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Goethe ist gut oder: Das wüsteste Zitat aller Zeiten.

Kurzgeschichten · Erinnerungen
Wir Schülerinnen der Quinta der Mittelschule in B. waren elf oder zwölf Jahre alt im Jahr 1948, als unser Deutschlehrer den Götz von Berlichingen mit uns durchnahm. Keine von uns fühlte sich wahnsinnig berührt von diesem Werk. Die Probleme, die ein Rittertyp vor hunderten von Jahren gehabt hatte, waren uns ziemlich egal. Die Klein-Fehden und Scharmützel um eine Burg namens Jaxthausen schienen kaum ein Gähnen wert, verglichen mit dem, was wir gerade überlebt hatten, nämlich den größten Krieg aller Zeiten. Jeden Tag marschierten wir durch eine Stadt, deren Zentrum noch immer in Schutt und Asche lag.

Nein, der edle Berlichingen blieb uns fremd. Und wenn uns ‚Literatur‘ beeindruckte, dann waren es die Winnetou-Bücher von Karl May oder Hochdramatisches aus klassischer Zeit wie Felix Dahns ‚ein Kampf um Rom‘, ein gewaltiger Schinken, der düster von kampferprobten Helden erzählte, von Ehre, Blut, Germanentreue bis in den Tod, aber auch von romantischer Liebe, schönen Prinzessinnen und der Hinterhältigkeit der smarten römischen Kaiser.
Außerdem verschlangen wir die geheimnisvollen ‚Spur-Bücher‘. Von entführten Königskindern ging da die Legende und von hochwohlgeborenen Erben, die in grauseligen, unergründlichen Burgverließen für immer lebendig begraben der Welt Lebewohl sagen mussten ... Das war sooo spannend.

O Johann Wolfgang, du Liebling unserer Pädagogen, verzeih mir ... weder habe ich damals die Geschichte des Götz in meinem Herzen hin- und herbewegt, noch über deren tieferen Sinn nachgegrübelt.

Unser Deutschlehrer, Herr Junghut war ein großer dunkelhaariger Mann. Wir, eine reine Mädchenklasse, fanden ihn unsagbar schön und ‚toll‘. Dabei war er schon alt (vierzig!) außerdem verheiratet, beides Attribute, die ihn für uns nur noch interessanter und anziehender machten.

Bei ihm lasen wir also das Schauspiel vom Ritter mit der eisernen Hand. Laut. Mit verteilten Rollen. Wir würden es später vielleicht sogar aufführen. Jede von uns hatte vor sich auf dem Pult ein Exemplar von Goethes Dramen liegen, in das frühere Schülergenerationen Hochwichtiges hineingekritzelt hatten. Die Bücher rochen nach Moder, weil sie mit anderen Lehrmitteln zusammen in einem feuchten Bunker gelagert worden waren. Der Bomben wegen.

Dann kam der Tag der Tage. Es nahte der große Augenblick, wo wir zu der ‚Stelle‘ kamen, dem wüstesten Zitat aller Zeiten. Denn Unflätigeres als dieses schien es auf Erden nicht zu geben. Zumindest nicht für uns.
Da arbeiteten sich die Mädchenstimmen immer näher an jenen sagenhaften Satz heran. Wispern. Aufklingendes Lachen wurde schamrot unterdrückt. Was waren wir doch für sittsame kleine Wesen!

Natürlich hatten wir schon am Jahresanfang, als die Bücher verteilt wurden, gleich nachgeschlagen und enttäuscht sehen müssen, dass die letzten drei Worte des Zitats, die unsäglichen, in unserer Ausgabe überhaupt nicht drin standen. Statt dessen waren da in der Zeile, wo sie eigentlich hingehörten, drei lange Bindestriche. Strich Strich Strich - - -.
Wir alle wussten: was nicht dastand, durfte nicht vorgelesen werden. Wie schade! Wo wir doch seit Tagen auf diesen berüchtigten Text lauerten. Vielleicht aber sollte man ihn trotzdem aufs Tapet bringen? Ihn Herrn Junghut entlocken? Dafür könnte eine von uns sich dumm stellen. Anni vielleicht? Bei der war es glaubwürdig. Die brauchte Junghütchen nur zu fragen, wie dieser berühmte Satz eigentlich nun in Wirklichkeit ... und was daran so verboten und fürchterlich ...? Er würde puterrot werden und endlich seine hochmütige Ruhe verlieren. Interessant, wie es ihm gelingen würde, sich aus der Affäre zu ziehen!

