... für Leser und Schreiber.  

Die Mutprobe

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©  Naselang   
   
"Loslassen! Loslassen! So lass doch endlich los!" schrien sie. "Lass los!"
Sie klammerte sich fest. Ihre Hände hielten das Seil klamm umschlungen. Die Knöchel ihrer langgliedrigen Finger stachen schon weiss hervor. Krampfhaft hielt sie sich fest. Die kleinen Schürfwunden an den Innenseiten ihrer Handflächen bemerkte sie nicht. Sie konnte nicht loslassen, wagte keinen Blick in die Tiefe. Die Möglichkeit, dem Wagnis entgegenzusehen kam ihr nicht in den Sinn und wenn es geschehen würde, sie würde die Gedanken daran sofort verdrängen und sich bemühen, klar im Kopf zu bleiben. Sie wollte nicht an die Konsequenzen denken, wenn sie die 5 Meter in freiem Fall überwinden und in das blaue, kristallklare Wasser fallen würde. Sie sah nach oben. Das Seil an dem sie hing, war an dem Baum, der sich leicht über das Kliff beugte, befestigt. Die wildesten Schreckensszenen machten sich in ihrem Kopf breit. Was würde passieren, wenn sie gegen die Felswand geschleudert werden würde, anstatt gerade unter ihr ins Wasser zu fallen?

Ihre Finger konnten jede Faser des Seils spüren, in das sie schon tief eingegraben waren. Sie verschmolzen damit. Ihre Oberarmmuskeln zeichneten sich unter ihrem T-Shirt stärker hervor, als sie versuchte, sich ein wenig hochzuziehen. Sie bemerkte, dass das dicke Hanfseil aus vielen kleinen, eingedrehten Stricken geflochten war,
als sie jede kleine Windung genauestens betrachtete. Zuerst dachte sie, es sei so einfach: Das Seil fassen, sich auspendeln lassen, bis sie ganz ruhig über der Wasseroberfläche in für sie schwindelerregender Höhe hängen würde und dann ihren Griff lockern, das Seil freigeben und die Augen zumachen.
Wenn es ihr zu anstrengend und unangenehm werden würde, würde sie jederzeit loslassen können. Sie würde nicht länger als die paar Minuten, bis das Seil ausgependelt war, über dem Wasser baumeln müssen. Jederzeit konnte sie sich fallen lassen. Darauf kam es ja schlussendlich auch an.
Ihr Hirn arbeitete auf Hochtouren. Ihr Verstand sagte ihr, das Angst in dieser Situation nicht angebracht war und dass es keinesfalls angsterfüllend war, das Seil loszulassen und sich einen Bruchteil einer Sekunde später im lauen Wasser des Sees zu befinden.
Aber ihr Griff wurde nur entschlossener, stärker, als sie sich der Sicherheit bewusst wurde, die ihre eigene Muskelkraft ihr geben konnte.

Jäh wurde sie aus ihren Gedanken und Überlegungen gerissen: "Lass endlich los! Dann hast du es hinter dir, und du bist dabei!"

Jetzt, wo sie ihre Angst im Griff hatte und ihr klar wurde, dass alles nur halb so schlimm war, sollte sie loslassen? Sie verstand es nicht. Konnten sie nicht sehen, dass sie sich so noch stundenweise festhalten konnte? Dass sie unendliche Kraftreserven hatte? Dass sie gar keine Angst mehr hatte?
Sie konnte es nicht verstehen. Sie betrachtete ihre leicht geröteten Hände und ihre weissen Knöchel.
Erst jetzt bemerkte sie den Blutstropfen, der von ihrer Handinnenfläche über das Handgelenk nun schon bis zum Ellbogen geronnen war.
Entsetzt liess sie das Seil los.

Als sie fiel, wusste sie, dass sie weder aus Angst vor dem Aufprall auf die harte Wasseroberfläche, noch vor dem Schwindelgefühl oder vor dem freien Fall an sich vorerst gezögert hatte loszulassen. Diese Ängste hatte sie überwunden, waren irrelevant, mit klaren Gedanken wegrationalisiert - nicht aber die Ungewissheit, was nach dieser Mutprobe geschehen würde.






Für G.











 

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