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5 Seiten

Rigor Mortis

Nachdenkliches · Experimentelles
Mein Wecker klingelt.
Ohne Unterlaß.

Gerne würde ich den Knopf betätigen, das nervige Ding zum Schweigen bringen.
Zehn Minuten länger dösen, bevor ich meinen Sohn wecke, um mit ihm zu frühstücken, sein Pausenbrot schmieren.

Ich ertrage das schrille Klingeln des Weckers nicht mehr, möchte meinen Arm heben, dieses fiese Gerät erschlagen.
Arm befolgt Befehl des Gehirns nicht.
Erschreckt stelle ich fest, daß meine Augenlider genausowenig reagieren wie mein linker Arm.
Wie mein rechter Arm.
Meine Beine.
Ich kann meine Augen nicht öffnen.
Mein gesamter Körper ist bewegungsunfähig.
Abgekapselt von meinem Bewußtsein.

Atme ich noch?
Ich bin mir nicht sicher.

Minutenlang dringt das penetrante Schreien des verdammten Weckers in meine Gehörgänge, übertönt sogar meine Gedanken.
Begreife nicht, was mit mir geschieht, versuche, mit aller Kraft meinen Leib zu bewegen.
Mein Körper widersetzt sich.
Die Lähmung, die mich offenbar erfaßt hat, läßt mich weiterhin steif und festgefroren auf meinem Bett verharren.

Ich habe Angst.
Verstehe nicht.

Möchte meinen Mund öffnen, meinen Sohn rufen.
Doch sowohl die Bewegung der Lippen als auch das in Schwingung versetzen meiner Stimmbänder schlägt fehl.

Kalter Schweiß tritt auf meine Stirn.
Mental zumindest, da ich weder meine Stirn noch den hypothetischen Schweiß darauf verspüre.
Ich STELLE MIR VOR, daß eine solche Situation kalten Schweiß erzeugen könnte.

Gleich vorbei.
Bestimmt ist es gleich vorbei.
Die Bewegungsunfähigkeit wird vergehen, ich werde erleichtert aufatmen und meinen Sohn mit einem sanften Kuß auf die Stirn wecken.

Endlich hört der Wecker auf zu jammern.
Die Stille kehrt zurück.

Ich warte.

Warte.

Warte darauf, daß mein Sohn endlich auftaucht, um nach mir zu sehen.
Dann vernehme ich seine Stimme.
'Mama?' ruft er mehrmals fragend.
Ich höre, wie er sich mir nähert.
Wie er sich über mich beugt.
'Mama?' höre ich ihn direkt über mir.
Höre die Unsicherheit in seiner Stimme.
Verspüre seinen Atem auf meinem Gesicht.
Doch ich kann nicht reagieren.
Bewegungslos liege ich da, zu keiner Reaktion fähig.
Glaube, zu spüren, wie er sanft meinen Arm streichelt. Spüre seine Berührung, muß aber dennoch wie festgenagelt auf meinem Bett liegen bleiben.
Immer wieder sagt er 'Mama?', seine Stimme bebt, klingt nun weinerlich.
Er beginnt, meinen linken Arm zu schütteln. Immer heftiger.
Ich höre ihn weinen.
Verzweifeltes Schluchzen.
Spüre, wie er seinen Kopf auf meinen Bauch legt, mich umklammert.
Nach einiger Zeit läßt er von mir ab.
Höre ihn aufgebracht durch die Wohnung laufen.
Ich bemerke, daß er die Wohnung verläßt.

Sorge mich.
Wohin geht mein Kind jetzt?
Habe keine Kontrolle.
Es könnte alles mögliche passieren.

Ich warte.
Liege da.
Bewegungsunfähig.
So lange schon.
Schreckliche Empfindungen quälen meinen wachen Geist in einem scheinbar leblosen Körper.
Ich bin so hilflos.
Habe Angst.
Möchte schreien, mich bewegen.
Aufstehen, hinauslaufen und meinen Sohn suchen.
Die Panik zerfetzt beinahe meinen Geist, ich habe das Gefühl, durchzudrehen.

Dann höre ich Stimmen.
Näherkommen.
Ich vernehme erst die Stimme meines Vermieters, dann die meines Sohnes.
Ein wenig erleichtert fühle ich mich.