Wir wollten es kaum glauben, aber da sollten hier und da versteckte Goethe-Ausgaben existieren, worin dieser alleranstößigste Satz des Universums tatsächlich in vollem, fäkalischem Wortlaut geschrieben stand! Musste ja wohl...
Woher sollte die Menschheit ihn sonst kennen?. Andererseits: Das konnte nicht wahr sein! So etwas überaus Unanständiges, Hochunflätiges konnte man doch nicht einfach in ein Buch hineindrucken? Zu Goethes Zeit anscheinend schon. Aber ... 1948 ... niemals!

Glucksend, kichernd lauerten wir auf jedes Wort, als Hilde Mai, die gerade die Rolle des Götz innehatte, mit vollem Einsatz ihrer Vorlesekunst auf die bewusste Textstelle lossteuerte, ihr sozusagen mit der Stimme entgegenhechtete. Nun war Hilde nur noch Silbenlängen vom Unaussprechlichen entfernt, das, wenn es schon nicht vollständig im Buch stand, so doch fühlbar durch die Luft des Klassenzimmers geisterte.
Hilde las im Text:
"Mit wem redet ihr!
Bin ich ein Räuber!
Sag deinem Hauptmann ...
vor Ihro kaiserliche Majestät hab ich wie immer schuldigen Respekt.
Er aber, sags ihm,
er k ... k ... k ... "
"Ich kann nicht, ich kann nicht!" Sie glühte knallig wie eine reife Tomate. Gickelte, krümmte sich, schaffte kein vernünftiges Wort mehr, bis sie ausflippend, vom Lachkrampf gefällt, japsend, mit Brust und Armen über ihrem Pult hing.
"Ihr müsst doch nur das Dastehende ablesen", meinte Herr Junghut langmütig, "ist das so schwer? Wer übernimmt?"

Ute Kleinmeier übernahm. Ute, unser allseits anerkannter Klassenwinnetou.
Ute las:
"Sag deinem Hauptmann,
vor Ihro kaiserliche Majestät hab ich wie immer schuldigen Respek t...
Er aber, sags ihm,
er k a n n mich ..."
- - -
"Mal morgen früh" rutschte ihr noch raus. Wir brüllten los. Sie hatte einfach improvisiert. Aus jugendlichem Übermut... oder war es notwendige Ergänzung, damit der Satz rund, voll und nicht so dürftig klang. Vielleicht, weil Ute instinktiv spürte, dass da noch was hinmusste ...?
"Er kann mich mal morgen früh." Sie wiederholte es trotzig.
Wir trampelten und lachten uns halb kaputt wie die Kindsköpfe, die wir nun eben waren.. Kicher! Kringel! Brüll...
"Mädels...." Junghut hüstelte leise.
Die Klasse tobte.
Da klatschte der Lehrer dreimal in die Hände: "Ruuuuuuhe!"
So ein Spielverderber! -
Er sagte: "Weiter im Text. Nächstes Kapitel. Wer will lesen?"
Da waren wir doch irgendwie schrecklich enttäuscht, weil der Spaß schon aufhörte, bevor er richtig begonnen hatte ...
*
In den folgenden Jahren lernten wir andere Werke von Goethe kennen und respektieren: Sein Epos „Herrmann und Dorothea“. Oder „Torquato Tasso“...Wir arbeiteten uns im Deutschunterricht da durch. Aber mühsam. Unter der Bank verschlangen wir heimlich die Gedichte der Mascha Kaleko, obwohl die ( im Nachhinein gesehen! ) auch nicht das Gelbe vom Ei sind. Nachts im Bett mit Taschenlampenbeleuchtung verbohrten wir uns in die ( furchtbar gewagten! ) Werke der Colette, die da hießen: „Cherie“ und „die Fessel“, solche Sachen eben, die unseren Vorstellungen vom wahren Leben so richtig entgegenkamen. Natürlich war uns klar, dass solcher Stoff absolut nicht dem Geschmack des von uns heißgeliebten Herrn Junghut entsprach.

