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Auf der Straße...

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©  Bignose   
   
Es war einer meiner allabendlichen Spaziergänge. Der Oktober zeichnete bereits die Züge der einfallenden Wintertage und ein nahezu eisiger Wind blies mir ins Gesicht, das von einem Schal geschützt war. Dennoch verspürte ich den Drang, noch weiter zu gehen, als ich es sonst bevorzugte. Ich geriet in das Viertel, das sonst von jedem meines Standes tunlichst gemieden wurde. Ich war alt, ich war wohlhabend und ging niemals mit weniger als dreihundert Dollar in der Tasche vor die Tür, weil man die Unannehmlichkeiten des Lebens niemals im Voraus ahnen konnte.
So verließ ich also meinen gewohnten Stadtteil und geriet immer tiefer in die verkommenen Straßen des Armenviertels. Gut war es mir nicht zumute, das gebe ich offen zu. Die Fassaden der Häuser waren in einem Zustand, den ich seit dem Krieg nicht mehr vor Augen hatte. Gab es hier in diesen Ruinen wirklich Menschen? Der ein oder andere Lichtschimmer hinter den Fensterscheiben, sofern vorhanden, bewies es, doch ich erschauerte immer wieder beim Gedanken daran, in einer solchen Gegend abgemalt sein zu müssen.
Mit meinen achtundfünfzig Jahren achtete ich auf eine gewisse Ästhetik meiner Umgebung. Meine alten Augen sollten einfach nichts derartiges mehr sehen müssen. Ändern könnte ich sowieso nichts an Dingen, die mich stören oder verärgern.

Ich bog um eine Ecke eines Hauses, das wie ein überdimensionales Plumpsklo wirkte und da sah ich sie. Zwei Männer, die sich um eine Blechtonne versammelt hatten, in der irgendwelche Dinge verbrannt wurden, lediglich der Wärme der Flamme wegen. Sie hatten mich gesehen, das war mir bewußt, doch wie sollte ich reagieren? Sollte ich mich herum drehen und weglaufen? Ich, mit meinen alten Knochen? Würden sie mir folgen, um meine Geldbörse oder gar mein Leben zu rauben? Gab es überhaupt Polizei in dieser verruchten Gegend?
Ich entschloss mich schließlich, meinen Weg fortzusetzen. Nur offensichtliche Stärke konnte diese Halunken im Zaume halten.
Mit zitternden Knien schritt ich voran. Bald hatte ich die Tonne mit den beiden düsteren Gestalten passiert und freute mich schon über meinen Triumph, als plötzlich eine Stimme hinter mir ertönte: "He, Mann. Warte mal."
Ich erschauerte innerlich und versuchte, meine Angst zu verbergen. Herumdrehen kam für mich nicht in Frage, denn mein Gesicht würde die Furcht nur zu schnell verraten. Also blieb ich wie angewurzelt stehen.
"Warte einen Augenblick." hörte ich eine rostig klingende Stimme erneut. Dann näherten sich Schritte meinem Rücken. Jeder normale Mensch hätte seine Beine in die Hand genommen und wäre fort gelaufen, doch ich konnte nicht und mein altes Herz pochte in Brust, Hals und Schläfen. Sollte ich jetzt auch noch einen Infarkt bekommen?

Eine Hand legte sich auf meine Schulter und ich betete tatsächlich zu Gott. Lautlos zwar, aber es war das erste Gebet seit Jahren. Ich konnte mich an mein letztes Gebet nicht mehr erinnern. Es musste viele, viele Jahre her sein. Bisher hatte ich auch keinen Grund, Gott anzurufen, doch jetzt bangte ich wirklich um mein Leben.

"Sir." hörte ich die Stimme und die eiserne Hand drehte mich herum. Ich blickte in ein fürchterlich schmutziges Gesicht, doch die Augen...
"Sie sind Ralph. Ralph Flenders. Oder täuschen mich meine Augen?"
Was in diesem Moment in mir vorging, kann ich heute nicht in Worte kleiden, doch es musste wohl einem Blitzschlag ähnlich sein.
Der dreckige, zerlumpte, alte Mann erzählte mir schließlich, wer er war und ich wollte es nicht glauben.
"Kannst Du Dich noch an mich erinnern?" fragte er, als er sich als mein früherer Lehrer im Schulfach Rhetorik zu erkennen gegeben hatte. Ich wurde sichtlich verlegen. Was sollte ich sagen? Wie konnte einer der am meisten respektierten Männer hier in der Gosse enden?
Ich stellte ihm diese Frage nicht, doch eines tat ich. Ich folgte seiner Einladung auf ein Bier, denn davon hatten die beiden Männer noch mehrere Kisten neben dem Fass mit dem Feuer stehen.
Als ich wieder zu Hause war, schämte ich mich für meine Angst und jetzt war mir bewußt, dass ein jeder, egal woher man kommt, vom Wind des Lebens in die völlige Armut getrieben werden kann.
 

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