romanheldin Einlass. Unfähig, etwas zu sagen oder etwas zu tun, starrte er Jackie einfach nur an und fragte sich, ob er träumte, einen Geist sah oder einfach nur zu viel Wein intus hatte.
„Nein, du bist nicht betrunken“, erklärte Jackie mit sanfter Stimme, in der aber auch ein zorniger Unterton mitschwang, „ich bin nur hier, um mit dir zu reden.“
Martin ließ sich zurück aufs Bett fallen, immer noch unfähig, auch nur einen Ton über die Lippen zu bringen. Jackie nahm auf dem Sofa gegenüber dem Bett Platz, und er zuckte leicht zusammen, als er erneut ihre Stimme hörte.
„Ich will nicht sterben, Martin.“
Immer noch ungläubig rieb Martin sich die Augen, doch sie verschwand nicht. Gut, es war ein Traum, dachte er, doch warum nur wirkte dann alles so real?
„Jetzt hör mir doch mal zu!“, herrschte Jackie ihn an, packte ihn mit ihren zarten Händen am Arm und zwang ihn, ihr zuzuhören.
„Denkst du eigentlich immer nur an dich? Du hast plötzlich keine Lust mehr auf mich, und jetzt willst du mich einfach so loswerden?“
„Ich habe dich erschaffen, also kann ich dich auch wieder verschwinden lassen...“, stammelte Martin, immer noch überlegend, ob er langsam verrückt wurde.
„Ach ja? Du lässt mich durch diesen Kerl, den ich übrigens nie heiraten wollte, und im Knast Höllenqualen erleiden, wirst dadurch berühmt, und dann willst du mich einfach so umbringen?“
Immerhin bist du hinterher Anwältin geworden und glücklich, wollte Martin entgegnen, doch er ließ es bleiben, den er wusste, wenn er jetzt mit einem Geist zu streiten anfing, musste er sich ernstlich Gedanken um seinen Geisteszustand machen.
„Das nennst du glücklich?“, fuhr Jackie ihn zornig an, „Wenn ich mit dem Wagen gegen einen Baum knalle und auch noch meine Kinder verliere?“
Martin gab es auf.
„Verschwinde!“, brüllte er, „Lass mich in Ruhe! Ich will das alles nicht!“
Jackie lächelte ihn zuckersüß an, dann erhob sie sich vom Sofa, kam auf ihm zu, und als sie seinem Gesicht ganz nah war, sagte sie mit glockenheller Stimme: „Die du riefst, die Geister, wirst du nun nicht los. Du kannst mich nicht umbringen, Martin. Weil du mich nämlich liebst.“
Und dann setzte sie hinzu: „Was glaubst du denn, warum du mich so beschrieben hast wie ich bin.“
Als sie daraufhin ihr Lippen auf seine presste, begann er zu zittern, und das nicht nur aus bloßer Angst. Er schloss die Augen, spürte, wie ihre Hände ihn berührten, gab schließlich allen Widerstand auf und ließ es geschehen.
Wenig später verschwand Jackie so leise aus dem Zimmer wie sie gekommen war, und Martin fielen die Augen zu, tief in seinem Inneren froh darüber, dass sie ihn nicht weiter um den Schlaf brachte.

Am nächsten Morgen, der graue, regennasse Himmel warf sein trübes Licht durchs Fenster, erwachte Martin mit hämmernden Kopfschmerzen und dachte mit Schaudern zurück an seinen Traum. Mit wackligen Knien ging er unter die heiße Dusche, danach nahm er eine Aspirin und machte sich einen Kaffe, der ihn entweder umbrachte, oder ihn wieder klar werden ließ.
So, und jetzt, dachte er sich als er nach dem Frühstück ins Arbeitszimmer ging, jetzt bringe ich sie um! Genüsslich fuhr er den Computer hoch, öffnete die Datei des vierten Jackie-Romans und traute seinen Augen nicht. Gestern noch war er in Kapitel acht steckengeblieben, doch jetzt erschien plötzlich ein vollständiges Manuskript auf dem Monitor. Erschrocken las er sich Seite für Seite durch, konnte sich aber nicht erinnern, dies geschrieben zu haben.
Es wurde dort keinesfalls beschrieben, wie Jackie an einem Straßenbaum verendete, nein, nach ihrem ersten gewonnenen Prozess als junge Anwältin lernte sie einen gutaussehenden Schriftsteller kennen, in den sie sich schließlich verliebte und mit ihm glücklich wurde. Und dafür, dass er nichts mehr davon wusste, war es erstaunlich gut geschrieben. Martin raufte sich verwirrt die Haare und rieb sich die Augen. Aber es gab keine andere Erklärung, er musste gestern Nacht aufgestanden sein und diesen Roman vollendet haben. Anders konnte es nicht sein! Oder wurde er vielleicht doch verrückt?

Der vierte Jackie-Steevens-Roman verkaufte sich schließlich noch besser als seine Vorgänger, die Verfilmung mit Sandra Bullock in der Hauptrolle wurde ein Kassenschlager und Martins weitere Werke brachten ihm noch einigen Ruhm ein, aber einen fünften Teil von „Jackie Steevens“ würde es niemals geben...


Christian Dolle
 

http://www.webstories.cc 24.04.2024 - 15:00:54