Also ... für Goethes Prosawerke war ich anscheinend als Mädchen nicht reif genug. Doch seine POESIE gefiel mir über die Maßen. Denn in mir wohnten zwei Seelen. Eine neugierige, höchst irdische, die bald nur noch an Männer ( nicht an Jungen!) und an jenes Unsagbare und Unbegreifliche dachte, das man Liebe nannte und von dem uns in der Schule nie wirklich etwas erzählt wurde. Meine zweite Seelenhälfte war die luftige, ätherische, die ‚Höheres‘ wollte und zum Himmel stürmte. Mit Goethes Gedichten auf den Lippen.
Solchen, wie diesem hier:

Die Sonne tönt nach alter Weise
in Brudersphären Wettgesang
und ihre vorgeschriebene Reise
vollendet sie mit Donnergang.
Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke,
wenn keiner sie ergründen mag,
die unbegreiflich hohen Werke
sind herrlich wie am ersten Tag.

Auch das Lied an den Mond schien der Poetenfürst wie für mich geschrieben zu haben. Für das Mädchen, das ich in jenen Jahren war. Es beschrieb all die Sehnsucht und Traurigkeit meines jungen Herzens:

Füllest wieder Berg und Tal
still mit Nebelglanz,
lösest endlich auch einmal
meine Seele ganz;
...
Fließe, fließe lieber Fluss,
nimmer werd ich froh;
So verrauschte Scherz und Kuss
und die Treue so..
...
Selig, wer sich vor der Welt
ohne Hass verschließt,
einen Freund am Busen hält
und mit dem genießt,
was von Menschen nicht gewusst,
oder nicht bedacht,
durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.

Und dieses. Beim lauten Lesen fing ich an, vor lauter Pathos zu beben, so sehr berührten mich die schönen Worte:

Es fürrrchte die Götter
das Menschengeschlecht!
Sie halten die Herrschaft
in ewigen Händen
und können sie brauchen,
wie's ihnen gefällt.
Der fürchte sie doppelt,
den je sie erheben!
auf Klippen und Wolken
sind Stühle bereitet
um goldene Tische.
Erhebet ein Zwist sich,
so stürzen die Gäste,
geschmäht und geschändet
in nächtliche Tiefen
und harren vergebens,
im Finstern gebunden
gerechten Gerichtes.


Ich war v e r r ü c k t nach Pathos. Es war mir vertraut. Draußen in den Wiesen schmetterte ich das Lied der Parsen mit aufgewühltem Herzen und erhobener Stimme durch die Nacht.

Ich kann nicht Beispiele von Goethes Lyrik hier endlos aufschreiben, doch dachte ich damals - und denke zuweilen noch heute - es gibt keine schöneren deutschen Verse unter dem Himmel.

Wenn der uralte heilige Vater
mit gelassener Hand
aus rollenden Wolken
sengende Blitze über die Erde sät,
küss ich den letzten Saum seines Kleides,
kindliche Schauer treu in der Brust.....
Denn mit Göttern
soll sich nicht messen
irgendein Mensch.
Hebt er sich aufwärts
und berührt mit dem Scheitel die Sterne,
nirgends haften dann die unsichern Sohlen
und mit ihm spielen
Wolken und Winde...
Steht er mit festen,
markigen Knochen
auf der wohlgegründeten, dauernden Erde,
reicht er nicht auf,
nur mit der Eiche
oder der Rebe
sich zu vergleichen.
Was unterscheidet Götter von Menschen?
Dass viele Wellen vor jenen wandeln,
ein ewiger Strom:
Uns hebt die Welle,
verschlingt die Welle,
und wir versinken.
Ein kleiner Ring
begrenzt unser Leben,
und viele Geschlechter
reihen sich dauernd
an ihres Daseins
unendliche Kette.

