... für Leser und Schreiber.  

Bruder

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© Stephanie Wolfmayer   
   
17 Jahre lang hast du mich durchs Leben begleitet. 17 Jahre lang gingen wir durch dick und dünn. Wir hatten immer so viel Spass zusammen. Ich kann mich noch genau erinnern, damals, weisst du noch, als wir unseren Eltern diesen Streich gespielt haben. Ich lache auch heute noch darüber. Wir haben zwei Wochen Stubenarrest bekommen. Mann, die waren vielleicht sauer. Oder im Winter ´89, ich weiss sogar noch das genaue Datum, es war der 12. Jänner 1989, ich war noch klein, da sind wir mit unseren Eltern an den großen See gefahren zum Eislaufen. Bestimmt kannst du dich da auch noch daran erinnern. Du bist eingebrochen, mit deinen Eislaufschuhen und warst klatsch-nass. Unsere Eltern bekamen einen riesigen Schock, doch als ich in dein grinsendes Gesicht sah wusste ich, dir kann so schnell nichts passieren. Und das hast du mir laufend bewiesen. Ich war immer die kleine Schwester für dich, dabei warst du doch nur vier Jahre älter als ich. Du hast mich nie als lästig empfunden, wir waren wie Freunde. Vor allem und jedem hast du mich beschützt. Als ich noch klein war, warst du mein Held, als ich größer wurde, warst du mein bester Freund.

Doch warum musste sich das alles ändern?! Ich konnte mir lange Zeit nicht erklären, was das Ausschlaggebende für deine Wandlung war.
Warum hast du dich in deinem Zimmer eingeschlossen? Warum hast du nie mit mir darüber geredet? Wir haben uns doch immer alles anvertraut. Doch plötzlich war da nichts mehr. Ich durfte dich nicht einmal mehr anreden. Immer wieder entfachte ein Streit zwischen uns und jedesmal war ich diejenige die sich weinend Gedanken um dich gemacht hat. Du hättest doch auch mit unseren Eltern reden können. Niemanden hast du an dich herangelassen. „Nichts“ war deine Antwort auf meine tägliche Frage, was mit dir los ist. „Lass mich in Ruhe“, wenn ich weiter bohren wollte. Das machte mich echt traurig, ich wollte doch nur wissen was mit dir geschehen war. Ein Jahr lang hatten wir nur noch mäßigen Kontakt, dabei wohntest du doch zu Hause. Nach der Arbeit kamst du erst spät in der Nacht nach Hause, in der Früh fuhrst du schon ganz zeitig wieder weg. Unsere Freundschaft war zerbrochen und ich wusste nicht wieso. Nie hast du mich aufgeklärt.

Jetzt bin ich 18 und endlich bekam ich Aufklärung über dein sonderbares Verhalten. Du hast es genau beschrieben, jedes noch so kleine Detail, welches dir wichtig erschien, das wir wissen sollten. Dass du deine Arbeit schon lange verloren hattest und du in der Früh nie in die Arbeit gegangen bist sondern immer irgendwo anders abgehangen hast, dass du verschuldet warst bei der Bank, dass deine Freundin dich verlassen hatte, und noch mehr schockierende und traurige Dinge kamen ans Tageslicht.
Du hast alles genau beschrieben. Im Abschiedsbrief den man neben deiner Leiche fand...
 

http://www.webstories.cc 17.05.2024 - 10:49:30