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Reichtum

Kurzgeschichten · Für Kinder
Gestern hatte Lusja Geburtstag. Sie ist sechs geworden. Mama hatte an ihre Zöpfe große weiße Schleifen gebunden, und den ganzen Tag lang fühlte Lusja das Wackeln am Kopf. Sie vollführte eine Bewegung, die Schleifen zwei, sie drehte den Kopf ein Mal, die Schleifen schaukelten zwei Mal. So lief sie mit einer bauschigen, wackelnden Krone umher.

Ein Geschenk gab es nicht. Mama küsste das Töchterchen und versprach, vom Gehalt sofort etwas zu kaufen. Anfänglich war Lusja enttäuscht, doch dann entschied sie, nicht böse auf die Mutter zu sein und das Gehalt abzuwarten.

Sie selbst hatte sich bereits ein Geschenk gemacht. Einige Tage zuvor waren sie in die Stadtbücherei gegangen. Lusja konnte schon lesen und bat die Mama ständig nach Büchern. Aus Bilderbüchern war sie schon herausgewachsen, doch das Geld reichte nicht, um neue Bücher für größere Kinder zu kaufen. Deswegen kam der Mutter der rettende Gedanke, die Tochter in der Bibliothek anzumelden. Dort wählten sie ein großes, schönes Buch mit ungewöhnlichen Zeichnungen aus, auf denen die Tiere und die Menschen wie echt wirkten. Beinahe noch schöner.

Als die Mutter abends die Wäsche in der Badewanne wusch, holte Lusja das Bibliotheksbuch hervor. Sie betrachtete es lange, schnalzte mit der Zunge. Lusja verspürte den unwiderstehlichen Wunsch, diese Schönheit zu besitzen. Sie griff die Schere und schnitt fleißig die Figuren, die Tiere und Menschen aus, breitete sie auf dem Tisch aus und begann mit ihnen zu spielen. Nun waren sie zum Leben erweckt. Man konnte sie umher schieben, ihre zarten Papierarme und Beine bewegen.

Die Figuren begannen mit Lusjas veränderter Stimme zu sprechen: zu flüstern, im Bass zu tönen, zu bellen, zu miauen, zu lachen und zu weinen. Auf dem Tisch wirbelte das Leben. Als sie hörte, dass die Mutter mit dem Waschen fertig war, legte sie die Pracht in eine Schokoladenbüchse. Sie lief hinaus zur Mutter, streckte sich, gähnte gedehnt, wünschte der Mutter eine „Gute Nacht“ und ging schlafen. Noch beim Einschlafen lächelte sie, erinnerte sich an ihr Geschenk.

Am Morgen eilte die Mutter zur Arbeit, Lusja aber blieb zu Haus. Nachdem sie ein wenig Milchreis gegessen hatte, sich an den Herrlichkeiten in der Keksdose erfreut hatte, zog sie sich an und ging aus dem Haus. Vor dem Haus befand sich ein kleines Beet mit ein paar Blümchen. Sie hatten lange gedarbt und sahen erbärmlich aus. Um die Ecke, beim Schuppen fand Lusja eine Pastikgießkanne, schippte mit einem großen Aluminiumbecher abgestandenes Wasser aus dem Bottich hinein und brachte die Wasserfüllung mit hochgekrempelten Ärmeln zu den Blumen.

Von der Straße her ertönten Geräusche. Lusja ließ die Gießkanne auf die Erde sinken und lief zum Tor. Bei den Nachbarhäusern stand ein Pferd. Lusja öffnete das Tor, ging zur Straßenmitte und betrachtete diesen Vorfall. Das Pferd war vor einen Wagen mit gedroschenem Stroh gespannt, stand versteinert, starr. Auf dem Bock thronte ein schwarzes Onkelchen. Es war von dunkler Haut, pechschwarz die Haare und der Bart. Das leuchtend rote Hemd färbte die Schwärze feierlich.

„He, Zigeuner! Dreh den Karren um! Hier ist schon vorigen Monat alles eingetauscht worden!“ rief ihm die Nachbarin, Tante Dascha, von der Schwelle ihres Hauses aus zu.
Das Onkelchen zog die Zügel an, das Pferd setzte sich in Bewegung und zugleich erklang sein laut tönender Aufruf: „Altes Zeeeeu-g! Taaaau-schen altes Zeeee – ug in Not-wen-diiges! ...Aaaltes Ze-euug! Taa-uu-schen in Noot- ween-diges!“

Er bemerkte Lusja und lenkte auf sie zu. Sein breites Lächeln entblößte zwei Reihen erstaunlich weißer Zähne und eine goldene Krone.
„Nun, Mädchen, gibt es zu Hause Sachen zum Tauschen?“
„Welche Sachen denn, Onkelchen?“
„Nun, Kleider, Röcke, Hosen.“
„Hosen haben wir nicht, aber Kleider viele.“
„Vom Mamachen?“
„Ja. Aber was meint ihr – zum Tausch?“
„Nun, ganz einfach!“ lachte der Zigeuner nun noch breiter, „Du gibst mir die Sachen, ich gebe dir…schau mal her!“