Das Ganze berührte mich unsagbar, als ich dreizehn war. „Das Herrlichste, das je gedichtet wurde“, dachte ich. Ich liebte die Klangfülle. Ich betete die Zeilen an. Und ich verstand sie sogar.

Leicht überspannte Wesen waren wir alle. Wir hielten uns an die hehren Dinge. Strebten nach dem Edlen, Schönen. Die Worte des Götzzitats und ähnlich ‚schamloses Gerede‘ nahmen w i r nie in den Mund. Alles Niedere war uns ein Gräuel. Ich kann mich zumindest nicht erinnern, jemals ein derbes Wort von Freundinnen gehört oder gar selbst gesagt zu haben. Wir waren tatsächlich zartbesaitete und züchtige kleine Weibchen wie sie im Buch stehen.

Viele von uns ‚studierten‘ nur bis zur Mittleren Reife. Die Eltern konnten es sich nicht leisten, oder wollten nicht, dass wir ihnen noch jahrelang auf der Tasche lägen. Und wenn schon „studiert“ werden musste, dann durften das unsere Brüder. Wir Mädchen sollten etwas Nettes arbeiten, wobei man sich die Hände nicht schmutzig machte. Wir sollten ein bisschen für die Aussteuer sparen und uns einen Mann suchen. Eine gute Partie zu ergattern, war unsere familiäre und gesellschaftliche Pflicht. Einen akzeptablen Mann zu finden, der etwas hatte und etwas ‚darstellte.‘ Beruflich. Damit wir angesehen und versorgt sein würden. Mich widerte das an. Damit würde ich mich nie nie zufrieden geben ...

Ich wollte mitten drin sein im großen Geschehen, ich wollte Liebe, ich wollte Leidenschaft, ich wollte das, was die Welt bot, bis ins Tiefste auskosten, erleben. Ich wollte Gefahr. Ich wollte Wunder. Ich wollte a l l e s .

Und auf ging es: La Vie. Wenig gebildet wie wir waren, fanden meine Freundinnen und ich Jobs als kleine Angestellte auf Ämtern oder in den Büros der aufblühenden Konzerne. Aber ich wusste, ich würde da nicht lange bleiben. Ich wollte das andere vom Leben. Ekstase.

Schließlich:
Unsicher und scheu, doch mit hohen Hoffnungen für die Zukunft – immerhin gehörte ja auch ich zur Generation des erblühenden „Fräuleinwunders“ der neuen Zeit – also ... mit träumenden Augen stürzte ich mich blindlings ins Abenteuer ... und war auf einmal mitten drin in diesen unsäglichen Neunzehnhundertfünfziger-Jahren.



Copyright Irmgard Schöndorf Welch
neu bearbeitet am 26.05.2005
 
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Kommentare  

Herrlich! Den Götz habe ich auch neulich gelesen, und ich muss sagen, ich habe mich gelangweilt, obwohl ich wesentlich älter bin als zwölf.

Ihr wart damals wirklich brav. Heutige Mädchen stören sich bestimmt nicht am Götz-Zitat, sondern schreiben selber Geschichten, in denen die von Götz benannte Aktion wortwörtlich ausgeführt wird.


Parallaxe (20.08.2011)

Hallo Osdakrisy
Erstmal danke fürs Lesen und Deinen Kommentar.

Ja, ich war mir von Anfang an bewusst, dass man die vielen Zitate beanstanden wird. Aber der Grund, warum ich es dennoch so gemacht habe, ist, weil ich Goethe und seine schönen Verse, eingebettet in diesen Text, den Lesern, die sie veilleicht noch aus der Schulzeit kennen, wieder näher bringen wollte.

Ja, ich weiß, das gehört sich nicht, in einer Kurzgeschichte so viele Zitate einzubauen. Deine Kritik ist durchaus berechtigt. Aber in diesem Fall habe ich einfach mal die Regeln über Bord geworfen.
Goethe zuliebe

Freundliche Grüße
Irmgard


Irmgard (22.08.2003)

da keiner ein kommentar geschrieben hat, mach ichs: ich finds nicht gut...
die sprache ist nicht so schlecht, aber die hälfte der geschichte sind zitate...


Osdahkrisy (22.08.2003)

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