... für Leser und Schreiber.  

Brot und Spiele

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© geneviève agho   
   
Die Realität ist nie so schön gewesen, daß es nicht immer Unzufriedene gegeben hätte, die versucht hätten, ihr zu entfliehen. An besagten eskapistischen Anstrengungen gemessen, scheint die Wirklichkeit in unserem Goldenen Zeitalter grausamer denn je. Alles nahm seinen Anfang, als ein Teil der Affen vom Baum kam und ein anderer nach Bayern ging. Der ehemalige Affe, mittlerweile zum Urmenschen geworden, ließ sich als erstes Wesen in der Geschichte des Planeten Erde nicht ausschließlich von Instinkten lenken, sondern entwickelte eine biologische Kuriosität, die er Verstand zu nennen pflegte. Solch ein Verstand brachte einige Vorteile mit sich - er ermöglichte es dem Urmenschen, abstrakte Überlegungen anzustellen und so Lösungen für Probleme zu finden. Einer seiner entschiedenen Nachteile bestand jedoch in einem Phänomen, das der noch in den Kinderschuhen steckenden Menschheit´bislang völlig unbekannt gewesen war : Langeweile. Um sie zu bekämpfen, haben wir schon einiges ins Feld geführt - Krieg, Karaoke, Arztromane und ähnliche aus den niederen Regionen der Seele emporsteigende Scheußlichkeiten.
Schon die alten Römer hatten es auf diesem Gebiet zur Meisterschaft gebracht. Im Namen des Vergnügens wurden Bären und Löwen aufeinandergehetzt, Amphitheater mit Wasser gefüllt und blutige Seeschlachten veranstaltet oder zwei Menschen, die sich noch nie zuvor begegnet waren, mit Waffen ausgerüstet und gezwungen, entweder zu töten oder zu sterben, all das unter dem Motto "Brot und Spiele".
Der moderne Durchschnittsmensch braucht sich nicht einmal mehr aus dem Haus zu begeben, um seine Gehirnfunktionen nach einem uninspirierten Arbeitstag auf ein Mindestmaß zu reduzieren - er läßt sich, ausgerüstet mit Bier, Kartoffelchips, aus genetisch verändertem Mais hergestellten importierten Schokoriegeln und in Styropor verpackten, fettigen, mit Borstentierschamhaaren und Schweinenachgeburten versetzten Fleischnebenprodukten in seine durchgesessene Sofakuhle fallen und widmet sich hingebungsvoll der Berieselung. Wie soll man sonst noch wirklich zur Ruhe kommen - völlig abschalten und das Stammhirn die Kontrolle übernehmen lassen, makellos schönen Menschen beim Stottern leicht verdaulicher Dialoge zusehen und täglich den Helden beim Retten der Welt anfeuern? Wo sonst wird heute noch garantiert, daß das Gute über das Böse siegt? Die Behauptung, das Fernsehen sei für die zunehmende Rückverdummung der Bevölkerung verantwortlich, erweist sich bei näherer Betrachtung als unhaltbar - wo sonst erfährt das wissbegierige Kind, daß ein Kaugummi, über die brennende Lunte geklebt, die Bombe vom Explodieren abhält? Wie sonst könnten sich Zwölfjährige ein wahrheitsgetreues Bild vom Ablauf eines Schäferstündchens zwischen älteren Artgenossen machen, gäbe es nicht die sagenhaft authentischen SAT1-Filme? Auch das Argument, das Fernsehen entfremde und lasse uns alle vereinsamen, ist eindeutig zu widerlegen. Wo erfährt man mehr über seine Mitmenschen als in den allnachmittäglichen Talkshows? Wo sonst kann man sich heute, im Post-Sex-Zeitalter, noch die totale Befriedigung holen, wenn nicht im Fernsehen? Der Voyeur vor der Mattscheibe kommt hier ebenso auf seine Kosten wie der Exhibitionist, der endlich Gelegenheit findet, der gesamten Menschheit seine Besuche im Pärchenclub ebenso zu beichten wie seinen Ödipuskomplex und seine Folterkammer inklusive Domina im Keller, zu deren Salonfähigkeit das Fernsehen ebenfalls enorm beigetragen hat.
Da wundert es wenig, daß viele Kinder ihren Fernseher als drittes und liebstes Elternteil bezeichnen, was nicht einer gewissen Logik entbehrt - der Fernseher hat immer Zeit für das Kind, er schimpft nie, weil es den kleinen Bruder gehauen hat; er erzählt die besten Gutenachtgeschichten und belästigt das Kind nie mit seinen eigenen Problemen. Er funktioniert einfach, und solange er funktioniert, bleibt unsere Welt heil.
 

http://www.webstories.cc 04.05.2024 - 07:50:22