Lusja ging auf den Wagen zu und entdeckte im Heu versunkene, geöffnete Pappschachteln mit einer Menge interessanter Dinge. Was dort nicht alles gab: Abziehbilder, Tonflöten, Luftballons mit Pfeifchen, Sonnenbrillen, Gürtelchen aus Metallschlaufen, verschiedenste Abzeichen. Beim Anblick dieses Reichtums blieb ihr die Luft aus.
„Wie? Wenn ich ihnen die Kleider bringe, geben sie mir das hier?“
„Nun, nicht alles, aber vieles davon!“
Lusja konnte es nicht glauben. So viele Reichtümer hatte sie noch nie besessen!
„Und sie Onkelchen, schwindeln sie mich auch nicht an? Sonst komme ich mit den Sachen und sie sind verschwunden.“
„Nein, ich schwindele nicht. Bring, was da ist.“
„Wie – alles bringen?“
„Bring alles.“

Die lief ins Haus. Nicht einmal die Schuhe zog sie an der Tür aus, lief gleich in Sandalen in Mutters Schlafzimmer. Sie öffnete die Schranktüren. „Oh, wie wenig Kleider es sind!“ seufzte sie. Sie dachte daran, dass man ein Kleid nur gegen ein Ding aus der Schachtel tauschen könnte. Doch sie wollte viel. Lusja zog die Kleider und Röcke mit den Bügeln geradewegs auf den Boden. „Wenn ich meine Kleider dazulege, sind es mehr. Und hier ist noch ein Jäckchen!“
Sie türmte Kleider, Röcke, Jacken, auf einen Haufen. Als alle Schränke leer geräumt waren, warf sie einen prüfenden Blick auf den kleinen Kleiderberg, raffte alles auf die Arme und beeilte sich, auf die Straße zu kommen.

Der Zigeuner saß zufrieden und fröhlich. auf dem Wagen. Als er die heran laufende Lusja mit dem Sachenbündel erblickte, sprang er behände vom Bock und ging auf sie zu.
„Nun, prächtig! Zähl schon.“
Sie zählte zweiundzwanzig Sachen. Es stellte sich heraus, dass für jedes einzelne Stück etwas Bestimmtes vorgesehen war: für Pelz - Tonflöten, für die Sachen aus Seide und Satin - Luftballons, für Baumwolle - Abzeichen.

Die getauschten Waren passten genau in Lusjas beide Handflächen. „Welch Reichtum, eine ganze Handvoll!“ das Mädchen traute ihren Augen kaum. Der Zigeuner sprang wieder auf den Wagen, ließ die Zügel gehen, rief das Pferd an „Hopp-hopp, alte Mähre!“ und verschwand so schnell, als wäre er niemals da gewesen.

Lusja breitete die eingetauschten Schätze auf dem Tisch aus und beäugte sie lange mit Freude. Schon bald erschien die Mutter zur Mittagspause.
„Lusja! Wo bist du?“
„Hier bin ich.“
Die Mutter ging der Stimme nach.
„Oh, was ist denn das?“ beugte sie sich über den Tisch und begutachtete den Trödel.
„Das ist jetzt meins.“
„Woher denn, Lusja?“
„Ich hab es eingetauscht“ antwortete die Tochter in belanglosem Ton.
„Wogegen denn?“ interessierte sich die Mutter neugierig.
„Nun, gegen Sachen!“
„Welche Sachen?“ die mütterliche Stimme verlor an Ton. Sie wendete den Kopf und schaute ihrer Tochter aufmerksam ins Gesicht.
„Gegen unsere – gegen welche denn sonst!“ antwortete die Tochter fröhlich.
 
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Kommentare  

Hallo, da bin ich gespannt und freue mich auf weitere Werke von dir. LG Sabine

Sabine Müller (26.03.2008)

Danke, Sabine!
Ich habe noch Erzählungen über Kinder, sind sie aber in russisch. Manche habe ich übersetzt, Du kannst sie hier alle später lesen. Ich freue mich auf Dein Besuch!
Die Geschichte spielt sich in 70-er Jahre in Donbass, UdSSR.


Ludmilla Kulikova (26.03.2008)

Eine klasse geschichte, sehr spannend erzählt. Ich habe die ganze Zeit an die Reaktion der Mutter denken müssen. Ob es Ärger gibt, was passieren wird usw. In welcher Zeit soll die Geschichte spielen? Mir gefällt sie rundum gut. Vielleicht schreibst du ja mal mehr von der Kleinen? Lg Sabine

Sabine Müller (26.03.2008)

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