Sie betreten mein Zimmer.
Mein Vermieter redet beruhigend auf mein Kind ein.
Spüre, wie er mein Handgelenk ergreift, meinen Puls sucht.
Behutsam legt er meine Hand wieder hin.
Kurz darauf telefoniert er, ich glaube er konsultiert einen Arzt.

Seine Stimme bebt.
Mein Sohn beginnt erneut, zu weinen.
Beide entfernen sich wieder.

Ich bin wieder alleine.
Warte.

Zeit verstreicht.

Erneut nähern sich Stimmen.
Dieses Mal erkenne ich allerdings nur die Stimme meines Vermieters und eine mir unbekannte.
Offensichtlich ein Arzt.
Auch dieser ergreift mein Handgelenk, sucht den Puls.
Anschließend zieht er eines meiner Augenlider nach oben, leuchtet mit einem Lämpchen hinein.
Ich sehe das Antlitz eines alternden Mannes.
Das Licht nervt mich.
Möchte mich beschweren.
Ich kann nicht.

Betretenes Schweigen.
Dann vernehme ich die Stimme des Arztes.
Unverständliches murmelnd.

Sie verlassen meine Wohnung wieder, lassen mich wieder alleine.
Lassen mich einfach da liegen.

Zeit verstreicht.

Wieder betreten Leute meine Wohnung.
Dieses mal nehme ich vier Stimmen wahr.
Stimmengewirr. Gemurmel.

Dann werde ich von zwei Leuten gepackt, aus meinem Bett gehievt.
Ich scheine steif wie ein Brett zu sein.
Werde verlagert.
Spüre, wie sich mein neuer Liegeplatz an mich schmiegt.
Dann klappen sie den Deckel zu.

Deckel?

Die Angst verwirrt mich offenbar.
Sicher werde ich nun in die nächste Klinik gebracht.
Man wird mir helfen.

Spüre anschließend den Transport in einem Wagen.
Die Fahrt endet.
Das Ding, in dem ich liege, wird nun irgendwohin getragen.
Abgestellt.

Zeit verstreicht.

Ich denke an meinen Sohn.
Weine innerlich.
Aus meinen Tränendrüsen tritt keine Flüssigkeit.
Trotzdem weine ich bitterlich.
Möchte endlich wissen, was hier geschieht.
Was MIT MIR geschieht.

Plötzlich geht dieser Deckel auf.
Man verlagert meinen Körper erneut.
Das Licht greller Lampen dringt durch meine geschlossenen Augenlider, die sich immer noch nicht öffnen lassen.
Dann werde ich entkleidet.
Ich schäme mich.
Entblößt liege ich da, fühle mich zutiefst erniedrigt.
Jemand beginnt, mich zu waschen.
Meine Gliedmaßen sind nun nicht mehr steif.
Ich friere ein wenig, doch scheinbar bemerkt niemand meine Gänsehaut.
Meine gedankliche Gänsehaut. Für Außenstehende nicht wahrnehmbar.
Behutsam wird mein Körper neu eingekleidet.
Sicher werde ich bald auf die Intensivstation einer Klinik verlegt.
Sicher ist diese Art von Koma, diese seltsame Lähmung, nur vorübergehend.

Die Reinigungsprozedur scheint beendet.
Wieder werde ich verlagert.
Dieses Mal ist das Polster ein wenig weicher. Jedoch schmiegt sich auch dieses neue Bett... was auch immer es für eine Art von Bett sein mag, an meinen Körper.

Vernehme wieder das Geräusch eines Deckels, der sich über mir schließt.
Spüre erneut einen Transport in einem Wagen.
Man trägt mich in meinem neuen, weichen Bett in einen Raum, höre, wie der Deckel nach einiger Zeit wieder aufgeklappt wird.

Es folgt Stille.
Eine Stille, die in meinen Ohren ein Dröhnen erzeugt.

Tatsächlich nehme ich nach und nach den vagen Duft von Blumen wahr.
Freude wallt in meinem Geist auf!
Ich kann nicht nur klar denken und gut hören - ich bin außerdem auch noch dazu in der Lage zu riechen!

Zeit verstreicht.

