... für Leser und Schreiber.  

Der Eid des Hippokrates

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© Thomas Woehlke   
   
Insekten schwirrten um Straßenlaternen und schlugen gegen Julians Helmvisir. Er fuhr ein schnelles Motorrad, denn Patricia wohnte ziemlich weit außerhalb der Stadt. Außerdem war das Leben kurz, zu kurz um lange unterwegs zu sein. Julian war Sänger in einer Band. Sie hatten ihren ersten richtigen Plattenvertrag, und Julian hatte ein Lied geschrieben, daß für ihre erste Single sein sollte: ,,Patricia''.

Vor eingen Jahren stand Julian Zigarette rauchend auf einer Brücke, und sah wie der Mond sich im Wasser spiegelte. Plötzlich tippte ihm ein Traum von Frau auf die Schultern, und fragte ihn nach Feuer. Julian drehte sich um und sah in ein paar grüner Augen. Ihm wurde heiß. Sein ganzer Körper begann zu brennen. Diese Augen, die roten Haare, der Mund ...

Heute war Julian unterwegs zu ihr, seiner Verlobten Patricia. Vor ihm in der Dunkelheit tauchte ein Wäldchen auf. Ein Lichtkegel zeigte ihm, daß ein Fahrzeug aus einem Seitenweg auf die Straße einbiegen wollte. Julian hatte Vorfahrt, also behielt er sein Tempo bei. Plötzlich zog der Wagen aus dem Seitenweg, und nahm Julian die Vorfahrt. Julian war machtlos. Bei seinem Tempo würde ein Bremsen oder Ausscheren ihn vom Motorrad schleudern.

Die nächsten Sekunden zogen an ihm vorbei, wie in Zeitlupe. Das Auto bremste. Das Motorrad schlug in die linke Seitentür ein. Staub wirbelte auf. Julian wurde über das Auto geschleudert. Eine Ewigkeit flog er durch die Luft. Er streckte die Arme nach vorne, und schlug hart auf den Asphalt auf. Knochen zersplitterten, Julian schrie vor Schmerz auf. Er rollte noch ein paar Meter und blieb dann liegen. Ein paar Sekunden Stille.

Füße trappelten. Der Lichtkegel einer Taschenlampe wackelte heran. Der Fahrer des Autos kam zu Julian herangelaufen. Er sah Julian liegen, völlig verdreht und voller Blut. Er stieß ein ``Oh, mein Gott!'' aus, und rannte zum Wagen zurück. Durch den Nebel seiner Schmerzen hörte Julian das Kauderwelsch der Funkersprache, der Mann holte gerade Hilfe.

Nach einer Weile erzitterte das Dröhnen eines Hubschraubers den Himmel. Der Hubschrauber landete auf der Straße. Sanitäter und ein Arzt rannten zu Julian und versorgten ihn. Sie banden das rechte Bein und den rechten Arm ab, und schienten den anderen Arm und das linke Bein. Sie diskutierten kurz, ob sie den Helm abnehmen sollten. Der Helm war gebrochen.

,,Wenn der Helm nicht gewesen wäre, wäre er jetzt tot.''

Als sie ihn abnahmen schrie Julian auf.

,,Die Halswirbel haben was abbekommen!''

,,Scheiße!''.

Sie legten Julians Hals still, legten ihn auf die Trage, und trugen ihn zum Hubschrauber. Julian schrie vor Schmerzen. Im Hubschrauber gab der Arzt Anweisungen den OP für eine Notoperation bereit zu halten. Sie landeten auf dem Dach. Julian wurde unsanft auf eine Rolltrage geworfen und schrie wieder vor Schmerz auf. Im OP stellte sich heraus, daß das rechte Bein und der rechte Arm nicht mehr zu retten war. Als sie Julians Lederkombi aufschnitten quoll nur so das Blut heraus. Beide Körperteile mußten sofort amputiert werden. Außerdem stellten die Ärzte fest, das Halswirbel angebrochen waren, und ein Schädelbasisbruch vorhanden war. Er hatte viel Blut verloren und war völlig entstellt. Sein zerplatztes Gesicht war verbunden. Auf dem Weg zur Intensivstation hat er die ganze Zeit vor Schmerzen geschrien. Irgendwie hatte man vergessen ihm ein Schmerzmittel zu spritzen.

