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6 Seiten

Sound Of Love (3. Kapitel)

Romane/Serien · Romantisches
„Tory! Aufstehen!“ Gnadenlos zog Lindsay ihr die Bettdecke weg. Tory rollte sich zusammen wie eine frierende Katze. Ich war gerade dabei, meine Krawatte zu binden und beobachtete im Spiegel das Schauspiel hinter mir. Dass Tory schwer aus dem Bett zu kriegen war, aber dass es so schwer werden würde, hatte ich nicht gedacht. Ich stellte mich vor Torys Bett und rief: „Tory, in zehn Minuten gibt’s Frühstück!“ Es war kaum zu glauben, wie schnell sie wach war. Lindsay lachte laut los, als Tory wie ein Blitz ins Bad schoss. Ich schüttelte den Kopf und ging zusammen mit Lindsay zum Frühstück hinunter. Auf der Treppe herrschte das totale Chaos. Jeder wollte schnellstmöglich in den Speisesaal, was bei diesem Gedränge fast unmöglich war. Ich weiß gar nicht, wie viele Ellenbogen, Füße oder Knie ich abbekommen hatte, bis ich endlich in der Aula stand. Lindsay hatte ich irgendwo im Trubel verloren. Suchend sah ich mich um, als mir plötzlich die Augen zugehalten wurden. Ich schrie: „Aaah!“ „Hey, hey, ganz sachte, Süße!“ Ich drehte mich um. Diese Stimme konnte nur einer Person gehören. Und ich sollte Recht behalten. Hinter mir stand Marcus. Obwohl es früh am Morgen und mitten im Winter war, trug er eine Sonnenbrille, die er jetzt mit einer lässigen Handbewegung zurückschob. Mit welcher Berechtigung nannte er mich „Süße“? Aber ich war ja ein höflicher Mensch und wünschte erst mal einen „Guten Morgen!“. Marcus kämpfte sich neben mir durch die Menge an Schülern. Anscheinend wollte er mit mir reden, denn sein Mund bewegte sich unablässig. Marcus hatte einen schönen Mund. Ich erschrak über diesen Gedanken, aber es stimmte. Seine Lippen sahen weich und sanft aus. Ich könnte wetten, dass er sehr sinnlich küsste. Bevor wir uns im Speisesaal trennten, fragte Marcus: „Lust auf eine Cola heute nach dem Unterricht?“ Ich nickte. „Cool, dann um fünf am Ausgang!“

