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5 Seiten

Doch ich liebe nur dich allein

Erotisches · Kurzgeschichten
© Zerocool
Ich stand im Bus neben meinem Freund und erinnerte mich daran, was er gestern Abend gesagt hatte, als er im Bett neben mir lag.

"Schatz, ich wohne im Getto dieser scheiß Stadt. Das willst du nicht sehen", beschämt hatte er den Blick abgewandt und meine Bettdecke über seinen nackten Oberkörper gezogen.
"Doch, will ich. Milan, es ist mir egal, wo du wohnst. Ehrlich", hatte ich gesagt und ihm mit dem Zeigefinger sanft die braunen Haare aus der Stirn gestrichen. Ich wusste, wie sehr er das mochte.
"Es muss dir nicht peinlich sein", fügte ich hinzu, als er nicht reagierte.
"Also gut. Morgen nach der Schule?" endlich sah er mich wieder an.
"Ja. Ich freu mich. Wirklich", ich presste meine Lippen auf seine. Augenblicklich begannen die Ameisen in meinem Bauch ihr Wettrennen, so wie sie es immer taten wenn Milan mir näher kam. Ich genoss jede seiner Berührungen, wollte nicht, dass sie jemals aufhörten.
"Ich liebe dich", ich konnte seinen warmen Atem auf meiner Haut spüren, als er in mein Ohr flüsterte.
Kurz darauf war er nach Hause gegangen.

Nun befanden wir uns im Bus. Auf dem Weg zu ihm. Wir hatten einen langen Schultag hinter uns und ich war müde. Trotzdem freute ich mich darauf, Milans Familie kennen zu lernen. Er kannte meine seit einem Monat - seit gut drei Monaten waren wir zusammen. Ich hatte es kaum erwarten können, ihn meinen Eltern vorzustellen. Besonders meine Mutter hatte ihn bereits fest in ihr Herz geschlossen. Zwei Monate lang hatte ich darüber nachgegrübelt, warum Milan mich seiner Familie nicht vorstellen wollte. Als ich den Grund dafür erfuhr, hätte ich vor Erleichterung fast gelacht. Nur weil seine Familie kein Geld hatte...

"Bei der nächsten Station müssen wir aussteigen", bemerkte Milan und schloss mich vorsichtig in die Arme. Ich lehnte meinen Kopf an seine Brust und hörte sein Herz schlagen.
Ich war froh, dass er zu den Typen gehörte, die ihre Gefühle auch in der Öffentlichkeit zeigen konnten.
Es war ein wahrer Viehtransport. Wie die Tiere eingepfercht standen Schüler aller Klassenstufen eng beieinander und eine ekelhafte Geruchsmischung aus Schweiß und Deo erfüllte die ohnehin stickige Luft. Endlich entkamen wir den vielen Menschen im Bus.
Es tat gut frische Luft zu atmen - oder das was man hier wohl als frische Luft bezeichnete. Ein heruntergekommenes Hochhaus markierte den Beginn von Milans Heimat - dem Gettoviertel, wie er es nannte. Zwei Gehminuten bis zum Industrieviertel. Autos rasten an uns vorbei. Es herrschte der Mittagsverkehr einer Großstadt. Kein besonders ruhiger Ort zum Wohnen.
"Wir müssen ein Stück gehen. Schau niemanden zu lange an, ja?" besorgt blickte er mir in die Augen.
Das erste was ich an ihm geliebt hatte, waren seine unglaublich großen, braunen Augen, nur schwer konnte ich meinen Blick davon trennen.
"Okay.“
Er verschränkte seine Finger in meinen, dann machten wir uns auf den Weg. Hässliche graue Plattenbauten zierten asphaltierte Wege, wohin man auch sah. Es gab nichts anderes – nicht mal einen Spielplatz, keine schnuckeligen Eigenheime und keine mächtigen, sattgrünen Bäume. Schweigend gingen wir nebeneinander her und Milan warf nervöse Blicke in alle Richtungen. An manchen Ecken saßen Teenager, die bereits am Mittag Bier tranken, kifften oder einfach herumsaßen und die Julisonne, die hier fehl am Platz wirkte, auf ihre Köpfe strahlen ließen. Vor einem der grauen Häuser blieb Milan stehen.
"Das ist es", zaghaft nickte er in die Richtung des Hauses und zog seine Hand weg.
Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Schön war es nicht. Das wusste Milan wahrscheinlich sogar besser als ich.