Man verständigte seine Familie und Patricia. Als sie kamen hörten sie Julian bereits im Gang schreien. Als sie das Zimmer betraten, hob Julian seine verbliebene Hand und keuchte ``Patricia!''. Dann fiel die Hand runter und er sackte zusammen. Die Maschinerie um ihn herum zeigte flache Linien auf allen Geräten, einige gaben ein Pfeifton von sich. Auf dem Flur ertönte der Alarm. Ein Team aus Ärzten und Schwestern kam hinein.

,,Reanimation einleiten!''

,,Eins eintausend, zwei eintausend, jetzt ...''

An Julian zog sein Leben vorbei. Es war irgendwie alles unheimlich schnell, doch er erlebte jede Einzelheit - Rückwärts! Irgendwann war er im embryonalen Stadium seines zurückliegenden Lebens angelangt, da war er wieder in seinem Körper. Oder besser gesagt, im Rest seines ,,Körpers''. Die Ärzte versuchten ihn zurückzuholen.

Doch es gelang ihnen nicht. "Uber dem unsichtbaren Gesicht seiner immateriellen Existenz bildete sich ein rot-braun-schwarzer Strudel, der sich zu einer Art Tunnel formte. Julian wollte dorthin, er wollte sich von seinem Körper lösen. Er versuchte seine immaterielle rechte Hand, die immer noch vorhanden war, zu heben und den Tunnel zu berühren. Aber es ging nicht. Julian war irgendwie in seinem Körper gefangen.

Patricia stand unter Schock als sie sah, das die Ärzte keinen Erfolg hatten. Julians Mutter fragte weinend:

,,Ist er jetzt tot?''

,,Nein, er liegt im Koma.'' antwortete der junge Arzt.

,,Wird er wieder erwachen?''

,,In seinem jetzigen Zustand ist die Chance verschwindend gering, aber solange die kleinste Chance besteht werden wir tun, was in unserer Macht steht.''

Seine Eltern gingen nach einigen Stunden, und Patricia saß an Julians Bett, hielt seine linke Hand, und weinte bitterlich. Man hatte die Noten und den Songtext des Liedes, das ihren Namen trug, in den überresten des Gitarrenkoffers gefunden. Patricia hielt seine Hand.

Aber sie war kühl, und Julian konnte ihre Hand nicht spüren. Er hatte keinen Kontakt mehr zu seinem Körper. Er wollte ihr noch einmal sagen, wie sehr er sie liebte, er wollte sie noch einmal berühren. Aber er und sein Körper waren getrennt.

"Uber seinem immateriellen Gesicht rotierten wie ein Strudel die ,,Wände'' des Tunnels. Er wußte, daß er dort erwartet wurde. Er war gespannt ob es wirklich einen Gott gibt. Er wollte dorthin wohin der Tunnel führte. Er wußte, daß es seine Bestimmung war, dorthin zu gehen.

Aber - er konnte nicht! Er war in seinem Körper gefangen. Gefangen zwischen Diesseits und Jenseits.

Nach ein paar Stunden, Jahre für Julian, küßte Patricia ihm auf die Hand, hauchte ein ``Ich liebe Dich, Julian!'' in sein Ohr unter den Verbänden und ging.

,,Bitte, bleibe bei mir!'' schrie eine unhörbare Stimme im Körper von Julian.

Nach ein paar Minuten kam die Schwester, und machte das Licht aus. ,,Bitte laßt mich nicht alleine, nicht in dieser Dunkelheit!'' flehte eine unhörbare Stimme.

Die Sekunden verstrichen. Doch für Julian waren es Jahre, die zu Jahrzehnten wurden.

Er versuchte an Dinge in seinem Leben zu denken, aber da er sich jetzt an jedes Detail, das er je erlebt hatte, erinnern konnte, war es sehr qualvoll. Alles woran er zurückdenken konnte wurde nach einer Weile sehr qualvoll. Er hatte mit diesem Leben abgeschlossen. "Uber ihm rotierte der Tunnel. Neben ihm arbeiteten die Lebenserhaltungsmaschinen.

,,Laßt mich gehen !!!'' schrie er in unhörbaren Worten. Schließlich fing er an zu zählen. Was für Menschen nur ein paar Stunden waren, waren für Julian Jahrmillionen.

Als er mit dem Zählen bei 3,14 Milliarden ankam, betrat eine Schwester das Zimmer und öffnete die Vorhänge. Nach einer Weile kam Patricia, und setzte sich wieder an sein Bett. Sie redete zu ihm. Er litt Pein. Er würde gerne wieder zurück, aber über ihm wartete die Erlösung. Der Tunnel war immer noch da.