„Ms. Peach, bitte noch einmal die zweite Phrase in Teil F!“ Mr. Summerland, mein Gesangslehrer und Chorleiter stand an seinem Notenpult und blätterte in seinen Noten herum. Ich seufzte und trat aus dem Chor nach vorne. Bereits zum dritten Mal sang ich jetzt diesen Teil von John Rutters Komposition schon, nur weil unser Pianist die Phrase danach verhaute. Ich fing an zu singen: „ Think for the spring, think of the warmth of summer, bringing the harvest before the winters cold. Everything grows, everything has a season, till it is gathered to the fathers fold! Praise to-“ „Stop!“ Mr. Summerland klopfte mit seinem Taktstock ungeduldig auf sein Notenpult. Er sah unseren Pianisten Phil vorwurfsvoll an: „Phil, Phrase drei ist a capella und danach mezzo piano!“ Er wandte sich an mich. „Summer, noch einmal ab Takt 34, bitte!“ „Praise to thee, oh Lord, for all creation, give us thankful hearts, that we may see!“ An dieser Stelle setzte die zweite Solistin Teri aus dem Sopran ein: „All the gifts we share and every blessings, all things come of thee!“ (Quelle: Musik und Text: John Rutter, Veröffentlichung: Oxford Publish Press) „Und jetzt der Chor!“, rief Mr. Summerland und gab den Einsatz. Der Übergang klappte hervorragend, sogar Phil verpatzte es nicht. Nachdem der letzte Ton verklungen war, legte Mr. Summerland seinen Taktstock aufs Pult. „Naja“, grummelte er, „ das könnt ihr besser! Vor allem du, Phil!“ Er sah Phil an. Er war ja schon klein, aber unter Mr. Summerlands Blick schrumpfte er auf seinem Hocker immer mehr. In diesem Augenblick ertönte der Gong zum Stundenwechsel. Alle rafften ihre Noten zusammen, um schnellstmöglich aus dem Raum zu kommen. Nach den Ferien war Mr. Summerland immer sehr gereizt. Ich verließ als eine der Letzten den Raum. „Ach Summer!“ Mr. Summerland klappte den Deckel des Klaviers zu. Ich drehte mich um. „Ja?“ „Summer, hast du in den Ferien geübt?“ Verwirrt schüttelte ich den Kopf. „Hm, na gut, ich dachte nur...“ Ich sah Mr. Summerland an. Für seine 25 Jahre sah er schon ziemlich alt aus. Um seine Augen, die müde aussahen, zeichneten sich schon die ersten Falten ab und an den Schläfen bekam er graue Haare. Trotzdem sah er gut aus. Ich seufzte. „Auf Wiedersehen, Mr. Summerland!“, verabschiedete ich mich und beeilte mich, zur nächsten Stunde zu kommen.
„Oh, Mann! War das ein Tag!“ Tory lehnte sich an die Tür, die sie gerade hinter sich geschlossen hatte. Sie warf Bücher und Notenordner auf ihr Bett und ließ sich daneben sinken. Tory sah wirklich fertig aus. Aus ihrem Pferdeschwanz, zu dem sie ihre schwarzen Haare gebunden hatte, fielen einige Strähnen in ihr müdes Gesicht. Ich stand vor dem Spiegel und bürstete meine Haare. Es war zehn vor fünf. Eilig schlüpfte ich in meine Schuhe, rief Lindsay und Tory ein „Ciao!“ zu und verschwand.
Auf dem Weg nach unten fragte ich mich, weshalb genau ich mich nochmal auf diese Verabredung mit Marcus eingelassen hatte. Ich versuchte mich daran zu erinnern, zu welchem Zeitpunkt ich zugesagt hatte. Ach ja, das war heute Morgen gewesen, als ich über lauter Hände, Füße, Knie und was weiß ich nicht noch alles stolperte. Was Stress doch alles fertig brachte... Ich seufzte. Eigentlich interessierte mich der Typ genauso viel wie der hässliche Apfelbaum im Garten unseres Nachbarn, nämlich gar nicht. Aber was ich versprach, hielt ich auch und so stand ich um kurz vor fünf am Eingangsportal. „Hey Süße!“, rief eine unverwechselbare Stimme hinter mir. Oh, wie ich es hasste! Und doch setzte ich ein strahlendes Lächeln auf, bevor ich mich zu Marcus umdrehte. Er kam zu mir, legte mir den Arm um die Taille und führte mich aus dem Hauptgebäude. „Also, Summer, wo gehen wir hin?“ Na gut, immerhin sprach er mich jetzt mit meinem Namen an. Ich zuckte die Schultern. Sein Arm um meine Taille war mir unangenehm. „Nicht weit von hier ist eine gemütliche kleine Bar...“, ...die ich mit jedem, aber nicht mit dir besuchen möchte, dachte ich mir. „Gut, dann lass uns dort hin gehen!“, sagte Marcus zustimmend. Draußen war es bitterkalt und ich zog meine Jacke fester um mich. Anscheinend verstand Marcus das als Aufforderung, der er zog mich näher an sich, um mich zu wärmen. Ich war heilfroh, als wir endlich die Bar betraten. Nicht nur, dass es dort herrlich warm war, sondern ich hatte auch endlich einen Grund mich von Marcus zu lösen. „Was willst du trinken?“, fragte Marcus nah an meinem Ohr. Ich erschrak darüber, seine Stimme so nahe zu hören. Irgendwie war es mir unangenehm. „Ähm...ich weiß nicht...vielleicht eine Cola?!“ Eigentlich war es mehr eine Frage als eine Antwort, aber Marcus verschwand und lotste mich kurz darauf in eine kleine Nische, wo er die Gläser auf den Tisch stellte. „Also, Summer, erzähl mir was von dir. Woher bist du? Was machst du so?“ Neugierig war er überhaupt ja überhaupt nicht. Widerwillig beantwortete ich seine Fragen, unser Gespräch zog sich schleppend dahin. Es war ein Frage- und Antwortspiel. Marcus antwortete zwar auf meine Fragen, aber nicht mehr als unbedingt nötig. Es schien, als würde er nicht gerne über seine Herkunft oder seine Familie sprechen. Während des Gesprächs hatte ich genug Zeit, Marcus zu betrachten. Er hatte ein schönes, ebenmäßiges Gesicht mit gleichmäßigen Zügen. Heute hatte er seine Haare auch nicht zurückgegelt, was ihn viel menschlicher und netter aussehen ließ. Seine wunderbar grünen Augen verliehen ihm etwas Geheimnisvolles, Unnahbares. Aber ein Mensch konnte noch so gut aussehen, wenn er einen schlechten Charakter hatte. Ich konnte nicht behaupten, dass Marcus einen schlechten Charakter hatte, dafür kannte ich ihn zu wenig. Aber ich war bereit ihn kennen zu lernen. Und zwar aus einem Grund. Er war längst nicht so cool, wie er sich gab. Auf mich wirkte er sehr verletzlich...
Kurz nach zehn kam ich in unser Zimmer und schloss leise die Tür. Was aber gar nicht nötig gewesen wäre. Das Licht im Zimmer war zwar schon aus (was wohl eher mit der Nachtruhe zusammenhing), aber Lindsay und Tory waren noch hellwach. „Wie war‘s?“, flüsterte Lindsay aus der Richtung ihres Bettes. „Ja, los erzähl!“, forderte auch Tory im Dunkeln. Ich musste kichern. Genau das hatte ich erwartet. Da die Sicherung bereits raus gedreht war, begann ich im Dunkeln mich auszuziehen. Nur durch die Jalousien fiel etwas Mondlicht. „Was wollt ihr denn wissen?“, fragte ich in die Finsternis. „Alles!“ „Hm, na gut...“ Ich tastete mich zu meinem Kleiderschrank und begann zu erzählen. Angefangen beim Treffen in der Aula, über den Weg zur Bar bis hin zu unserem Gespräch. Während ich von Marcus' Verschlossenheit erzählte, schlüpfte ich in meinen Schlafanzug. Ich erzählte, dass er mir immer sympathischer wurde. Nachdenklich griff ich nach meiner Bürste. Ich berichtete auch, dass wir am Ende zusammen getanzt hatten. Um ehrlich zu sein hatte es mir richtig gut gefallen, ihn so nahe bei mir zu wissen, obwohl mir seine Nähe am Anfang des Abends noch unangenehm gewesen war. Besonders der langsame Tanz zu Bocellis „Time to say Good Bye“ war sehr schön gewesen. Mein Kopf lag an seiner Schulter und er hatte mich ganz nahe zu sich ran gezogen. Doch das verschwieg ich meinen Freundinnen, sie hätten nur wieder etwas hineininterpretiert, was nicht so war. Dass Marcus mir zum Abschied einen Kuss auf die Wange gehaucht hatte, brauchten sie auch nicht unbedingt wissen, doch ich erzählte es ihnen, was bei beiden ein „oho“ hervorrief. Ich legte meine Bürste zur Seite und sah in den Spiegel. Schemenhaft konnte ich meine Umrisse erkennen. Ich musste lächeln. Es war wirklich ein schöner Abend gewesen, ganz entgegen meiner Erwartungen...Ich tapste im Dunkeln zu meinem Bett und kuschelte mich in meine Decke. „Gute Nacht, ihr zwei!“ „Nacht...“, nuschelte Tory zurück Lindsay machte nur „Hmm...“. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief ich ein.