"Meine Mama freut sich schon auf dich", unterbrach Milan das peinliche Schweigen.
"Ich mich auch auf sie. Ist dein Dad auch zu Hause?"
Augenblicklich senkte Milan seinen Blick.
"Du weißt doch, wir kommen aus Serbien", Milan kickte einen Kieselstein zur Seite.
"Ähm, ja", ich wusste nicht, was Milan mir damit sagen wollte.
"Mein Papa ist gestorben, als ich drei war. Deswegen ist Mama damals mit mir nach Deutschland gekommen. Sie redet nicht viel darüber."
Wieder wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte nicht gewusst, dass Milan keinen Vater mehr hatte.
"Das tut mir leid", murmelte ich bloß und umarmte ihn.
Die Wärme seines Körpers tat gut, gab mir Kraft. Seitdem Milan vor einem guten Jahr in meinem Leben aufgetaucht war, hatte sich alles verändert. Ich war nicht nur ausgeglichener – Milan hatte meinem Leben einen ganz neuen Sinn gegeben. Ich war sechzehn und hatte noch nie solche Gefühle für einen Jungen gehabt.
"Du kannst nichts dafür", er legte seinen Kopf auf meinen und wieder tat es gut, seine Nähe zu spüren.
Wir verweilten einige Sekunden in dieser Position.
"Lass uns hochgehen", Milan löste sich langsam von mir und wandte sich der Eingangstür, die mit Graffitis übersäht war, zu. Er drückte auf einen der gelblich verfärbten Klingelknöpfe.
"Ja?" nuschelte eine freundliche Stimme aus der Gegensprechanlage, begleitet von einem seltsamen Knirschen.
"Ich bin's, Milan."
Ein Summen ertönte und Milan stieß mit einem Ruck die Tür auf.
"Die Tür ist meistens kaputt, man braucht ein bisschen mehr Kraft", erklärte er.
Ich lächelte und wir betraten den Flur. Es roch vergammelt - nach Zigaretten und Essen. Die Briefkästen waren ebenfalls mit bunten Bildern beschmiert. Manche waren zerbeult und andere schienen ganz kaputt zu sein. In einigen stapelten sich die Zeitungen der letzten zehn Wochen.
"Sind nur drei Treppen. Für 'nen Aufzug, hat's leider noch nicht gereicht", er sah zielstrebig an meinen Augen vorbei.
"Ist doch nicht schlimm", ich versuchte, ihm einen Blick zu zuwerfen, der sagte, dass es mir egal war. Er nahm meine Hand und ich drückte sie. Endlich lächelte er - und ich hatte das Gefühl, dass er wirklich lächelte. Nicht nur höflichkeitshalber. Er schien wirklich erleichtert zu sein.

"Hey", begrüßte er seine Mutter, eine kleine, korpulente Frau, die exakt dieselben Augen besaß, wie Milan.
"Hallo ihr beiden", sie schloss ihn in die Arme.
Er ließ es bereitwillig geschehen. Ich lächelte sie an, als ich höflich ihre Hand schüttelte.
"Kommt doch rein", sie sprach ein gebrochenes Deutsch - aber das machte sie mir sympathisch.
Milan nahm meine Hand und zog mich hinter sich in die kleine Wohnung. Hier roch es viel angenehmer, als in dem Hausflur. Es waren billige Möbel, die nicht zueinander passten, aber Milan und seine Mutter hatten das Beste daraus gemacht. Die Wand war mit Fotos tapeziert, die ausschließlich Milan zeigten - Milan als Säugling im Kinderwagen, Milan als Kleinkind, Milan im Kindergarten, Milan auf einer Faschingsfeier, Milan an Weihnachten, Milan bei seiner Einschulung, Milan auf seinem demolierten Fahrrad und Milans Klassenfotos.
"Milan hat soviel von dir erzählt. Es ist toll dich endlich kennen zu lernen", sie strahlte mich an.
"Ich habe Ihnen auch etwas mitgebracht", ich zog eine Schachtel Pralinen aus meiner Tasche, die ich gestern Abend noch erstanden hatte. Schließlich wollte ich einen guten Eindruck machen.
"Das ist sehr toll von dir", ihre Augen strahlten als ich ihr die Schachtel übergab.
"Nett, Mama. Es heißt: Das ist sehr nett von dir", lachte Milan.
"Oh", seine Mutter musterte begeistert die Packung.
"Na ja, es sind ja nur Pralinen", ich zuckte gleichgültig mit den Schultern.
Noch nie hatte ich einen Menschen gesehen, der sich so über ein paar Pralinen freuen konnte.
"Vielen, vielen Dank. Du bist sehr freundlich. Jetzt müssen wir aber essen. Euer Tag war bestimmt anstrengend", sie eilte in die winzige Küche, die direkt neben der Wohnungstür lag.