Plötzlich kamen Männer in weißen Kitteln in den Raum. Der Professor war mit seinem untergebenen Arzt in ein Gespräch vertieft. Sie vereinbarten einen Termin zum Golf. Danach fragte der Arzt:

,,Wie geht es ihrer Frau, Herr Professor?''

,,Danke, gut. Sie ist jetzt im dritten Monat. Wir hoffen auf einen Sohn.''

Dann unterhielten sie sich über Julians Zustand. Der Assistenz-Arzt berichtete:

,,Herr Desdmonds Zustand ist sehr probelmatisch. Wir können seinen körperlichen Zerfall nicht aufhalten. Mit jeder Woche wird sich seine Chance, wieder zu erwachen halbieren.''

,,Wie lange wird er im Koma liegen bleiben, bevor er sterben wird?''

,,Voraussichtlich zwei bis drei Jahre.''

,,Neeeeeiiiiiiiiin !!!'', schrie eine unhörbare Stimme.

In diesem Moment schaltete sich Patricia ein:

,,Kann man diesem Elend kein Ende bereiten und diese Maschinen abstellen?''

,,Jaaaaaa !!!'', schrie Julian lautlos, ,,Bitte !!!'' Der Professor antwortete:

,,Das wäre Mord!''

,,Wenn diese Maschinen nicht wären, wäre Julian bereits tot! Wer weiß denn überhaupt, wieviel er leidet.'' erwiderte Patricia.

Der Professor trat einen Schritt zurück.

,,Wir sind nicht hier, um zu philosophieren. Die Rechtslage ist eindeutig. Und ich habe einen Eid geleistet.''

,,Den Eid des Hippokrates?''

,,Genau.''

,,Darauf scheiße ich !''

,,Ich auch !!!'', schrie Julian in seiner Stille.

,,Mir ist das Leben heilig'', sagte der Professor.

,,Ich habe darauf einen Eid geschworen, und der ist verbindlich. Auf Wiedersehen!''

Die Weißkitteltruppe verließ den Raum, und der Arzt und der Professor redeten wieder über Golf. Patricia weinte bitterlich. Julian formte seinen eigenen Schwur auf immateriellen Lippen:

,,Professor, wenn ich dich kriege, werde ich dir genau das gleiche antun, wie das, was du mir jetzt antust.''

Nach einer Weile ging Patricia. Für die Außenwelt verging ein Tag. Für Julian einige Jahrmillionen. Er wäre gerne wahnsinnig geworden. Aber selbst eine eingesperrte Seele besitzt kein Gehirn mehr, das versagen kann.

Dann kam endlich Patricia zurück. Sie verhielt sich merkwürdig vorsichtig. Keiner sollte sie sehen. Dann verabschiedete sie sich von Julian und sagte:

,,Ich werde dich jetzt erlösen, Julian. Wenn ich das falsche machen sollte, bitte vergib mir. Julian, ich liebe dich.''

,,Du tust genau das richtige, Patricia. Ich liebe dich.''

Sie ging zu den Steckdosen, in denen alle Maschinen eingesteckt waren und zog alle Stecker hinaus. Dann rannte sie aus dem Zimmer. Auf dem Gang ertönten Alarmsirenen. Julian spürte wie sich Patricia bereits in Sicherheit gebracht hatte.

Dann merkte er einen Sog. Er sah den Strudel über sich und hob die immaterielle rechte Hand. Es funktionierte. Er hielt sie in den Strudel. Er merkte wie der Strudel, ihn aus seinem ehemaligen Körper sog. Er wehrte sich nicht. Julian schaute noch einmal zurück, und sah auf seinen ehemaligen Körper hinab. Nein, er bereute es nicht, daß er jetzt ging. Er wandte sich ab, und schwebte in den Tunnel. Vielleicht bekam er eine Chance zu einem neuen Leben ...

sechs Monate später:

Professor Dr. Dr. Lukas Winthorp der Zweite ging nervös durch den Warteraum der Entbindungsstation. Die Krankenschwester schüttelte den Kopf.

,,Väter sind alle gleich.'' dachte sie.

Winthorp schritt auf und ab. Er hatte weder seinen Arztkittel, noch sein Stethoskop abgelegt.

Er bat um ein Telefon.