Ich stöhnte. Diese doofe Matheaufgabe war einfach nicht zu lösen. Neben mir kritzelte Tory eine Lösung nach der anderen auf ihr Blatt.
Es war Freitag, letzte Stunde, Algebra. Wer dachte, an einem Musikconservatorium wurde nur Musik gelehrt, hatte sich geirrt. Auch wir mussten Fächer wie Mathematik, Englisch und Geschichte belegen. Was manchmal wirklich zum Aufregen war. Tory legte den Stift beiseite und sah mir zu. Als sie merkte, dass ich absolut nicht weiterkam, schob sie mir ihr Blatt zu. Ich sah auf und formte mit den Lippen das Wort „Danke“. Erleichtert schrieb ich Rechenweg und Lösung bei Tory ab. Kaum hatte ich die letzte Zahl geschrieben, rief Mr. Dashwood vorne an der Tafel: „Ladies and Gentlemen, Ihre Zeit ist um! Bitte die Blätter einsammeln!“ Na, Gott sei Dank! Wenn Mr. Dashwood die Blätter haben wollte, konnte die Stunden nicht mehr allzu lange dauern. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück. Warum sollte ich so etwas wie Algebra können, wenn ich später sowieso eine berühmte Sängerin werden wollte? Ich ließ meinen Stift auf dem Tisch tanzen und wartete auf den erlösenden Gong. Als dieser endlich ertönte, raffte ich meine Sachen zusammen, wartete auf Tory und lief rasch aus der Tür hinaus. Ich war immer froh, wenn ich aus diesem Raum heraus war. Und es kam, wie es kommen musste: in meiner Eile sah ich mich natürlich nicht um, bevor ich in den Flur hinaustrat und rannte in Marcus hinein. Ich prallte zurück und taumelte. Autsch, war der durchtrainiert! Als ich mich wieder gefangen hatte, musste ich lachen. Es war schon komisch. All die letzten Jahre war ich ihm nie über den Weg gelaufen und jetzt sah ich ihn ständig. Marcus sah mich an. Wahrscheinlich dachte er jetzt, ich sei völlig durchgedreht. Natürlich waren bei dem Zusammenprall sämtliche Noten und Bücher zu Boden gefallen und ich kniete nieder, um sie aufzusammeln. Ich seufzte. War ja ein klasse Tag! Heute Morgen verschlafen, beim Frühstück den Cappuccino verschüttet und jetzt lagen sämtliche Notenblätter auf dem Boden verstreut. Genervt sammelte ich die Noten auf und stopfte sie in meine Mappe. Neben mir ging Marcus in die Hocke und half mir, meine Blätter einzusammeln. Als ich aufsah und mich bedanken wollte, sah ich ihm direkt in die Augen. In seine unwirklich blauen Augen, in denen man versinken konnte. Ich stand auf und lehnte mich an die Wand.
 
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Kommentare  

Deine Kapitel sprudeln nur so voller Leben. Hat sich wieder locker weggelesen und ....Marcus scheint ein echt toller Typ zu sein.

Petra (04.04.2009)

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