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4 Seiten

Briefwechsel

Trauriges · Kurzgeschichten
Hausübung zu "Die Leiden des jungen Werther"

4. Mai 2003
Liebe Julia,
danke für deinen Brief. Es ist schön, deine Schrift zu lesen und dein Leben immer besser kennen zu lernen. Sieh den Konflikt mit deiner Mutter nicht so eng, vielleicht muss sie erst mal mit sich selbst klar kommen. Da man sich selbst ja wichtiger nehmen sollte, aber man seine Kinder über alles liebt, ist es halt ein richtig schwieriger Zwiespalt, in dem deine Mutter steckt. Schließlich muss sie ja mit ihren eigenen Problemen zurecht kommen - arbeiten gehen, für euch sorgen, kochen, euch bei Hausübungen helfen und dir und deiner kleinen Schwester auch noch seelische Unterstützung geben. Ist sicher alles ein schwieriger Job. Also gib' nicht dir die Schuld, sondern gib ihr Zeit! Du kannst ja mal versuchen, mit ihr darüber zu reden.
Oh, ich sehe gerade, es ist schon sehr spät, ich muss mich noch fertig machen. Heute ist die Geburtstagsfeier eines Freundes, ich schreib dir beim nächsten Mal mehr.
Man liest sich.

8. Mai 2003
Liebe Julia,
ein schönes Gefühl, heim zu kommen und zu hören, dass man Post bekommen hat. Ich hätte den Brief ja schon gestern lesen müssen, aber ich war nicht zu Hause.
Du schreibst, dass du mit deiner Mutter gesprochen hast. Finde ich gut, es ist gut zu lesen, dass dir mein Ratschlag geholfen hat. Auch wenn das Gespräch nicht sehr zielführend war, finde ich, es war ein guter Anfang. Die Lösung für alles, ist meiner Meinung nach, reden. Reden, reden, reden. Was soll es denn bringen, alles nur in sich hinein zu fressen? Die Probleme versickern nicht einfach so, sie kommen wieder hoch. Die Vergangenheit wird dich einholen, und dann fängt alles von vorne an. Am besten ist es doch, den Konflikt oder die Sache, die dich bedrückt, mit der Person, die es betrifft, auszudiskutieren.
Sonntag ist doch Muttertag, wäre ein guter Zeitpunkt dich mit deiner Mutter zusammenzusetzen.
Ich werde nachher weiter schreiben, ciao.

10. Mai 2003
Dass ich nachher weiter schreiben wollte, war doch eher einer von den Vorsätzen, die man nicht einhalten kann. So ist das immer. Es ist jetzt schon ziemlich spät, meine Schwester ist heute in die Stadt gegangen, und mein Vater ist essen, ich soll auf den Hund aufpassen und bin allein zu Hause.
Mein Neffe war heute zu Besuch, ich habe mit ihm gespielt, er ist ja so lieb. Er hat mir viel erzählt, vom Kindergarten und seinen Freunden dort. Sie haben gestern für Muttertag kleine Geschenke gebastelt. Das ist irgendwie eine Zeit, die ich verdrängt haben muss. Ich hab ja schon einmal kurz erwähnt, dass meine Mutter gestorben ist, als ich fünf war. Ja und so hab ich die Muttertagsgeschenke, die wir im Kindergarten oder in der Volksschule machen mussten, zwar immer mitgemacht, jedoch danach entweder weggeworfen oder bei meiner Oma gelassen. Alle hatten sie dieses Grinsen, das an ein Honigkuchenpferd erinnern soll, aufgesetzt und in großer Vorfreude ihre kleinen Geschenkchen für ihre Mamis gebastelt. Ich bin immer nur sehr lustlos daneben gesessen. Wahrscheinlich fühlte ich mich wie im falschen Film.

Ja, falscher Film, so ist das noch immer. Ich bin jetzt hier in meinem Zimmer. Es riecht noch immer nach frischem Holz, also seit ich mein Zimmerchen mit neuen Regalen beglückt habe. Ich sitz in meinem gemütlichen Sessel, kuschele mich in meine weiche Decke, das Fenster ist offen zwecks lüften, und ich rauche eine Zigarette nach der anderen. Es kommen schon wieder diese Gedanken. Warum? Warum gerade sie? Es gibt doch so viele Menschen auf der Welt, und sie musste sterben. Aber wie hast du doch so schön gesagt, Julia? Nur die Besten sterben jung! So muss es doch tatsächlich sein. Nicht der Mörder stirbt, sondern das Opfer. Nicht der Unfallverursachende gibt sein Leben, sondern das Unfallopfer. So muss es gewesen sein. Er kommt um die Kurve, Mama will über die Straße, dann passiert es. Ein Tausendstel einer Sekunde lang. Und dieser winzige Augenblick bestimmt solche grauenvolle Schicksale in so vielen Leben.