Ein kleiner Tisch war unter das Fensterbrett gequetscht worden. Es war gerade genug Platz für vier Personen da. Auch hier war die Einrichtung ein buntes Sammelsurium aus billigen Möbeln, die mindestens so alt waren wie Milan.
"Setzt euch doch."
Wir befolgten ihre Aufforderung. Ich kam mir unbehaglich vor. Milan und seine Mutter hatten es nicht verdient, hier leben zu müssen. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich mit ihnen getauscht und ihnen alles Geld der Welt geschenkt.
"Du machst ihn sehr glücklich. Milan redet sehr viel von dir. Ich bin froh, dass er dich hat", fuhr seine Mutter fort, während sie den Tisch deckte.
Milan lief rot an. Ich liebte seine bescheidene, zurückhaltende Art mindestens genauso wie seine Augen. Und ich bewunderte seinen Ehrgeiz. Er hatte große Pläne, wollte was aus seinem Leben machen. Er kämpfte für seine Ziele und war gut in der Schule - er wollte Medizin studieren, träumte davon, seiner Mutter ein kleines Haus oder wenigstens eine Wohnung in einem besseren Stadtviertel zu kaufen.
"Kann ich Ihnen helfen?", ich wollte nicht herumsitzen und Milans Mutter bei der Arbeit zusehen.
"Nein, nein. Das ist sehr - Milan wie sagt man noch mal?" sie legte das Besteck vor uns hin.
"Nett", er verteilte die Teller, die seine Mutter auf den Tisch gestellt hatte.
"Also, das ist sehr nett von dir. Aber du bist mein Besucher. Besucher müssen nicht helfen. Nicht in Serbien und nicht in Deutschland. Und du kannst Du sagen, wenn du möchtest."
"Sehr gerne."

Nach dem Mittagessen - es gab Spaghetti, wofür Milans Mutter sich mindestens dreimal entschuldigte, da sie es nicht für angemessen hielt, der Freundin ihres Sohnes Discounter-Nudeln zu servieren - gingen wir auf sein Zimmer. Es war nicht viel größer als die Küche. Poster bedeckten die Wände, von denen man nur noch erahnen konnte, dass sie eigentlich weiß waren.
"Und?" unsicher musterte er mich.
"Deine Mum ist total nett. Ich mag sie", Milan umarmte mich.
Ich konnte den Stein, der von seinem Herzen fiel, fast hören.
"Milan, ich mag dich weil du so bist, wie du bist", fuhr ich fort und küsste ihn auf die Wange,
"Es ist mir so egal wie viel Geld ihr habt und wo ihr wohnt. Du kannst stolz auf deine Mutter sein."
Vorsichtig küsste er mich und wieder liefen die Ameisen in meinem Bauch Amok.
Als ich meine Augen schloss und seine Zunge meine berührte, hatte ich das Gefühl zu fliegen. In dem Moment wusste ich, dass Milan keineswegs arm war. Er besaß zwar keine Millionen, aber eine Mutter, die ihn über alles liebte. Die ihn zu dem gemacht hatte, was er war: Einer der reichsten Menschen der Welt.
 
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Kommentare  

Hey ihr beiden :),
vielen lieben Dank für eure Kommentare.

@Freiheit: Ganz vielen lieben Dank für deine Hinweise. Es sind immer so diese Kleinigkeiten, die mir selber am wenigsten auffallen :). Vielen, vielen Dank :).


Zerocool (17.03.2007)

Ich finde deinen Schrieb sehr schön, obwohl ich am Anfang fast wieder weggeklickt hätte.
Das war an der Stelle "Schatz, ich wohne im Getto dieser scheiß Stadt." Da dachte ich mir 'OMG, nicht schon wieder so eine Schubladensache'.
Das war allerdings ein falscher Ersteindruck, wie ich jetzt nach dem Durchlesen feststelle.

Was du ganz besonders gut getroffen hast, waren all die kleinen Momente zwischen den Beiden. Die Wärme, die Nähe, die Ameisen im Bauch. Da hast du wunderbare Details erschaffen, ohne einen darin zu ertränken – Diese Details waren das war das Beste, was ich seit Wochen (hier) gelesen habe.

Allerdings ist es nicht so, dass du nicht noch daran feilen solltest/könntest. Hier ein paar Formulierungen, die mir besonders aufgefallen sind:

>"Hässliche graue Plattenbauten zierten asphaltierte Wege, wohin man auch sah."

Gebäude zieren einen Weg? Flankieren sie nicht eher?

>"Die Briefkästen waren ebenfalls mit bunten Bildern beschmiert."

Wie, mit Bildern beschmiert? Bilder aufgeklebt? Mit Bildern bemalt/besprayed?

>"In einigen stapelten sich die Zeitungen der letzten zehn Wochen."

'Der letzten Wochen' würde IMHO besser klingen, oder hat Prota die Zeitungen gezählt?

>"Hey", begrüßte er seine Mutter, eine kleine, korpulente Frau, die exakt dieselben Augen besaß, wie Milan.

Dieselben Augen? Oder die Gleichen?!


Freiheit (17.03.2007)

Eine schöne kleine Milieustudie. Manchmal macht Liebe nicht blind, sondern sehend...
Glückwunsch zum Erstlingswerk!

lg


Nicolas van Bruenen (17.03.2007)

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