,,... Ich muß das heutige Golfspiel leider absagen. Lisa liegt in den Wehen. Das Kind wird heute noch kommen. Wenn alles gut geht, sehe ich nachher noch einmal im Club vorbei ... ''

Als der Schrei eines neuen Erdenbürgers durch die Milchglastüren drang, knallte er den Hörer auf die Gabel. Nervös wartete er einige Minuten, bis eine Schwester zu ihm kam und ihm sagte:

,,Alles ist in Ordnung, es ist ein Junge. Sie können jetzt zu ihrer Frau und ihrem Sohn.''

Lisa Winthorp lag in ihrem Bett, und hielt ein Bündel in der Hand, in dem Winthorps Sohn steckte. Stolz durchzog den neuen Vater. Er fingerte eine Sofortbild-Kamera aus seinem weißen Kittel, und bat die Schwester ein Photo von ihm und seiner Familie zu machen.

Mit dem Polaroidphoto in der Hand öffnete er die Tür zum Clubraum seines Golfvereins. Sekunden später schlug ihm Jubel und Applaus entgegen. Das Photo wurde ihm aus der Hand gerissen, Champagnerkorken knallten. Jemand fragte Winthorp, wie er seinen Sohn nennen wolle. Winthorp antwortete:

,,Natürlich: Lukas Winthorp der Dritte!''

Lukas Winthorp der Dritte lag in seinen Windeln und sondierte mit seinen Bescheidenen Fähigkeiten seine Umgebung. Manchmal gelang es ihm sogar den Kopf zu drehen und seine Augen zu öffnen. Das einzige was er gut unter Kontrolle hatte, war zu schreien, wenn er Nahrung oder menschliche Zuneigung brauchte.

Aber irgendwie kam er sich wie ein Gefangener in seinem kaum kontrollierbaren Körper vor. Es verunsicherte ihn ein wenig, daß er sogar die ganze Zeit vor seiner Geburt sich fetzenhaft an sein letztes Leben erinnern konnte. Sie nannten ihn jetzt Lukas. Für sich selbst hieß er aber immer noch Julian.

Es faszinierte ihn, daß er völlig in der Lage war, die Sprache der Großen um ihn herum zu verstehen. Irgend etwas mußte er hier noch aus seinem alten Leben zu Ende bringen.

Lukas schlief ein und Julian träumte von Motorrädern, Gitarren und Mondlicht auf dem Asphalt. Er träumte von dem Gesicht einer Frau, das Lukas Winthorp der Dritte noch nie in seinem kurzen Leben gesehen hatte. Julian träumte von einer Vollmondnacht und einer langen Straße. Er träumte von Menschen in weißen Kitteln. Lukas wurde wach und schrie.

Man drückte ihm eine Flasche mit warmer Milch in den Mund um ihn, Lukas Winthorp den Dritten, zum Schweigen zu bringen. Aber mit Milch würden sie ihn, Julian Desdmond, nicht zum Schweigen bringen.

,,Ich bin ziemlich jung, und ich habe ein Leben lang Zeit.-Wofür auch immer...''

Nach einigen Monaten fiel Madame Winthorp vom Pferd und brach sich das ohnehin nicht starke Rückrat. Professor Dr. Dr. Lukas Winthorp der Zweite zog seinen weißen Kittel für ein paar Tage aus, um seinen Sohn zu versorgen. Sie spielten gerade Vater-ärgere-dich-nicht, als es an der Tür klingelte. Vater-ärgere-dich-nicht ist ein Spiel in dem der Vater immer den Turm aufbaut und der Sohn den Turm umwirft. Verloren hat der, der zuerst aufgibt, also immer der Vater.

Winthorp half einer jungen Dame aus dem Mantel, und führte sie in das ehemalige Wohnzimmer, jetzt verlängertes Kinderzimmer. Er stellte die Dame und Lukas gegenseitig vor.

,,Ms O'Hearn, dies ist mein Sohn Lukas. Lukas, das ist dein neues Kindermädchen Ms O'Hearn. Sag guten Tag.''

Lukas konnte nur eine Hand voll Wörter. Doch Julian, dem in diesem Moment heiß und kalt wurde, brachte ihm das sechste bei. Anstatt des tapsigen ,,duten dak'', kam ein überzeugendes ,,Patricia!'' über seine Lippen.

Patricia O'Hearn wurde rot und schaute verwirrt drein. Sie hatte Winthorp gegenüber nie ihren Vornamen genannt. Lukas krabbelte in Rekordtempo auf sie zu und wollte in den Arm genommen werden. Als Julian sich fest an sie drückte redeten Winthorp und Patricia über den Vornamen.