Seltsame Klinik.
Keine Schwester zugegen, um meinen kritischen Zustand zu überwachen und zu dokumentieren.

Lange Zeit warte ich.

Allmählich nähern sich - endlich wieder! - Stimmen.
Ich erkenne einige wieder.
Mein Sohn, meine Mutter, meine Schwester, mein Freund, einige Bekannte - auch mein Vater ist zugegen, wenn mich mein Gehör nicht täuscht.
Alle reden sehr leise, als wollen sie mich nicht wecken.
Kaum einer tritt näher zu mir heran.
Nur mein Sohn und mein Freund, weinend, meine auf dem Bauch gefalteten Hände umklammernd, sanft meine Wange streichelnd.
Auch meine Mutter beugt sich über mich, streichelt mein Gesicht, küßt behutsam meine Stirn.
Ich spüre ihre Trauer.

Dann entfernen sie sich wieder, die Stimmen.
Ich höre, wie abermals der Deckel zugeklappt wird.
Kurz darauf trägt man mich fort, in einen anderen Raum.
Die Geräusche erscheinen zwar dumpf, doch erkenne ich am Widerhall, daß der Raum wohl eher einer Halle oder einem Saal gleicht.
Ich vernehme Orgelmusik. Anschließend wird eine Rede gehalten. Erkenne eine männliche Stimme. Gesänge, begleitet von der Orgel. Wieder das Gemurmel des Mannes. Gesänge.
All das wirkt hypnotisch und einschläfernd auf meinen Verstand.

Ein weiterer Transport läßt mich aus meinem Dämmerzustand hochsschrecken.
Mental hochschrecken.
Dieses Mal werde ich in meinem Bett getragen, merke ein leichtes Auf und Ab beim Fortbewegen.
Wohin bringt man mich dieses jetzt?
Bekomme Beklemmungsgefühle in meinem engen Bett.
Bewegung ist immer noch undenkbar.

Mir fällt ein, daß ich schon lange nichts mehr gegessen habe.
Seltsamerweise verspüre ich keinen Hunger.
Wobei... so seltsam erscheint mir das gar nicht. All die körperlichen Empfindungen, welche ich vermeintlich fühle, spielen sich nur in meinem Kopf ab.
Ich spüre mich nicht mehr.

Der Gedanke, der sich einschleicht, erscheint mir so grotesk, daß ich innerlich lauthals loslache.
Hysterisch.
Ich weine. Ohne Tränen.
Lache wieder. Ohne Laut.
Werde wahnsinnig.

Der Transport scheint offenbar beendet.
Meine Position wird nun in vertikaler Ebene nach unten verlagert.
Dies schlußfolgere ich am Trägheitsverhalten meines Körpers.
Behutsam komme ich in meinem Bett am Boden auf.
Vernehme leises Gespräch über mir.

Dann - nahezu in periodischer Regelmäßigkeit - höre ich dezente dumpfe Schläge auf diesen Deckel. Einige Zeit hält dieses Klopfen an.
Versetzen meinen allmählich träge werdenden Geist in einen tranceähnlichen Zustand.

Dann wieder Stille.

Die Stimmen haben sich entfernt, nun bin ich wieder ganz alleine mit meinen wirren Gedanken.
Kann mir immer noch keinen Reim auf diese ganzen Geschehnisse machen... oder will es nicht wahrhaben.

Einige Zeit später höre ich, wie irgendetwas auf den Deckel meines zu engen Bettes geschüttet wird.
Die Geräusche werden dumpfer, versiegen schließlich vollständig.

Dann herrscht nur noch Stille.

Durchdringende Stille.

Versuche ein letztes Mal mit aller Kraft, meine Augenlider zu bewegen.
Aber dieser Leib scheint weder mir zu gehören, geschweige denn zu gehorchen.
Mein erlahmender Verstand ist in einem erstarrten, toten Körper gefangen.

Und mit der Zersetzung meines Leibes zersetzt sich auch mein Bewußtsein.

Jetzt verstehe ich.
 
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Kommentare  

Die Idee ist nicht neu, aber gut umgesetzt. Könnte vom Text her ein wenig besser fließen, aber hat mir gefallen!
LG Dublin


anonym (19.05.2008)

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