... für Leser und Schreiber.  

WIRKlich lustig: ICE

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©  Alice   
   
Freitag morgen, München Hbf, warte auf meinen Zug nach Berlin.
Aussicht: 6 h Fahrt, Wochenende mit Übernachtung bei Freunden/Bekannten (Status nicht geklärt), Schachtel Zigarretten im 12-h-Takt, dumpfes Aufwachen am Montag.
Sitze also am Bahnsteig, es ist Ende Juni, meine weite, schwarze Hose schlabbert um die Beine, windig.
Am Gleis gegenüber fährt ein Regionalzug ein. Strömendes Menschengut, Richtung U-Bahn durch die ganze Bahnhofshalle. Richtung Arbeitswelt. Richtung Selbstverwirklichung. Ein bekanntes Gesicht stürmt an mir vorbei. Ah, jetzt wird die Eile klar. Das bekannte Gesicht kommt zu spät zur Vorlesung, Biochemie I, 2. vorklinisches Semester. Letztes Semester zusammen Physikpraktikum gehabt und ein paar Konversationen, Kommilitonin von mir.
UNI ist schön.
Wenn man gerade woanders ist.
Meine Philosophie des Augenblicks am Hbf München zumindest.
Habe keine Platzreservierung. Der Nervenkitzel, ob ich nun einen Sitzplatz kriege oder nicht, erinnert mich zu sehr an meine Anfänge als Jäger- und Sammlermensch und verhindert so jedesmal, dass ich auf die freundliche Anfrage der DB-Tussi, ob ich denn auch einen Platz reservieren möchte mit "Ja, bitte" antworte.
"Sie wissen schon, dass am Wochenende, besonders am Freitag, die Züge sehr voll sind?" hartnäckig will sie mir das Leben leichter machen.
"Ja, ja" und tschüß.
Nach ewigem Wechseln zwischen den für kleine Teilstrecken unreservierten Plätzen lande ich ab Leipzig an einem Familientisch, sprich der Sitzkonstellation im Zug, wo sich jeweils zwei Menschen mit einem Tisch dazwischen gegenüber sitzen. Insgesamt vier Menschen also müssen sich die ganze Zugfahrt lang ansehen und miteinander sprechen können. Diese Entfremdung vom menschlichen Grundwesen wird grundsätzlich den Familien zugetraut, ich habe im Zug allerdings noch nie eine Familie erlebt, die dieses "Sich gegenseitig an einem Tisch Ausgeliefertsein" länger als 2 Stunden ohne unterdrückte bzw. auf andere Wege umgeleitete Haßgefühle gemeistert hätte.
Oder warum glauben Sie, schimpfen plötzlich friedfertige Familienmenschen auf die Deutsche Bahn oder die Jugend von heute oder Boris Becker, wie er mit seinem Hypnoseblick alle Frauen der Republik willig macht?
An diesem Familientisch sitzen 3 rüstige Rentnerinnen, gerade von der Kur zurückfahrend, laut und quäckend Karten spielend, Kaffee saufend und gemäß der Kurpfuscheranweisung homäopatische Gastrintabletten einnehmend. Hehe. Jetzt nehme ich mir vor, in Würde zu altern. Oder aber ich komme gar nicht dazu, wenn mich meine Nachkommen mit Legitimation des Sterbehilfegesetztes rechtzeitig zur Strecke bringen und die (bis dahin hoffentlich angeheiratete oder im Lotto gewonnene) Gründerzeitvilla (oh Gott, wie geschmacklos) unter sich aufteilen.
Ab Magdeburg steigen dann lustige Menschen hinzu. Aber ich bin ja tolerant. Auch wenn Toleranz eine höhere Art der Verachtung ist, bitte nicht weitersagen, sonst bricht die moderne Medienlandschaft zusammen, die sind doch alle so tolerant (solange die Kamera läuft).
Schiele nach rechts.
Mann mit Krawatte, Brille und Manieren verschlingt das Dosenfutter von McDonalds und zeigt allen, wie überaus knapp und kostbar seine Zeit bemessen ist, dass er nebenbei noch am Laptop rumkramt, zwei SMS schreibt (wette, sind Verabredungen zum anonymen Großstadtsex) und sonst sehr geschäftig in die Gegend guckt, Menschen um ihn herum binnen Millisekunden inspiziert, in die Schublade steckt. Hat ja keine Zeit, auch nur eine Person genauer anzuschauen. Da sind mir meine Omas am Familientisch lieber, auch, wenn anscheinend bei einer der Akku im Hörgerät leer geworden ist und sie ständig mit ihrem HÄH? in Bridge-Konversation der beiden amderen platzt. Schnell nochmal hochspringen, neues Hemd und Krawatte aus dem Koffer holen, sich lautstark darüber ärgern, dass das WC so lange besetzt ist und er sich nicht umziehen kann (Schätzchen, wir mit den Omis hätten nichts dagegen, deine nackte Brust zu sehen, die du dir nach Feierabend, also frühestens ab 21 Uhr, im angesagtesten Fitness-Studio der Stadt zu trainieren pflegst, umgeben von schnurrenden und schleimenden Büromiezen), endlich,
das rote WC-Licht geißelt nicht mehr, er rennt den engen Gang zur Toilette. Schnell, schnell, sonst kommt dir die Rotzgöre zuvor. Sie müßte auch mal ganz dringend.


 

http://www.webstories.cc 29.04.2024 - 20:01:04