,,Was für ein Zufall !'' tönte Winthorp.

,,Ich glaube nicht an Zufälle.'' erwiderte Patricia.

Ihr war Winthorp leicht unheimlich. Er kam ihr irgendwoher bekannt vor. Als Professor Dr. Dr. Winthorp der Zweite eines Tages aus seiner Metzgerei nach Hause kam, sich seinen Kittel abstreifte und seine Hände wusch, hatten sein Lukas und Ms O«Hearn ein neues Spiel entdeckt. Patricia zeigte Julian bunte Photos in einer Musikzeitschrift für Teenager und solche die es sein wollten. Lukas« Wortschatz war um das Wort ``Gitarre'' erweitert worden. Patricia erzählte Julian von einer Band, die sehr wilde Rock-Musik macht. Sie sang leise ein Lied, das diese Band ihrem verstorbenen Sänger und Gitarristen gewidmet hatte: ,,Julian''. Lukas sah an ihre Hand und dort blitzte immer noch der silberne Verlobungsring, den Julian ihr geschenkt hatte. Lukas zeigte darauf, und Julian ließ ihn ,,Julian'' sagen.

Patricia war erschrocken und kreidebleich, sie schob Lukas ein wenig von sich weg. Das Telefon klingelte und Professor Dr. Dr. Winthorp sprach mit einem seiner Untertanen in seiner Metzgerei. Er verabredete sich mit seinem Untertanen zum Golf. Als das Wort ,,Koma'' fiel, wußte Patricia plötzlich, woher sie Winthorp kannte. Sie schlich sich aus der Wohnung, und Professor Dr. Dr. Lukas Winthorp der Zweite sah sie nie wieder.

Mit dunkler Melancholie sah Julian zur Tür, aber das war es nicht, was ihn verunsicherte. Als er das Wort ,,Koma'' hörte, sah er sich selbst in einem grausamen Gefängnis aus Zeit und Raum. Julian hörte seinen eigenen Schwur zwischen Leben und Tod. Julian wußte nun wer Lukas« Vater in Wirklichkeit war.

,,Professor ...'', wiederholte Julian seinen Schwur.

Der kleine Lukas fing an zu weinen.

Lukas wuchs heran. Er war ein verschlossenes Kind - aber sehr musikalisch. Zum Leidwesen seines Vaters wehrte sich Lukas dagegen, Golf zu lernen. Aber Lukas konnte sehr früh Fahrradfahren. Eines Tages saß Lukas in einer Ecke von Winthorps Wohnzimmer und sah sich ein bunt illustriertes Kinderbuch an. Das derzeitige Kindermädchen las Lukas nur wenig vor. Julian war das egal. Lukas konnte nicht lesen. Julian schon. Es war Julians Lieblingskinderbuch von früher. Sein Titel war ,,Wind in den Weiden''.

Winthorp ging nun zum Bilderrahmen mit dem röhrenden Hirschen, und drehte ihn beiseite. Lukas schaute dämlich drein, aber Julian wurde hellhörig, als ein Tresor sichtbar wurde. Offiziell konnte Lukas noch keine Zahlen, aber Julian merkte sich die Kombination sofort.

Als Winthorp wieder im Arbeitszimmer war, legte Julian den ÓWind in den WeidenÓ beiseite und kletterte auf die Couch. Mühsam drückte Lukas das ekelhaft kitschige Bild beiseite und Julian öffnete den Tresor. Er war verblüfft als er in dem pedantisch aufgeräumten Tresor auch eine Automatikpistole mit vollem Magazin fand. Vor seinem inneren Auge sah er die weinende Patricia, seine fast ewige Hölle innerhalb aber nicht in seinem ehemaligen Körper, das Gerede über Golf, den Eid des Hippokrates, seinen eigenen Schwur.

,,Das können wir noch gebrauchen'', dachte sich Julian, und Lukas nahm die Pistole mit. Ansonsten verließ Lukas Tresor und Hirsch wie vorgefunden. Der ,,Wind in den Weiden'' würde bald zu einem Sturm werden. Winthorp schaltete den CD-Player ein. Wie immer Klassik -wieder einmal Wagner. Der Gitarrenliebhaber Julian hielt sich die Ohren zu. Nach einer Weile hielt er es nicht mehr aus. Lukas ging in das Arbeitszimmer und sah sich um. Julian fand eine aufwendige Grafik mit dem Eid des Hippolrates an der Wand. Lukas fragte völlig unschuldig: ,,Vater, was ist das?''