Mir kommen schon wieder die Tränen, ich rauche noch fertig, dann muss ich ins Bett.
Bis bald.

11. Mai 2003
Meine liebste Freundin, Julia,
heute ist es also soweit. Wie jedes Jahr, der zweite Sonntag im Mai: Das für andere wohl kommerziellste Fest des Jahres, der Tag der Floristen, der Tag an dem die Mütter zelebriert und beschenkt werden: Muttertag. Ich glaube, dass niemand, der seine Mutter noch bei sich hat, wissen kann, wie sehr man sie eigentlich schätzen sollte. Das muss wohl oder übel der einzige Vorteil sein, den mir dieses Unheil gebracht hat. Ich weiß, was sie wert ist, Julia. Weißt du das auch? Du solltest es!
Ich bin doch gerade hochpubertär, wie gern würde ich doch mit ihr streiten wollen, mir von ihr Hilfe in Sachen Liebe geben lassen, ihr Geheimnisse erzählen, und sie einfach nur sehen wollen, wie sie am Abend kocht oder in der Früh ihre Zigarette raucht und ihren Kaffee trinkt. Ich würde so gerne wissen, was sie für ein Mensch ist. Ob sie Kaffee überhaupt mag, ob sie überhaupt rauchen würde? Vielleicht wäre sie gar nicht mehr mit meinem Vater zusammen, sondern hätte eine Affäre mit einem jungen Mann. Würde sie mich zum Nachmittagsunterricht bringen oder würde sie arbeiten müssen?
So viele Fragen, keine Antworten.
Julia, ich hoffe, du weißt deine Mutter zu schätzen. Nutze die Zeit mit ihr aus, jeden Tag, als würde es der letzte mit ihr sein.
Ich hab sie doch mal gehabt, aber ich war so klein. Ich weiß nicht, was das für ein Mensch war, von dem ich da abstamme. Welche Charakterzüge ich wohl von ihr habe und ob ich ihr denn ähnlich sehe?
Vor kurzem hab ich das Freundschaftsbuch meiner älteren Schwester entdeckt. Und sie steht drin! Soviel Neues, und so viel schon Gewusstes habe ich gelesen. Hättest du dir denn vorstellen können, dass sie so groß war wie ich es jetzt bin? Nie hätte ich mir das gedacht! Sie schrieb, ihr Lieblingsbuch war ‚Liebe und Haß’ von Irenäus Eibl-Eibelsfeldt. Ich habe mir vorgenommen, das zu lesen, vielleicht komme ich ja durch dieses Buch an weitere Erkenntnisse über die Person, die mir entschwunden ist.
Zuviel von mir, liebe Julia, erzähle mir, was gibt es Neues bei dir?

12. Mai 2003
Hallo meine Liebe,
das war ja doch ein ziemlich sentimentaler Tag gestern. Aber danke, dass ich dir meine Gefühle und Gedanken schreiben konnte. Es war mir doch eine große Hilfe. Wie ich dir vor ein paar Tagen schon geschrieben habe – reden hilft. Ich schließe damit zwar von mir auf andere, aber es hilft wirklich (ja, auch wenn es nur schreiben ist)! Und eine andere Sache, die ich dir auch schon erzählt habe, die Vergangenheit, hat mich wie jedes Jahr eingeholt. Sie war wieder da. 13. Mai (und verdammt noch einmal, das ist morgen!) 1992, sie und ihr Unfall. Und ich verdamme Gott für diesen seiner Einfälle – ich habe zu sehen müssen! Ich wollte es nicht sehen! Es wird mir auf ewig nachhängen. Dieses Bild in meinem Kopf. Diese Situation. Dieser Schauplatz, der noch dazu auf meinem heutigen Schulweg liegt! Gott, falls es dich überhaupt geben sollte, ich werde es dir nie verzeihen! Auch nicht, dass der Jahrestag ihres Unfalls so knapp an Muttertag liegt – in den besten Jahren fallen die zwei Daten sogar zusammen! Was für ein Glück! Julia, was für eine verdammte, zynische Welt!
Ich mag nicht mehr darüber nachdenken, ab morgen ist wieder genug Zeit, um die Sache zu verdrängen. Ich weiß, ich widerspreche mir gerade. Aber ich mag eben nicht das ganze Jahr lang darüber nachdenken. Zu diesem Zwecke gehe ich auch nur aus bestimmten Anlässen auf den Friedhof. Der nächste Termin ist wieder im August, Sterbetag. Etwas, an das ich mich im echten Leben (also nicht nur als Floskel ‚Sterbetag’ in meinem Kalender) zum Glück nicht erinnern kann. Und das stimmt auch. Es ist ein Glück. Der Unfall ist schon genug.
Schreibe bald wieder!
Mit einem lieben Gruß verabschiede ich mich.

13.11.03
 
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