,,Das ist der Eid des Hippokrates, mein Sohn.''

,,Was steht denn da drin?''

,,Das ist die Berufsehre der Ärzte. Es geht darum, daß wir alles tun müssen, um Leben zu retten und zu erhalten.''

,,Um jeden Preis?'', fragte Julian.

,,Äh ja. Wieso?''

,,Ja, wenn der Mensch gar nicht mehr erhalten werden will.''

,,Wir müssen immer helfen.''

,,Und wenn der Mensch im Koma liegt?''

Winthorp stutzte: ,,Was weißt du über das Koma ?''

,,Mehr als du !''

,,So ... ?!''

,,Ich lag schon einmal im Koma.''

,,Nun bleibe auf dem Teppich.''

Die Stimme von Lukas verfremdete sich, Julian sprach jetzt. Winthorp wurde es langsam unheimlich.

,,Kennen Sie mich noch, Professor? Ich war Julian Desdmond. Sie wollten mich nicht gehen lassen.''

Winthorp fiel der Unterkiefer herunter. Dort stand sein Sohn. Lukas konnte nie etwas über solche Dinge erfahren haben. So etwas war Dienstgeheimnis. Winthorps Beklemmung wurde Angst. Julian sprach weiter:

,,Ich kann ihnen versichern, Weißkittel, es gibt weder Himmel noch Hölle. Aber das Koma ist schlimmer als die Hölle. Und sie haben mich nicht gehen lassen !!!''

Winthorp schluckte. Julian holte die nun entsicherte und geladene Automatikpistole hinter seinem Rücken hervor.

,,Sie haben auf Hippokrates geschworen.Ich habe auch etwas geschworen!''

Die Wucht des Schusses warf Lukas um. So sah er wenigstens nicht das Blut überall. Er warf die Pistole vor Winthorp hin und streifte sich den Müllbeutel von den Hand. Dann rannte er weg, immer weiter. Er rannte und rannte.

Irgendwie war er hierhin gekommen. Er wußte nicht, warum er jetzt hier im Staub vor dem ländlichen Haus stand. Der Bus, mit dem er gekommen war, fuhr weiter. Irgendwie hatte er das Gefühl, unheimlich viel vergessen zu haben. Aber er hatte das Gefühl, daß er eine wichtige Aufgabe vollbracht hatte. Und irgendwie wußte er das hier der Schlüssel zu einem neuen Leben lag. Er ging zum Haus. Durstig wie er war ging er zum Brunnen und trank Wasser, als habe er das schon immer gemacht.

,,Schmeckt dir unser Wasser?''

Er blickte auf. In der leuchtenden Sonne stand ein sechsjähriges Mädchen in einen nicht ganz sauberen aber hübschen Kleid. Sie war barfuß. Zwischen ihrer langen strohblonden Lockenmähne war ein wunderschönes Gesicht mit Tausenden von Sommersprossen, das ihn an irgendjemanden erinnerte.

,,Patricia?'' fuhr es aus ihm heraus.

Das Mädchen lachte schelmisch.

,,Nein. Ich heiße Lucinda. Patricia ist drinnen und kocht das Mittagessen.''

Sie reichte ihm ihre Hand.

,,Hast du Hunger?''

,,Ja, sehr. Und Durst!''

Sie gingen die Treppen hoch.

,,Wie heißt du eigentlich ?''

Er überlegte...

Er wußte es nicht mehr, und zuckte verlegen mit den Schultern.

,,Ich werde dich Julian nennen. Meine Mama, Patricia, hat gesagt, Julian war der Name meines Vaters.''

Epilog

Winthorp kam zu sich. Es war völlig merkwürdig. Er hatte keine Körper-warnehmung mehr. Neben sich in der Dunkelheit erkannte er mit tiefem Entsetzen die Maschinen, die er von Komapatienten kannte. Sein Zeitgefühl war irgendwie anders. Auf einer Maschine tickte eine Sekundenanzeige. Für ihn waren es statt Sekunden Jahre. Dunkle Jahre die zu Jahrmillionen wurden. über ihm rotierte eine Art Tunnel. Die Erlösung war so nahe. Aber für ihn Unerreichbar. ,,Laßt mich gehen !!!'' - Niemand hörte ihn. Die Qualen wurden endlos grausamer und grausamer. An der Wand hing ein Bild: Der Eid des Hippokrates.



(C) Thomas Wöhlke, Bochum im November 1995
 

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